Kursbuch 187 – Editorial

Inhalt und Leseproben

Jörg Hackeschmidt Brief eines Lesers • Armin Nassehi Die große Weltveränderung • Stephan Rammler Schiffe bauen • Michael Lind Im Namen des weißen Mannes •  Alfred Hackensberger Die letzte Reise in den Dschihad • Günter Metzges-Diez Kompakt Campact • Olaf Unverzart Hundert • Wolfgang Schröter Fluch des Mammons • Birger P. Priddat Tante Emma, Big Brother • Irmhild Saake Schweigen für eine bessere WeltHans Hütt Ins Herz der FinsternisFranz Stadler Ich und Ihr

Editorial von Armin Nassehi

Verändern ist ein transitives Verb, das heißt, es braucht ein Subjekt und ein Akkusativobjekt. Es muss also jemand verändern, und jemand muss etwas verändern. Ich verändere geht nicht. Ich verändere die Welt geht – oder besser: Es geht grammatikalisch, in echt geht’s eher nicht, weil die Welt schon deshalb nicht wirklich verändert werden kann, weil alle Veränderung in der Welt stattfindet und damit Subjekt und Objekt in eins fallen. Wenigstens im Prinzip. Und genau deshalb – nein, nicht genau deshalb, aber immerhin: Immerhin kann man das transitive Verb »verändern« auch reflexiv gebrauchen. Man kann dann sagen: Die Welt verändert sich. Damit fallen Subjekt und Objekt wieder in eins – neutralisieren dabei aber das Subjekt in der Weise, dass die Zurechnung auf das Subjekt der Veränderung schwierig wird. Wer hat die Welt denn verändert, wenn die Welt sich verändert?

Wer das für eine Spitzfindigkeit hält, damit sich das Editorial füllt (da es am Ende geschrieben wird, gibt es aus der Produktion zumeist eine – unveränderliche! – Vorgabe für die Länge des Editorials) – wer das also für eine Spitzfindigkeit hält, liegt falsch. Denn mit der Transitivität (notwendiges Objekt) und der möglichen Reflexivität ist ein recht guter Problemaufriss für die Veränderung der Welt gegeben. Natürlich ist es fahrlässig, die Veränderung der ganzen Welt oder, wenn man so etwas überhaupt denken kann, ganzer Welten jemandem zurechnen zu wollen. Das würde dann schon in schöpfungstheologische Dimensionen führen. Aber nicht ganz so genau genommen besteht durchaus die Spannung zwischen der bloßen Transitivität der Veränderung – jemand ändert etwas – und der Reflexivität des sich verändernden Dings – etwas ändert sich, ohne dass man es jemandem wirklich eindeutig zurechnen kann. Das ist das Problem aller Revolutionäre, Sozialplaner, aller Führungskräfte – auch derer, die ihr eigenes Leben führen wollen und müssen –, all derer, die sich irgendwie mit ihren Verhältnissen auseinandersetzen (müssen) und Bedarf für anderes sehen. Wir greifen in eine Welt ein, die permanent beweglich ist und in sich selbst eingreift.

Überhaupt ist das Handeln, damit auch das Veränderungshandeln, eine allzu einfach gebaute Kategorie. Wer handelt, will etwas bewirken. Da aber auch andere handeln und da die Handlungen kompliziert ineinanderspielen und auch das zu verändernde Objekt sich bisweilen ganz anders verändert, als wir das gewollt haben, ist die Unterscheidung zwischen den beiden grammatikalischen Formen des Veränderns vertrackter, als es uns bisweilen lieb ist.

Die Beiträge dieses Kursbuchs oszillieren alle zwischen dem »Verändern« und dem »Sich-Verändern«. Birger P. Priddat erzählt, wie Märkte die Menschen verändern, obwohl ja die Menschen auf veränderten Märkten anders handeln als in anderen Märkten; Wolfgang Schröter rekonstruiert die Veränderungsdynamik des Geldes, die sich selbst mitverändert; Alfred Hackensberger begleitet einen jungen deutschen IS-Kämpfer, der die Welt verändern will, sich dabei selbst verändert und dann verschwindet – ganz ähnlich übrigens, wie der Schriftsteller Franz Stadler die Geschichte eines Rückzuges erzählt, eines Rückzuges aus dem Leben. Auch der Protagonist dieser Erzählung findet sich als Konsequenz eigenen Handelns, selbst induzierter Veränderungen, in einer Dynamik vor, die ihn weit transzendiert – und auslöscht.

Irmhild Saake beschreibt in ihrem Beitrag, wie sich mit der Durchsetzung von Symmetrien als dem großen Versprechen der Moderne geradezu Unsagbarkeiten einstellen – eine wirklich paradoxe Situation, denn die von ihr beschriebenen Symmetrisierungsprozesse kommen vor allem dadurch zustande, dass sich neue Sprecherpositionen etablieren, die freilich verstummen, wenn es zu schwierig wird. Geradezu komplementär dazu beschreibt Stephan Rammler, dass es an Narrationen fehlt, an »transformativem Storytelling«. Es geht ihm um die soziale Wirkungskraft des großen Wollens, also um die Frage, wie sich das Wollen wirkmächtig in ein Wirken übersetzen lässt. Auch hier also eine Diagnose des Verstummens. Gegen solches Verstummen richtet sich auch Hans Hütt. Sein biografischer Rückblick auf seine eigene frühe Auseinandersetzung mit Joseph Conrads Herz der Finsternis – in unterschiedlichen Veränderungsdimensionen: als biografischer Veränderungsgenerator, als ein Text, der den Blick des kolonialen Zentrums der Welt auf sich selbst verändert hat, auch ein Text, dessen unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten radikal auf Veränderungen verweisen. Von Hans Hütt stammt denn auch mein Lieblingssatz aus diesem Kursbuch: »Rigoros zu interpretieren heißt, die Welt zu verändern.«

Rigoros interpretiert Michael Lind die Veränderung der Debattenlage und die Selbstwahrnehmung der US-amerikanischen Gesellschaft. Er zeigt in seinem Beitrag auf, wie unmerklich sich die grundlegenden Konfliktlinien verschoben haben, deren Unmerklichkeit im derzeitigen Wahlkampf um die Nachfolge Barack Obamas gerade verschwindet.

Peter Felixberger und Evelin Schultheiß haben mit Günter Metzges-Diez gesprochen, einem der Gründer des Kampagnen-Netzwerkes Campact. Weltveränderung wird hier mit Kampagnenformen betrieben, die die Resonanzverstärker des Netzes und der dazugehörigen Medien verwenden. Es ist interessant, dass das Selbstbewusstsein des Kampagnenmachers, auf der richtigen Seite zu stehen, offensichtlich auch mit der Kampagnenform identifiziert wird. Auch hier: The medium is the message?

Dieses Kursbuch, das sich dem »Welt verändern« verschrieben hat, bietet, das sollte diese editoriale Beschreibung schon deutlich gemacht haben, weder Lösungen für Veränderungsstrategien an, noch mahnt es Veränderungen an oder rekonstruiert Veränderungsprozesse. Es geht in allen Beiträgen vielmehr genau um diese merkwürdige Gleichzeitigkeit des transitiven und des reflexiven Verwendungskontextes der prädikativen Form des Veränderns. Wie sehr sich all dies zwischen Tun und Widerfahrnis ereignet, bezeugen die Fotografien von Olaf Unverzart. Die Bilder seiner 100-jährigen Großmutter sind ein einziges Zeugnis des Veränderns – transitiv und reflexiv, vor allem aber sehr beeindruckend. Mich haben sie sprachlos gemacht.

Wir danken Jörg Hackeschmidt, der den Staffelstab der Briefe unserer Leser aufnimmt und die 15. Folge beisteuert.

(weiterlesen im Kursbuch 187)

Editorial von Armin Nassehi, Kursbuch 187 “Welt verändern”, September 2016

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