MONTAGSBLOCK /95

Vor ziemlich genau zwei Jahren bin ich privat umgezogen, aus einem für Münchner Verhältnisse vergleichsweise mietgünstigen Haus mit großem Garten ein wenig außerhalb in die Nähe des Rotkreuzplatzes, also urbaner, kleiner (und teurer). Ich bin zuvor, so muss ich zugeben, viel mit dem Automobil gefahren, kein SUV, aber schlimm genug. Seit zwei Jahren fahre ich fast nur noch mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Institut, in die Stadt usw. Das Automobil steht fast nur noch herum und wird nur dann benutzt, wenn wir etwas weiter wegfahren oder aber Sperriges zu transportieren haben. Genau das habe ich letztens getan – ich habe Bücherkisten und einige andere Dinge ins soziologische Institut nach Schwabing gebracht und von dort einiges abgeholt. Eigentlich keine große Sache, aber der Rückweg war interessant. Ich bin in Schwabing losgefahren, und das Automobil machte seinem Namen alle Ehre und fuhr wie von selbst. Es ist mir nicht einmal aufgefallen, dass ich im Stau auf der Dachauer Straße stand, obwohl ich das gar nicht mehr gewöhnt bin. Ich bin schnurstracks zu unserem alten Haus gefahren, habe dort fast geparkt – jedenfalls habe ich es dann doch noch gemerkt, dass ich falsch war, dass mich das Automobil woanders hingebracht hat, als ich es vorhatte. Und obwohl es ein Auto-Mobil ist, muss ich zugeben, dass ich es gelenkt habe. Das ist keine große Geschichte, aber schon eine Parabel auf viele Fragen, die derzeit öffentlich diskutiert werden. Eine der Fragen ist, warum es so schwer ist, das eigene Verhalten zu ändern, und warum unsere Gewohnheiten oft stärker sind als unser Geist und Wille.

Warum wir tun, was wir tun, ist wohl die entscheidende Frage überhaupt, zumindest aus soziologischer Perspektive. Manche (auch explizit Soziologie Treibende) verwechseln diese Frage oftmals mit der Frage, was wir tun sollen – aber die anspruchsvollere Frage ist die, warum wir tun, was wir denn faktisch tun. Es ist insofern die entscheidende Frage, als sie den Horizont allen Handelns enthält: Wir können immer auch anders, aber trotzdem verhalten wir uns erstaunlich regelmäßig. Als Soziologe versuche ich in jedem Wintersemester wieder, bei Studierenden des ersten Semesters – es ist eine Großvorlesung im größten Hörsaal meiner Universität – einen Sensus für diese Frage zu wecken.

Fragt man die jungen Leute, kommen sie auf das, was sie in der Schule gelernt haben: Sie können einen direkten Zusammenhang herstellen zwischen dem Tun und Lassen, dem Handeln auf der einen Seite, und entsprechend beschreibbaren und begründbaren Motiven auf der anderen. Sie sind sehr geübt darin, dass sie das ungefähr so automatisch tun, wie ich mit meinem Automobil statt von Schwabing zum Rotkreuzplatz nach Obermenzing gefahren bin.

Man kann an der Automatik solcher Antworten nach den Gründen (nicht nur: Begründungen) menschlichen Verhaltens ablesen, wie ungenau sie sind. Die Antwort, die nach Motiven und Begründungen sucht, ist gewissermaßen der performative Nachweis, dass die Antwort nicht unbedingt Motive und gute Gründe lautet. An meinem kleinen Beispiel, vom Weg abgekommen zu sein, kann man ein wenig lernen, wie die Wege des Handelns zum größeren Teil verlaufen. Unsere Verhaltensdisposition orientiert sich sehr stark an Gewohnheiten, an bewährten Strukturen, an geradezu automatisierten Mustern. Unser Verhalten ist träger und regelmäßiger, als es unsere intellektuellen Selbstmissverständnisse suggerieren – und mir scheint, dass gute Soziologie exakt solche Trägheiten, Wiederholungen und Habitualisierungen auf den Begriff zu bringen in der Lage ist. Referenzautoren heißen Gabriel Tarde und Émile Durkheim, Max Weber und George Herbert Mead, Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. Handeln stets auf gute Gründe und dann natürlich falsches Handeln auf explizit falsche Gründe zurückzuführen, lässt den Sensus dafür vermissen, wie eigendynamisch, eigenwertig, eigensinnig und an Wiederholungen orientiert das Meiste abläuft.

