Kursbuch 172 – Editorial

Inhalt

Ines Pohl Brief einer Leserin (17) • Armin Nassehi Gut wirtschaften • Reinhard K. Sprenger Leadershit • Christina von Braun Wir zahlen alle den Preis des Geldes • Tobias Esch Wie kann man Glück lernen? • Jürgen Dollase Gut essen • Peter Berner Neues Wohnen • Hans Förstl & sterben mit Alzheimer • Gian Domenico Borasio Gut sterben – wie geht das? • Friedrich Wilhelm Graf Dient Religion dem guten Leben? • Herfried Münkler Wann marschieren wir ein? • Peter Felixberger Gut: Gerecht • Thomas C. Boyle In guten Händen

Editorial von Armin Nassehi

Leben alleine reicht nicht. Zumindest für Menschen hat das bloße Leben noch keinen Informationswert. Das liegt daran, dass das Leben auch verfehlt werden kann – sonst könnten wir nicht gut leben. Leben muss qualifiziert werden, es ist keine rein biologische Kategorie, sondern eine soziale, oder besser: eine prozessuale – aber wahrscheinlich ist das exakt unsere Biologie. Die Kategorie des guten Lebens, wie wir sie spätestens seit Aristoteles kennen, ist von zwei Charakteristika geprägt: von ihrer teleologischen Struktur und ihrer Unerreichbarkeit. Teleologisch, weil es um ein Ziel geht, und zwar ein Ziel, das um seiner
selbst willen wertvoll ist; unerreichbar, weil das Streben Bedingung des Teleologischen ist. Das gute Leben findet nicht einfach statt beziehungsweise ist nicht einfach da, sondern muss gewollt, erstrebt, geführt werden.

Dabei wusste schon Aristoteles, dass die Eudaimonie, also die Glückseligkeit als Ziel des guten Lebens, zwar selbst erstrebt werden muss, aber durchaus von Bedingungen abhängig ist, die wir nicht allein in der Hand haben: An äußeren Gütern seien Wohlgeborenheit, Geld oder Ehre durchaus hilfreich, bei den inneren Gütern könnten Schönheit, Gesundheit oder Besonnenheit nicht schaden. Das gute Leben ist also ein Leben, das von vielen Faktoren abhängig ist – es muss selbst geführt werden, aber es findet gute oder schlechte Bedingungen vor. Deshalb bedarf das glückselige Leben auch eines Rahmens, der bei Aristoteles von der Polis und von Freunden gewährt wurde. Es ist also wie im richtigen Leben, die Sache mit dem guten Leben. Wir haben deshalb ein Kursbuch aus dem richtigen Leben komponiert.
Alle Beiträge halten sich letztlich an die aristotelische Vorgabe, dass man es selbst machen muss, aber am besten in einem entgegenkommenden Umfeld. Tobias Esch erläutert das an der Frage, ob und wie man Glück lernen kann, Gian Domenico Borasio fragt nach dem guten Sterben und Hans Förstl spürt dem Leben mit Alzheimer nach.
Friedrich Wilhelm Graf stellt Religiosität auf die Probe – wann und wie dient sie dem guten Leben? Dass gut zu essen mehr impliziert, als gut zu essen, zeigt Jürgen Dollase. Und Herfried Münkler stellt die schwierige Frage, ob militärisches Einschreiten »unserem« guten Leben oder dem guten Leben der »Anderen« dient – oder ob es Bedingungen gibt, welche die beiden Seiten nicht mehr als Antipoden erscheinen lassen.

Gerechtigkeit war für das aristotelische gute Leben eine Zentralkategorie – Peter Felixberger fragt nach den heutigen Bedingungen gerechten Lebens und stößt auf merkwürdige Paradoxien. Fürs Ökonomische hatte Aristoteles nur Spott parat. Für die Eudaimonie spielte sie keine Rolle, soweit der Erwerb von Geld ein Selbstzweck wird. Vielleicht ist es ein geradezu paradoxes Symptom der allenthalben beklagten Ökonomisierung des Lebens, dass auch das Ökonomische nun umgekehrt mit Begriffen des guten Lebens erfasst werden soll. Christina von Braun macht sich deshalb auf die Suche nach der Bedeutung des Geldes, Reinhard K. Sprenger spottet über gute Führung – die gebe es »nur im Knast« –, und ich wundere mich darüber, dass Unternehmenskommunikation heute gerne als Wertekommunikation daherkommt.

Wir geben keine Anleitung zum guten Leben. Wer könnte das schon? Und wer dürfte das schon? Und welche anderen Sätze würden dabei herauskommen als solche, die dann doch wieder nur die Tradition aufrufen. Bleiben wir doch bei Aristoteles. In seiner Welt war es noch einfacher, das gute Leben wenigstens theoretisch zu bestimmen. Als größte Tugend galt, »dem Fehler des Übermaßes und des Mangels« zu entsagen, wie es in der Nikomachischen Ethik heißt. Als quantitatives Problem freilich lässt sich das gute Leben nur in einer Welt denken, in der man mit einer Zentralperspektive rechnen kann. Und dann lässt sich auch trefflich eine Anleitung geben. Diese Möglichkeit haben wir nicht mehr. Deshalb sprechen wir eher über die Bedingungen der Möglichkeit des guten Lebens und darüber, wie man übers gute Leben nachdenken könnte. Oder ist das schon die Anleitung?

Wie schwierig die Kriterien des guten Lebens zu bestimmen sind, zeigt sich sehr deutlich in der Architektur, die jene Räume schafft, in denen unser Leben stattfindet und die bestimmte Lebensbedingungen erst ermöglicht – oder behindert. Peter Berner beschreibt und zeigt, wie Räume durch Gestaltung und vor allem durch Umgestaltung Lebensräume erschließen. Wie schwierig die Kriterien des guten Lebens praktisch zu finden sind, drückt die Erzählung »In guten Händen« von Thomas C. Boyle aus – die Protagonistin jedenfalls strebt und wird getrieben. Vielleicht ist das tatsächlich die Bedingung des guten Lebens – die Differenz zwischen Realität und Potenzialität nicht aus den Augen zu verlieren. Ines Pohl führt unsere Kolumne »Brief eines Lesers« fort. Wir beschließen mit diesem Kursbuch 172 den ersten Jahrgang des neuen Kursbuchs im Murmann Verlag. Unsere Pläne fürs nächste Jahr – ein Wahljahr! – sind vielversprechend. Bleiben Sie gespannt.

München, im September 2012
Armin Nassehi

(Weiterlesen im Kursbuch 172)

Armin Nassehi, geb. 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuletzt erschien “Deutschland. Ein Drehbuch” (zu­sam­men mit Peter Felixberger)

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