Kursbuch 171 – Editorial

Inhalt

Jens Bisky Brief einers Lesers • Birger P. Priddat Kapitalismus als Religion • Niels Pfläging Kaputtoptimieren • Jörn Müller-Quade Geheimnis Kryptografie • Lydia Rea Hartl Menschenoptimierung im Netzzeitalter • Peter Felixberger  Das Coca-Cola Komplott • James Shikwati Die Optimierungsfalle • Ingo Rechenberg Optimierbarkeit optimieren • Sabine Maasen Gut ist nicht gut genug • Irmhild Saake Sterben vor Publikum • Christian Gansch, Armin Nassehi Der perfekte Klang • Gert Heidenreich Der Beste

Editorial

Wo es mehrere Alternativen gibt, wird optimiert, denn es gibt stets eine bessere und eine schlechtere Möglichkeit. Insofern ist das Optimieren geradezu unvermeidlich. Alles, was geschieht, geschieht im Horizont anderer Möglichkeiten. Das gilt für die gesamte belebte Natur ebenso wie für die kulturelle Entfaltung von Möglichkeiten. Dass wir von natürlicher und kultureller Evolution sprechen, ist unmittelbarer Aus­druck dieser gegenwartsbasierten Problemstellung, dass auch an­deres möglich wäre und wir selektiv auf verschiedene Möglichkeiten zugreifen müssen. Dass wir dabei stets die bessere Lösung suchen, gilt als ausgemacht – und dort, wo die Lösung sich als eher nicht so gut herausstellt, wird sie im Falle der natürlichen Evolution als bloße Variation verschwinden und nicht weiterverfolgt. Im Falle der kulturel­len Evolution und Auswahl von Möglichkeiten wird die zweitbeste Möglichkeit bisweilen nachträglich als die bessere ausgegeben – man hat es ja nicht besser wissen können.

Die Beiträge in diesem Kursbuch setzen an diesem Grundgedanken an: dass wir die Wahl haben und dass wir stets vor diese Wahl gestellt sind. In der Kybernetik nennt man Evolutionsprozesse zustandsdeterminierte Prozesse – sie können je nur die Möglichkeiten wahrnehmen, die sich ihnen auch stellen, das heißt die Möglichkeiten, für die ent­sprechende Gelegenheiten und Mittel anwendbar sind. So ist alles, was geschieht, auch als Problemlösung anzusehen, selbst wenn die Lösung das Problem ist – immer aber mit der Überzeugung, das zu tun, was getan werden muss, und damit das Gegenteil zu vermeiden. Insofern zeichnen sich komplexe Systeme stets durch eine merkwürdige Kom­bination aus innerer Ruhe und Unruhe aus. Sie sind stabil und lassen uns erwarten, was geschieht. Aber sie sind zugleich hinreichend in­stabil, um sich an sich selbst, an eine Umwelt, an geänderte Rahmen­bedingungen, an Erwartungen, auch an Zufälle anzupassen. Anpas­sung und Abweichung, Stillstand und Fortschritt, Wirklichkeit und Möglichkeit sind stets aufeinander bezogen – und Zustände sind jenes Optimum, das sich aus den konkreten Gegenwarten ergibt.

Optimierung ist Selbstanpassung – oder wie Birger Priddat es in seinem Beitrag ausdrückt: »Wir müssen die Rationalität neu definieren: ›Wähle die beste Möglichkeit‹ bezieht sich dann nicht auf das, was extern angeboten wird, sondern auch auf sich selbst: ›Wähle dich als deine Möglichkeit.‹« Damit spricht Priddat an, worum es uns in diesem Kursbuch geht. Nicht ums Optimieren, sondern ums Besseroptimie­ren. Das ist doppeldeutig – doppeldeutig deshalb, weil sich letztlich alles als Optimierungsstrategie ansehen lässt, nun aber das Optimie­ren selbst zum Thema wird. Noch einmal am Beispiel des Beitrags von Priddat: Der Kapitalismus hat einerseits die Güterproduktion und -­distribution radikal optimiert, er hat überdies jene Identitäten hervor­ gebracht, nach denen sich Individuen selbst und den Markt optimie­ren – aber zugleich hat diese Art Optimierung jene Versprechungen nicht eingehalten, mit denen sie die Motive erst befeuert hat, die den Kapitalismus optimiert haben: dass die Menschen erfüllter und glück­licher werden.

Es gehört vielleicht paradoxerweise zu den Optimierungsgewinnen unserer Zeit, dass wir danach fragen, ob Optimierungen stets optimal sind – irgendwie kann man es sprachlich gar nicht korrekt ausdrücken. Jedenfalls werden Optimierungsfolgen und ihre Voraussetzungen re­flexiv. Wenn wir also »Besser optimieren« als Titel wählen, spotten wir nicht übers Optimieren, wie Ingo Rechenberg vermutet hat, als wir ihn um einen Beitrag gebeten haben. Gerade sein aus der Perspektive eines Ingenieurs und Bionikers geschriebener Beitrag zeigt sehr eindrucks­voll, dass Optimierungen stets nur dann gelingen, wenn eine angemes­sene Selbst-­ und Fremdanpassung gegeben ist. »Optimale Eigenschaftskompromisse« seien die Lösung. Seine spannenden Ausführungen, wie sich im Falle von Mehrzieloptimierungen durch Differenzierungund Entkoppelung sowie durch wechselseitige Justierung eine Pareto-Optimierung in einem Punkt erreichen lasse, habe ich geradezu als Parabel auf die moderne Gesellschaft gelesen. Auch sie hat sich durch Differenzierung und Entkoppelung von Funktionen ständig optimiert und effizienter gemacht. Ihre Differenzierungsfolgen bestehen aber vor allem darin, dass die Teile je paradoxe Wirkungen aufeinander haben. Was ökonomisch optimal sein mag, ist es politisch nicht; und was wissenschaftlich geleistet werden kann, löst nicht immer die Probleme ihres Gegenstands. Ein Pareto-Optimum will sich nicht einstellen – vielleicht weil sie ihre Lösungen so gegenwartsbasiert finden muss und keinen Konstrukteur und Ingenieur hat, nicht einmal einen Regisseur, aber dafür viele Zuschauer und Kritiker. Rechenbergs Problemstellung der Mehrzieloptimierung findet sich in verschiedenen Problemstellungen unserer Beiträge. In dem Interview, das wir mit dem Geiger, Dirigenten und Produzenten Christian Gansch führen durften, wird deutlich, wie sich der perfekte Klang nur durch ebensolche »optimale Eigenschaftskompromisse« erzeugen lässt. Jörn Müller-Quade versucht mithilfe der Kryptografie, den optimalen Kompromiss zwischen steigender Datentransparenz und persönlichem Datenschutz zu finden. Anders gesagt: Wie kann man Datenströme in der offenen Netzwelt überhaupt noch geheim halten? Die Soziologin Irmhild Saake macht darauf aufmerksam, dass die Optimierung des
Sterbens praktisch eine Optimierung der Kommunikationsbedingungen derjenigen ist, die (noch) nicht sterben. Wir schauen dem Sterbenden länger zu, zögern sein Sterben gewissermaßen hinaus, um uns unseres Nicht-Todes und Überlebens zu vergewissern. Wie ambivalent Optimierung in der körperlichen Perfektionierung hinsichtlich von Schönheit, Gesundheit und Effizienz ist, zeigt die Ärztin, Psychologin und Kulturwissenschaftlerin Lydia Rea Hartl: von der Wohlfühlchirurgie bis hin zur digitalen Haut der Cyborgs. Der kenianische Ökonom James Shikwati wiederum macht darauf aufmerksam, dass in der Entwicklungshilfe die optimierenden Wirkungen eher die Optimierer optimieren als die Optimierten. Besonders sein Hinweis auf die ganz unterschiedliche Grundhaltung im Westen und in China, Afrika zu optimieren, ist neu. Niels Pfläging beschäftigt sich seinerseits mit den Optimierungsstrategien im westlichen Management und dessen ewiger Effizienzsemantik, mit der sich Unternehmen bis heute  kaputtoptimieren. Und nicht zuletzt erörtert Sabine Maasen, warum Selbstmanagement als Selbstoptimierung das Perfektionsmantra moderner Menschen geworden ist. Aber lesen Sie lieber selbst – jedenfalls verfolgen wir mit dieser Kombination
aus volkswirtschaftlichen, ingenieurwissenschaftlichen, mathematischen, bionischen, soziologischen und ästhetischen Perspektiven das konsequent weiter, was wir in Kursbuch 170 angekündigt hatten: die Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft wirklich ernst zu nehmen und sie gelassen – wohlgemerkt: gelassen, nicht indifferent – aufeinander zu beziehen.

