Armin Nassehi
Editorial
Für die Planungszyklen des Kursbuchs ist die gegenwärtige Krisenfrequenz eindeutig zu schnell.
Wir wollten mit Donner. Wetter. Klima. die präsenteste Krise unserer Zeit in den Fokus nehmen, nicht eigentlich das Geschehen selbst, sondern die Art und Weise, wie die Gesellschaft, wie ihre Kommunikation, wie ihre Begriffs- und Konfliktbildung, wie ihre Bewältigungs- und Verarbeitungs-
strategien darauf reagieren. Denn der Gesellschaft fällt die Krise durchaus als eine Art äußerer Veränderung von Klima- und Wetterphänomenen auf, vor allem aber als Störung von Routinen, Selbstverständlichkeiten und Bedrohungsszenarien. Eine Gesellschaft kann auf äußere Einflüsse nur im Modus des Innen reagieren – sie brauchte lange genug, sich die äußeren Veränderungen in ihrem Innenverhältnis selbst zuzurechnen. Diese Prozesse sollte dieses Kursbuch im Blick haben. Wie reagiert die Gesellschaft in ihrem Innenverhältnis auf etwas, das wie etwas Äußeres aussieht und doch alles ist, aber nicht Äußeres, schon weil Gesellschaft nichts Äußeres kennt? Sie kennt die Welt nur als das, was sie sich selbst davon zumutet. Und sie organisiert diese Zumutung nach eigenen Regeln.
Das ist ein gutes Konzept, wie wir finden – und schon wird es, während die Kursbuch-Maschinerie angelaufen ist, von der nächsten Krise gestört, von der Corona-Pandemie, die in statu nascendi der Planungen noch wie ein regionales chinesisches Geschehen aussah. Man sieht diese Störung und Verstörung vielen Texten dieses Kursbuchs an – der gegenwärtige Krisenmodus übersteigt in der Drastik seiner Reaktionsform den Krisenmodus in Sachen Klimawandel um ein Vielfaches. Schon deshalb wird dieses Kursbuch sowohl im impliziten als auch im expliziten Rekurs auf die Corona-Krise ganz anders gelesen, als wir es uns bei der Planung haben träumen lassen. Man kann es auch so sagen: Zu einem passenderen Zeitpunkt hätte ein Kursbuch zur Klimakrise nicht erscheinen können.
Wie komplex die beiden Krisen miteinander gekoppelt sind, lässt sich an vielen Bildern demonstrieren, von denen mir zwei aus Indien und Italien besonders eindrücklich erscheinen, die in den letzten Wochen durch die sozialen Netzwerke zogen. Das eine stammt aus der nordindischen Stadt Jalandhar (Punjab). Man kann dort das erste Mal nach 30 Jahren wieder den etwa 200 Kilometer entfernten Himalaja klar und deutlich sehen. Und in Venedig ist das Wasser der Kanäle nicht mehr grünlich-trüb, sondern so klar, dass man bis zum Boden sehen kann. Schon eine kurze Zeit mit weniger Verkehr und damit weniger Emissionen hat sichtbare Folgen – die Luft wird so klar, dass alte Bilder wiederkommen, der ausbleibende Bootsverkehr in der Lagunenstadt lässt die Sedimente ruhen, und es gibt sogar Meldungen darüber, dass seit den weltweiten Reaktionen auf das Corona-Virus die Erschütterungen der Erdkruste deutlich messbar zurückgegangen sind. Das soll nicht heißen, dass man mit den Mitteln gegen die Pandemie auch den Klimawandel bearbeiten sollte und könnte – aber das unsichtbare Virus mit dem gekrönten Namen führt in geradezu historischer Ironie den sichtbaren Beweis, wie anthropogen die Umwelt- und Naturveränderungen sind, mit denen wir zu tun haben. Für die Frage, wie das zu bewältigen ist freilich, kann das gar nichts beitragen. Es könnte aber ein Hinweis auf verpasste Chancen sein – und womöglich wird auch die Corona- Krise eine Krise durch verpasste Möglichkeiten.
Verpasste Chancen sind ein Motiv, das viele Beiträge dieses Kursbuchs begleitet. Franz Josef Radermacher berichtet von vorübergegangenen Zeitfenstern für die Bearbeitung der Klimakrise. Auch Jörg Staude und Joachim Wille stoßen in dieses Horn und mutmaßen, ob der europäische Green Deal nun unter Corona noch weniger Chancen hat als ohnehin schon, und Peter Unfried trauert politischen Engführungen der Klimabewegung nach und beklagt vor allem ihre Staatsfixiertheit. Auch die Kosten- Nutzen-Analyse der Digitaltechnik und der KI als Energieverbraucher und Lösungskonzept von Marc Winkelmann weist auf verpasste Chancen hin, weil auf die Klimafrage stets nur reagiert wurde. Die Überlegungen über Klimadialoge von Simon Weber und Jacques Chlopczyk versuchen sich ebenfalls daran, verpassten Chancen entgegenzuwirken, indem sie auf die Kraft der Kommunikation setzen. Dieser Beitrag folgt unserem Call for Papers für jüngere Autorinnen und Autoren.
Wie erfahren wir vom Klimawandel, welche Informationen stehen zur Verfügung, wie wird Wissen darüber erzeugt? Marlen Gabriele Arnold spürt der Art und der Qualität von Daten nach, die die Krise repräsentieren sollen und zum Teil zu viel, zum Teil zu wenig Eindeutigkeit erzeugen. Sie kommt zu der wunderbaren Schlussfolgerung, dass darin die merkwürdige Antinomie aufscheint, dass wir durch diese vielen Daten und Informationen darüber belehrt werden, dass es sich um einen menschengemachten Wandel handelt, andererseits aber der Illusion menschlicher Allmachtsfantasien unterliegen, die Sache instrumentell steuern zu können. Auch Solvejg Nitzke kommt auf die Repräsentations- und Präsentationsformen des Kliimawandels zu sprechen, deren szientoide Form sie vor allem im Blick hat. Und mein eigener Beitrag stellt die Frage, was es denn eigentlich heißt, auf die Wissenschaft zu hören.
Besonders hervorheben möchte ich zwei Beiträge. Der Moraltheologe Christof Breitsameter zeigt, wie stark der heutige Klimadiskurs auf alte theologische und religiöse Argumentationsformen zurückgreift, mit der Schicksalhaftigkeit oder Bedeutsamkeit von Wetter und Klima umzugehen. Ist der Klimawandel Gottes eigener Plan oder eine Herausforderung für den Menschen, mit Gottes Schöpfung angemessen umzugehen? Der Theologe jedenfalls empfiehlt, nicht nur den »lieben Gott« lieber aus dem Spiel zu lassen. Und Berit Glanz erzählt über die Erzählbarkeit der Natur, die spätestens mit der Erzählung keine Natur mehr ist, aber eben doch die vorgängige Möglichkeit, Natur zu erreichen. Sie plädiert dafür, den Spuren der Natur durch die Texte der Menschheit zu folgen.
Wir freuen uns sehr über Oswald Eggers Priameln – und sagen nicht mehr als das, was er uns selbst dazu gesagt hat: »Bei Gedichten ist Verstehen: Wirken.«
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Virus-Bilder von sieben verschiedenen Künstlern. Die Bilder sind in einem 3-D-Verfahren auf Basis von Mikroskopansichten entstanden, also digital optimierte Viren, künstlerisch weiterbearbeitet. Sie können wie eine Parabel gelesen werden – auf beide Krisen. Bilder sind anschaulicher, als sie es wirklich sind, denn das Bild liefert zugleich mit, dass wir uns nur ein Bild von dem Geschehen machen können, das Geschehen selbst aber unerreichbar ist. Das ist das Merkwürdige an bildlichen Darstellungen, die anders als Text so tun, als können das Gezeigte und das Zeigen zur Deckung gebracht werden. Darauf verweist das Bild stets – weil es stets dies bleibt: ein Bild. Es ist aber kein Zufall, dass diese Bilder unter Kunstverdacht geraten, nicht nur weil sie ja künstlerische Darstellungen sind, sondern weil die Grenze zwischen Abbild und Gegenstand verschwimmt, es verschränkt sich hier fast die wissenschaftliche mit der künstlerischen Form – denn die Kunst verweist auf beides: auf die Dinge, wie sie sind, und darauf, dass man sie nicht zeigen kann, wie sie wirklich sind.
In seiner Kolumne FLXX speist Peter Felixberger diesmal mit Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu, der offenbar nicht nur die Gewalten, sondern auch die Klimazonen geteilt hat.
Wir freuen uns über den nunmehr 29. Brief eines Lesers, für den uns Cord Schnibben seinen Beitrag über das Kursbuch 200. Revolte 2020 zur Verfügung gestellt hat, der bereits in seiner Kolumne »Bahnhofskiosk« im Online-Magazin Übermedien erschienen ist.