Man muss nur einmal darauf achten, wie groß eigentlich der Anteil unserer Handlungen an einem normalen Alltag ist, bei denen wir tatsächlich Handlungsalternativen abwägend begründen oder begründet abwägen. Vom Allermeisten werden wir nicht einmal überrascht, weil es so erwartbar ist. Am Sprechen lässt es sich schön ablesen. Selten nehmen wir uns vor, was wir sagen, und wenn wir überrascht werden, oftmals davon, was wir sagen.

Was zum gebildeten Milieu gehört, ist der Habitus der Postrationalisierung. Im Nachhinein fällt es uns nicht schwer, Gründe für Verhalten(smuster) zu benennen. Aber diese Gründe sind in praxi kaum nötig. Genau deshalb ist es so schwer, eingeübtes Handeln, etablierte und habitualisierte Verhaltensweisen und liebgewonnene Gewohnheiten zu verändern. Dazu gehört auch die dem Bildungsmilieu inhärente Gewohnheit, bei anderen stets die falschen Motive zu entdecken, statt sich genauer danach zu fragen, warum sich manches unangenehme oder auch nur vermeintlich unangenehme Verhalten etablieren konnte und geradezu gedankenlos funktioniert.

Meine kleine Autofahrt ist undramatisch, und sie war leicht korrigierbar. Aber offensichtlich werden wir auch problematische Verhaltensweisen nicht so leicht los, nicht einmal diejenigen, die die Gebildeten unter den Verächtern der Gesellschaft dazu bringen, die Welt für eine Welt aus gewollten Motiven zu halten, nur weil sie daran gewöhnt sind, weiße Blätter oder Bildschirme mit mehr oder weniger konsistenten Verknüpfungen zu beschreiben.

Vieles von dem, was uns derzeit umtreibt – wie reagieren wir auf den Klimawandel, was tun gegen die Versuchungen des Rechtspopulismus und die Vorurteile des Alltags usw.? – würde in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn wir uns öfter die Frage stellen würden, warum sich die Leute, besser: wir Leute so sehr ans Gewohnte halten, warum Strukturen so träge sind, obwohl alle Welt behauptet, alles sei so volatil und verändere sich permanent. Vielleicht ändern sich die Bedingungen von Debatten, wenn man nicht der Versuchung unterliegt, alles auf falsche Motive oder mangelnde Gründe zurückzuführen, sondern Problemlösungskompetenzen und -konzepte mit der Trägheit und der Eigendynamik von Strukturen, Gewohnheiten und Wiederholungen zu konfrontieren.

Und noch schlimmer: Wenn all das schon für einzelne Personen und ihr Verhalten gilt, wie sehr gilt es dann erst für die gesellschaftliche Dynamik, für überindividuelle Strukturen, für soziale Systeme? Warum können wir ganz wunderbar die Welt so begründen und anders handeln? Und warum kann man so naiv sein, zu glauben, dass sich das durch höhere Einsicht ändern ließe? Die Preisfrage lautet, warum diese Gesellschaft so oft mit dem Auto nach Obermenzing fährt statt, mit der Trambahn zum Rotkreuzplatz. Und die zweite Preisfrage: warum mir das, wiewohl ich das alles ziemlich gut (oder etwa nicht?) erklären kann, immer wieder passieren wird.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /95, 18. November 2019