Ganz eigene Perspektiven stehen auch in Kursbuch 171 wieder der Kunst und der Literatur zur Verfügung: zum einen die von Thorsten Baensch in eine optimale Form gebrachten Cola-Dosen und ihre Kommentierung durch Peter Felixberger. Dessen Interview mit einer solchen Cola-Dose, geführt im April 2012 in Brüssel, gehört zu den am besten optimierten Interviews des Jahres. Auf die Spitze treibt es dann, zum anderen, Gert Heidenreich, in dessen Erzählung »Der Beste« eine Inversion von Kafkas Verwandlung geschieht – eine dialektische Geschichte von optimierter Fehloptimierung.

Dies ist das zweite Kursbuch nach seiner Wiederbelebung im Murmann Verlag. Dass das Kursbuch wieder da ist, hat zu vielfältigen öffentlichen und persönlichen Reaktionen geführt. Die Reaktionen sind selbstverständlich unterschiedlich ausgefallen – von geradezu begeisterten Einschätzungen bis zu eher verhaltenen und skeptischen Urteilen. Schön die Reaktion der taz – auf eine ausführliche, freundliche und sympathisierende Besprechung folgte einen Tag später eine kurze Notiz, die Redaktion sei gespalten – so soll es sein. Jedenfalls können wir nur wiederholen, was Peter Felixberger und ich im ersten Editorial offensiv vertreten haben: Uns kommt es auf die gelassene Debatte an, in der es wirklich um etwas geht und in der die Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft nicht nur zum Ausdruck kommt, sondern sich als solche wahrnimmt. Es kommt uns darauf an, dass sich in den Köpfen und in den gesprochenen und geschriebenen Sätzen etwas ändert, weil die Perspektiven sich als solche wahrnehmen können. Ich hoffe, nicht zu parteiisch zu sein, wenn ich betone, dass dies bereits unserer ersten Ausgabe gelungen ist und dass diese, die Sie nun in Händen halten, auf diesem Weg weitergeht. Fast hätte ich von Optimierung gesprochen, wenn es nicht gerade darum
gehen würde. Lesen Sie, halten Sie die Unterschiedlichkeiten und Vorläufigkeiten aus, suchen Sie nach Mustern, praktizieren Sie, was Sie gelernt haben.

Kursbuch 172, das am 10. Oktober 2012 pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erscheinen wird, heißt übrigens »Gut leben«. Zum Schluss noch dies: Ab dieser Ausgabe führen wir die Rubrik »Brief eines Lesers« ein. Wir bitten einen Leser, auf die vorherige Ausgabe Bezug zu nehmen, das Heft oder das Thema zu kommentieren, vielleicht auch einen Ausblick auf das neue Heftthema zu wagen. Für diese Ausgabe haben wir Jens Bisky gebeten, Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung. Bisky ist nicht nur ein scharfer Beobachter der Kulturszene. Er war auch der schärfste Kritiker des Kursbuchs 170. Umso mehr danken wir ihm, dass er diese Rubrik eröffnet. Noch ein kurzer Hinweis auf unsere Website kursbuch-online.de. Hier finden Sie vielfältige Informationen über das Kursbuch, Veranstaltungshinweise sowie die Möglichkeit, das Kursbuch auch als E-Book oder einzelne Beiträge als E-Single zu erwerben. Außerdem können Sie über diese Website Kontakt mit uns aufnehmen – wir freuen uns auf Ihren Besuch.

Armin Nassehi, geb. 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität-München. Zuletzt erschien Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft.