18. Januar 1689. Die Zeitmaschine landet 25 Kilometer südlich von Bordeaux. Im Chateau de la Brède kommt der kleine Charles zur Welt. Die Mutter eine Adelige, der Vater ein Veteran. Es herrscht ein grimmiger Winter, der sich noch weit bis in den Mai mit Frost, Reif und Kälte fortsetzen wird. Obstbäume und Weinreben werden erfrieren. Der kleine Charles-Louis liegt unterdessen im wohlig-warmen Schlafzimmer bei seiner Mutter. Noch ahnt er nicht, dass sie schon in sieben Jahren sterben wird. Und 17 Jahre später wird sein Vater das Zeitliche segnen. Der gute Charles-Louis wird kurz danach das Vermögen seines Onkels, des Barons de Montesquieu, erben, dessen Titel er auch übernehmen wird. Ein Jahr später wird Montesquieu, wie er namentlich in die Weltgeschichte eingehen wird, im Parlament von Bordeaux sitzen.
Zeitsprung. Wir reisen ins Jahr 1748. Montesquieu veröffentlicht in Genf sein Hauptwerk L’esprit de lois. 20 Jahre hatte er daran gearbeitet, war durch die Welt gereist und hatte zahlreiche Gegenden, Länder und Völker studiert. Neben einer breit angelegten Theorie der Gewaltenteilung entwickelte er auf Grundlage dieser Beobachtungen die erste Klimalehre der Moderne mit Rückbezug auf Mentalität und Charakter der Menschen.
14. Mai 1748. Blitz und Donner. Ein Wolkenbruch. Montesquieu hat mich zum Abendessen eingeladen. Im Nachbardorf wird an diesem Abend noch eine Scheune abbrennen. Montesquieu erwartet mich an der Tür. Ein Greis, dessen Augenlicht nicht mehr das beste ist. Weißer Port zum Aperitif. Kerzenschein. Eine breiige Gemüsesuppe kommt auf den Tisch. „Dann schießen Sie mal los“, fordert er mich auf. „Herr Baron“, beginne ich mich leicht vorzutasten, „Sie beschreiben in Ihrem Buch unter anderem einige Nationalcharaktere, die sie als Mischungen aus Tugenden und Lastern, aus guten und schlechten Eigenschaften bezeichnen.“ „So ist es“, bestätigt er. Ich zitiere folgende Passage aus dem Buch: „Die Chinesen. Infolge ihres ungesicherten Lebens entwickeln sie eine erstaunliche Regsamkeit und ein so unmäßiges Gewinnstreben, dass keine handeltreibende Nation sich auf sie verlassen kann.“ Montesquieu blinzelt: „Exakt. Ihre Unehrlichkeit ist allenthalben bekannt.“
Der Weißwein zur Suppe steigt mir in den Kopf und ich beginne über das Coronavirus zu berichten, das von China aus die Welt erobert hat. Was sage ich: erobert, nein, vielmehr die Menschheit befallen hat. Und keiner weiß, wo das Virus in China ausgebrochen ist. „Auf alle Fälle“, ergänze ich, „haben die Chinesen mit drastischen Maßnahmen als erste die weitere Ausbreitung des Virus zurückdrängen können.“ „Das überrascht mich nicht“, antwortet Montesquieu und verweist auf den unerschütterlichen Lebensstil der Chinesen. „Prinzipien der Moral bleiben fest haften in jedem Chinesen.“
Das aber passt hier nicht her. Montesquieu kommt in Fahrt. Er zitiert aus dem Geist der Gesetze: „Für die Gesetzgeber Chinas war das Hauptziel der Regierung die Befriedung des Reiches. Als das geeignetste Mittel dazu erschien ihnen die Unterordnung. Dieser Idee gemäß glaubten sie, man müsse Hochachtung vor den Vätern einflößen. Darauf verwendeten sie ihre ganze Kraft.“ Und so sei es für ihn völlig logisch, warum das Land nach dem Leitbild einer Familie geformt sei. Ganz oben stünden die Greise, Meister, Beamte und der Kaiser stellvertretend als die Väter des Landes. Ich erzähle Montesquieu von den Debatten in der Corona-Pandemie, dass die Alten geschützt werden müssen, aber gleichzeitig nicht wenige eine Isolierung der Schwächeren und Alten fordern würden, damit Wirtschaftsleben und Lebensalltag wieder starten könnten.
Und wie gerade heftig über die Lockerung von Ausgangsbeschränkungen diskutiert würde. Bei dem Wort „Ausgangsbeschränkung“ hebt er plötzlich den Kopf. „In China kein Problem. Alle Leute gehorchen.“ „Na ja“, antworte ich, „wir Deutschen sind da nicht unähnlich, irgendwie sind wir die Chinesen Europas.“ „Halt, junger Mann. Es gibt einen großen Unterschied: Arglist und Täuschungskunst sind in China hoch angesehene Handlungsmaximen.“ Und er zitiert weiter: „In China muss jeder seinen Nutzen im Auge behalten. Wenn der Spitzbube seine Interessen wachen Auges verfolgt hat, muss der Geprellte die seinen bedenken … In China ist das Betrügen erlaubt.“ Ich schmunzle, fällt mir doch gerade ein Strategem ein, das im chinesischen Alltagsleben bis heute höchste Anerkennung erfährt: „Umarme deinen Feind so lange, bis er tot ist.“
Die Suppe ist zwischenzeitlich ausgelöffelt. Eine bauchige Rotweinkaraffe wird auf den Tisch gestellt. Und der Hauptgang rollt an …
Lesen Sie weiter im nächsten Kursbuch (ET: 2. Juni) in der FLXX-Kolumne. Mit Hauptgang und Dessert, zwei Trunkenbolden und einer langen Zeitreise zurück in die Gegenwart.
Peter Felixberger
Montagsblock /108, 25. Mai 2020