Editorial
Armin Nassehi
Wenn man genau hinsieht, hängt die Latte des Wissens sehr hoch – nicht wenn wir im Alltag Wissen anwenden, aber wenn wir etwas übers Wissen wissen wollen und darüber räsonieren. Warum also nicht am Anfang die Latte wirklich hoch hängen? Wie hoch die Erwartungen ans Wissen letztlich sind, zeigt sich schon in der antiken Philosophie. Schon Platon – darunter machen wir es nicht, wenn wir die Latte wirklich hoch hängen – unterscheidet zwischen episteme und doxa, also zwischen dem Wissen und dem bloßen Meinen; das Erste unfehlbar und wahr, das Zweite bloß plausibel und fehlbar, das Erste also wirklich echtes, wahres Wissen, das Zweite ein Alltagswissen, das hinreicht, um das tägliche muddling through zu bewältigen. Diese Unterscheidung sollte sich in Variationen in der ganzen abendländischen Denkgeschichte halten und findet in Kants Kritik der reinen Vernunft ihre berühmteste Formulierung.
Kant unterscheidet hier drei Weisen des »Fürwahrhaltens«, nämlich Meinen, Glauben und Wissen. Danach ist das Meinen ein sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Es hält weder einer objektiven Prüfung stand, noch ist es subjektiv angemessen, es ist gewissermaßen beliebig, zufällig, idiosynkratisch, bedeutungslos. Glauben dagegen ist zwar immer noch objektiv unzureichend, aber subjektiv sehr wohl angemessen. Es mag also objektiv unzureichend sein, die Auferstehung des Fleisches oder die schicksalhafte Macht der – Vorsicht: Pleonasmus! – Sternenkonstellation zu behaupten. An sie zu glauben aber sei subjektiv angemessen, wenn man Glaubens- von Wissensfragen unterscheiden kann. Wissen schließlich ist für Kant nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv zureichend, will heißen: Wirkliches Wissen bildet die Welt letztlich ab, wie sie wirklich ist, letztlich unabhängig von dem Beobachter, der etwas über die Welt weiß. Es kann dann durchaus Wissensfortschritt geben, aber kaum konkurrierendes Wissen über denselben Gegenstand.
Kant geht es tatsächlich ganz explizit um die Frage der objektiven Gewissheit »für jedermann« – aber den entscheidenden Satz übers Wissen erwähnt Kant eher en passant, wenn er betont, dass die Grundlage seiner eigenen Transzendentalphilosophie sich den strengen Kriterien objektiver und subjektiver Angemessenheit des Wissens entzieht. Für sie sei Meinen zu wenig, »aber Wissen auch zu viel«. Und diese Einschränkung verschärft sogar noch die Bedingungen für angemessenes Wissen und hängt die Latte in der Tat sehr hoch. Also selbst dort, wo es um die Bedingungen der Möglichkeit dafür geht, was Wissen bedeutet und was man wirklich wissen kann, steht einem kein Wissen zur Verfügung – und wenn Kant damit auch nur einen methodischen Hinweis auf die Transzendentalphilosophie gibt, so enthält diese Bemerkung doch einen starken empirischen Gehalt: Alles Wissen, das wir verwenden, verwenden wir im Horizont von Ungewissheit. Wissen ist also stets mit einem negativen Vorzeichen versehen, ob wir wollen oder nicht. Wer vom Wissen spricht, spricht also auch vom Nichtwissen.
Darum geht es in diesem Kursbuch – darum, wie prekär, wie vorläufig, wie unvermeidlich und manchmal: wie wünschenswert Nichtwissen ist. Stellen wir uns einen Markt vor, auf dem alle vollständiges Wissen hätten. In diesem Fall würde der Markt zusammenbrechen, weil alle das Gleiche tun würden – und schon würde aus dem richtigen, vollständigen Wissen falsches Wissen, und das gilt nicht nur auf Märkten. Vielleicht ist die größte Herausforderung fürs Wissen heute die, dass wir das Objekt des Wissens nicht mehr einfach voraussetzen können – nicht mehr einfach heißt: Der Gegenstand ist so komplex, dass sich die Bedingungen fürs Wissen schneller ändern als das, was man darüber wissen kann – und dann können sie auch noch Unterschiedliches bedeuten. Das macht nicht einmal vor dem Nichtwissen halt, denn dies ist ja nicht einfach die Negation eines »subjektiv und objektiv angemessenen Fürwahrhaltens«, sondern eher der praktische Modus, in dem wir mit dem Wissen umgehen.
Wolfgang Schmidbauer, Karsten Fischer und Andreas Zeuch stellen ganz ähnliche Fragen zu sehr unterschiedlichen Gegenständen: Schmidbauer hat Zweifel, ob der Liebespartner alles über erotische Abenteuer und Fantasien des anderen wissen sollte. Vielleicht sollte er es nicht einmal nicht wissen wollen. Karsten Fischer würde einen Staat, der alles über seine Bürgerinnen und Bürger wissen wollte, für ebenso übergriffig halten wie einen Liebespartner, der alles vom anderen wissen will. Und Andreas Zeuch sieht im fehlenden Wissen über alle Entscheidungsbedingungen gar keinen Fehler und macht Intuition sogar als Quelle für strategisches Wissen aus. Martin Kocher beschreibt ganz ähnlich, wie Verzerrungen und Abweichungen von Marktentscheidern vom Standardmodell des Homo oeconomicus keineswegs eine prinzipielle Störung darstellen, sondern letztlich den empirischen Normalfall unseres Entscheidungsverhaltens – nicht nur auf Märkten.
Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt in seinem Beitrag, wie sehr der Sport davon lebt, wie wenig wir vorher wissen können, wie ein Wettkampf ausgehen wird – und wie sehr sich deshalb gerade der Sport Methoden des Managements und der rationalen Planung nähert, um mit diesem Nichtwissen umgehen zu können. Dass es gerade hier auch viele Blender gibt, hatte Peter Felixberger wohl nicht im Blick, als er sich an seine Rekonstruktion jener Kränkung gemacht hat, dass die erfolgreichsten Wissensstrategien womöglich Blendgranaten sind. Die Stunde der Blender habe gerade erst begonnen – und im Visier hat er vor allem diejenigen, die öffentlichkeitswirksam behaupten können, wie sich die Dinge nun tatsächlich verhalten. Werner Vogd schließlich macht darauf aufmerksam, dass der Erfolg ärztlichen Handelns sich weniger an explizitem Wissen bemisst, sondern an einem praktischen Sinn, der jenes Vertrauen erzeugt, das den Mediziner für den Patienten erst zum Arzt machen kann.
Wir haben vier Autoren gebeten, explizit über das Nichtwissen in ihren Disziplinen Auskunft zu geben: Harald Lesch zeigt, wie in der Physik mit dem Wissen auch die Ungewissheit wächst; Jürgen Zöllner macht in der Medizin mehr Vermutungswissen als sicheres Wissen aus und begründet das mit der Komplexität des Gegenstandes, die allzu einfache Kausalitätsaussagen ausschließt; in ein ähnliches Horn stößt Ernst Pöppel, der Nichtwissen in der Hirnforschung mit dem Ausruf »Ich habe keine Ahnung«! einleitet und gerade in der bildverliebten Hirnforschung eine Sucht nach Ontologisierung ausmacht; und der Theologe Gregor Maria Hoff sieht in der Religion eine Agentin prekären Wissens.
Es bestätigt sich die kantsche Skepsis – wer über die Bedingungen des Wissens räsoniert, verliert sicheren Wissensboden. Dennoch: Gerade das Prekäre am Wissen setzt voraus, wissen zu wollen. Welche auch emotionale Kraft dieser Wille entfaltet, zeigt sich in den Bildern des Fotografen Paul Hahn, die Schul- und Lernszenen unter anderem in Afrika und Indien zeigen. Bildung ist wahrscheinlich immer noch das einzige Mittel, mit Wissen und Nichtwissen zugleich umgehen zu lernen.
Sehr freuen wir uns über die kleine Erzählung Zwei Frauen des irischen Autors Colm Tóibín. Deren letzter Satz lautet: »Ja, so hat es wohl ausgesehen«, sagte Frances. »So hat es wohl ausgesehen.« Wie es wirklich war, sagt das nicht, nur wie es ausgesehen hat – irgendwie eine Parabel auf das Nichtwissen des Wissens.
Andrian Kreye hat den Stab »Brief eines Lesers« aufgenommen und gibt ihn mit der nun zehnten Variante weiter.
München, im November 2014
Armin Nassehi
Armin Nassehi, geb. 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuletzt erschien “Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss”.
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