Inhaltsverzeichnis
Armin Nassehi – Editorial • Elin Nesje Vestli – Brief einer Leserin (26) • Sibylle Anderl Kampf der Egos • Armin Nassehi – Die Atkins-Unschärferelation • Berit Glanz – Sonnenaufgang im Uncanny Valley • Natalie Sontopski – Hey Siri?! • Michael Pilz – Tanz der Elemente • Bettina Thierig und Dorothea Brückner – Superorganismus • Michael Popp – »Ein Pflanzenextrakt ist gigantisch komplex«. • Harro von Senger – Der Tiger vom Berg • Wolfgang Coy – METH – EMETH • André Kieserling – Zettels Raum • Peter Felixberger – FLXX •
(Über die Titel können Sie über den Anbieter Book2Look Auszüge aus den Essays abrufen)
Editorial
Manchmal helfen alte Weisheiten aus Stammesgesellschaften, um sich einem Thema zu nähern. In Bayern denkt man bei der Frage nach Intelligenz womöglich an das Gscheithaferl. Dazu heißt es in der Süddeutschen Zeitung in der entsprechenden Kolumne »Kratzers Wortschatz« der bayerischen Sprache am 3. Mai 2011:
»Unter einem Tüpferlscheißer versteht man einen Menschen, der sich kleinlich gibt, einen Pedanten und Besserwisser. Im Norden würde man ihn einen Korinthenkacker nennen. Ein Tüpferlscheißer ist meistens auch ein Gscheithaferl, aber nicht jedes Gscheithaferl ist zwingend auch ein Tüpferlscheißer. Im Wörterbuch von Franz Ringseis wird das Gscheithaferl erklärt als ›einer, der vor Gescheitheit überläuft‹. Dies hat zur Folge, dass Gscheithaferl ähnlich nerven wie die Tüpferlscheißer. Nahe beim Gscheithaferl ist der Gschaftlhuber, der sich überall furchtbar wichtig nimmt. Aber das Leben lehrt, dass es bei den Gschaftlhubern mit der Gescheitheit oft nicht weit her ist.«
Wir wissen nicht, ob es auch hanseatische oder schwäbische, sächsische oder westfälische Varianten des Gscheithaferls gibt, von anderen Sprachräumen ganz zu schweigen. Sicher scheint aber zu sein, dass Intelligenz dann, wenn sie allzu ostentativ daherkommt, eher merkwürdig wirkt – vielleicht sogar wenig intelligent, gschaftlhuberisch eben. Dieses Kursbuch ist nicht auf der Suche nach den ostentativen Intelligenzen, sondern nach den eher verborgenen, den unglaublichen, den unerwarteten Intelligenzen. Deshalb machen wir einen großen Bogen um die explizite Intelligenz, und suchen sie dort, wo man sie womöglich nicht vermutet oder wo man noch mal genauer hinsehen muss.
Zum Beispiel in unseren beiden Gesprächen: Michael Popp, Unternehmer, Wissenschaftler, Pflanzensammler und ein cooler Typ, sucht die Intelligenz pflanzlicher Substanzen ohne esoterischen Schnickschnack, aber mit wissenschaftlicher Präzision – und muss mindestens so intelligent sein wie sein Gegenstand, um sich im Feld der Pharmazie durchzusetzen. Oder André Kieserling, Nachnachfolger des Soziologen Niklas Luhmann, der dessen legendären Zettelkasten archiviert, auswertet und analysiert. Ist der Kasten selbst intelligent? Oder ist er nur eine Entsprechung der Intelligenz seines Schöpfers? Oder ist dieser das Geschöpf seines intelligenten Kastens?
Das sind Fragen, die das Konstrukt Intelligenz, wie wir es aus der Psychologie und aus IQ-Berechnungen kennen, weit hinter sich lassen. So auch bei Michael Pilz, der im Periodensystem der Elemente eine intelligente Inszenierung sowohl der kosmischen Naturgeschichte als auch der menschlichen Kulturgeschichte freilegt. Auch um diese Intelligenz zu entdecken, muss man erst intelligent draufschauen. Überhaupt scheint die Intelligenz ein Korrelat der intelligenten Tätigkeit zu sein und nicht nur ein individualistisches Merkmal im Kopf von Menschen. Intelligenz könnte Folge, nicht Voraussetzung solcher Tätigkeiten sein. So findet Berit Glanz im Aspekt der Ambiguität das Intelligenzgenerierende der Literatur, Harro von Senger in der chinesischen Aufwertung der List eine ganz andere Bedingung für Intelligenz, und mein eigener Beitrag zeigt am Beispiel des wenig intelligenten und zum Tode verurteilten Mörders Daryl Atkins, wie er im Laufe seines Prozesses intelligenter wurde – und ihn das fast sein Leben gekostet hat. Sibylle Anderl schließlich widmet sich dem Dunning-Kruger-Effekt, also der immer wieder zu machenden Erfahrung, dass sich die Inkompetenten überschätzen, während die Intelligenten unter Selbstzweifeln leiden.
Zwei Beiträge verdienen besondere Aufmerksamkeit: In der Reihe Kursbuch Classics präsentieren wir den Beitrag »METH – EMETH« von Wolfgang Coy. Dieser Nachdruck aus dem Kursbuch 75 von 1984 nähert sich der künstlichen Intelligenz über die jüdische Golem-Legende. Coy schreibt am Ende: »Die Literatur hat die eine Seite des Golem-Mythos, den Bogen von Wahrheit zum Tod durchlaufen. Offen bleibt die Frage, ob die Wissenschaft einen anderen Weg findet und sich des uneingelösten Versprechens der Befreiung besinnt. Dann wäre der Golem erlöst.« Aktueller kann man kaum fragen.
Der Beitrag von Natalie Sontopski ist der zweite Beitrag, der aus unserem Call for Papers für jüngere Autorinnen und Autoren stammt. Sontopski fragt sich, ob und wie sich Strukturen sozialer Ungleichheit, zum Beispiel geschlechtliche Ungleichheit, in der KI fortpflanzen wird – und wie das vermieden werden kann.
Besonders freuen wir uns über die Bienenwelt von Bettina Thierig und Dorothea Brückner. Die Erste ist Bildhauerin, die Zweite Bienenwissenschaftlerin. Sie haben sich entschieden, gemeinsam die Welt der Bienen zu erkunden – die eine eher künstlerisch und ästhetisch, die andere als Wissenschaftlerin und Forscherin. Sie entdecken und präsentieren eine komplexe Welt, einen Superorganismus mit unterschiedlichsten Facetten, die auch in den Honigfotografien von Michael Haydn einen beredten bebilderten Ausdruck finden. Intelligenz findet sich hier auf allen Ebenen – in der Intelligenz der natürlichen Evolution, in der Intelligenz des Zusammenspiels von Natur und Kultur mit der Biene als einer natürlichen Repräsentantin menschlicher Kulturgeschichte, vor allem aber in der Kombination dieser beiden Frauen.
Vielleicht ist das die Parabel auf Intelligenz, die sich durch dieses gesamte Kursbuch zieht: Intelligent wird es dann, wenn Dinge zusammenkommen, die nicht auf den ersten Blick zusammengehören: Natur und Kultur, Menschen, die man zunächst nicht gemeinsam vermutet, Problemlösungen und ihre Kontexte, der Wille, etwas anders zu machen, und die Welt, die sich dem anderen gegenüber gerne widerständiger zeigt, als wir es erwarten. Eine Wissenschaftlerin und eine Künstlerin, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten, und das an einem intelligenten Ort, nämlich dem Hanse Wissenschaftskolleg in Delmenhorst, das sich auf die Fahne geschrieben hat, Unterschiedliches, Differentes, Interdisziplinäres zusammenzuführen – besser lässt sich ein intelligentes Setting nicht symbolisieren. Schauen Sie auf die Bienen – Sie werden mehr sehen als das, jenseits aller Naturromantik und billiger Ästhetisierung. Vielleicht ist Intelligenz tatsächlich auch schön.
Mit diesem Kursbuch beginnt Peter Felixberger seine Kolumne »FLXX. Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger«. Aus seiner Selbstanzeige in dieser ersten Kolumne erfahren wir: Peter irrlichtert – aber bewusst. Das ist intelligent, weil es Gegensätze zusammenführt. Irrlichtern kann jeder Gschaftlhuber – aber bewusst, das ist hohe Kunst.
Weiterhin sagt er: »Diese Kolumne feiert die Ahnungslosen, entlarvt die Bodenlosen und kokettiert mit den Zweifellosen.« Die große Herausforderung für Leserinnen und Leser wird sein, wer sich unter welchem Label wiederfindet. Diesmal beginnt die Kolumne mit künstlicher Intelligenz.
Wir freuen uns, dass Elin Nesje Vestli den Brief einer Leserin übernimmt. Aufmerksam geworden sind wir auf sie, als sie auf Twitter bemerkte, dass unsere Titelformulierung für das Kursbuch 198, Heimatt, die wir auf Ermattung zurückgeführt haben, im Norwegischen tatsächlich eine ganz andere Bedeutung hat. Vielen Dank für diesen Hinweis – und den 26. Brief einer Leserin.
Es ist uns gelungen, ein Kursbuch über Intelligenz ganz ohne Gscheithaferl und noch weniger Gschaftlhuberei zu machen. Hoffen wir wenigstens mit einigem Selbstzweifel, denn die Intelligenten neigen ja nicht zur Selbstüberschätzung, sondern zu Selbstzweifeln, wie wir von Sibylle Anderl gelernt haben.
Armin Nassehi, geb. 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität-München. Zuletzt erschien Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft.