Kursbuch 173 – Editorial

Inhalt

Johann Schloemann Brief eines Lesers  • Armin Nassehi Die Macht der Unterscheidung • Susann Sonntag 1968 • Axel Honneth/Paul Nolte Ich@Wir • Peter Felixberger Links = rechts • Ernst Pöppel Der autistische Spiegel • Konrad Paul Liessmann Lechts und Rinks • Hans-Peter Feldmann  8 Seiten Bilder • Florian Rötzer Sind Google und die Piraten links? • Karl Bruckmaier Welch ein Illtum • Michael Brenner Der antisemitische Code • Nico Stehr Mut zur Lücke • Gesa Lindemann Mann und Frau Georg M. Oswald In schwierigstem Gelände 

Editorial

Dies ist ein Kursbuch über Unterscheidungen, über Unterschiede, über Differenzen – und es ist ein Kursbuch über die Implosion, die Verschiebung, über das Untauglichwerden und die Neufassung von Unterscheidungen. Es geht nicht nur um die politische Unterscheidung von rechts und links, sondern auch um andere Unterscheidungen – Wissen/Nichtwissen, Mann/Frau, rechte und linke Gehirnhälfte, um die Ehe zur Linken etc. –, und es geht ums Unterscheiden schlechthin. Aber gerade an der politischen Unterscheidung von rechts und links wird am plausibelsten, dass das Unterscheiden schon einmal einfacher war, dass sich hier Eindeutigkeiten verschoben haben – und dass man auf die Unterscheidung dennoch nicht recht verzichten kann. Wir haben das Heft Rechte Linke genannt, was ja viel weniger heißt, dass die Unterscheidung nicht mehr funktioniert. Manches hat sich nur anders, weniger eindeutig geordnet.

Die Konservativen sind linker geworden, sowohl kulturell als auch bezogen auf die Distribution von Gütern und Lebenschancen, und die Linken haben sich ohne Zweifel mit dem Kapitalismus versöhnt (wobei zumindest im deutschen Parteienspektrum die Einzigen, die sich auch links nennen, diese Versöhnung wenigstens verbal ablehnen). Doch die Grundkonflikte sind geblieben – vor allem der zwischen unterschiedlichen Nebenfolgen: Kostet zu viel soziale Sicherheit zu viel ökonomische Dynamik? Kann man ökonomische Dynamik mit weniger sozialer Sicherheit erkaufen, und wenn ja, führt das dann zu mehr sozialer Sicherheit? Ist der Markt ein weiser Regulator, oder ist es eher der Staat? Alte Debatten, an denen sich die großen politischen Strömungen wenigstens in den alten westlichen Demokratien orientieren. Aber für eine wirkliche Rechts-links-Unterscheidung taugen sie nicht.

Sie alle reagieren vergleichsweise konservativ (das gilt für die sozialdemokratische wie für die klassisch-konservative Variante), indem sie die Schwäche der Menschen durch Institutionen und Verträge zu kompensieren versuchen. Sie hoffen nicht auf den Neuen Menschen als Bewohner einer idealen Gesellschaft.

Peter Felixberger zeigt in diesem Kursbuch, wie die romantische Vorstellung einer vollendeten Gesellschaft mit vollkommenen, optimierten Menschen die gemeinsame Klammer eines Kapitalismus à la Hayek und des Kommunismus sei. So links und so rechts können nur noch politische Desperados denken. Johan Schloemann beschreibt in seinem »Brief eines Lesers« sehr schön die Diskrepanz zwischen übergeordneten politisch-gesellschaftlichen Überzeugungen und dem Lebensstil einer urbanen Mittelschicht. Die Überzeugungen zehren von toleranten, gerechtigkeitsorientierten und allerlei kritischen Perspektiven. Womöglich kennt man sogar die Referenzautoren jener Generation, die die kulturelle Öffnung der verstaubten 1950er- und 1960er-Jahre ermöglicht haben. Sicher steht bei vielen das Kursbuch noch im Wohnzimmerschrank. Der Lebensstil aber zehrt nicht nur von den ökonomischen Segnungen einer durch Bildung und zumeist auch Herkunft oder sozialen Aufstieg befeuerten Karriere, sondern auch durch klare Distinktionsbemühungen. Am deutlichsten, wenn es entweder um die Schulbildung der Kinder oder um das Wohnquartier geht – bei beidem bleibt man lieber unter sich und tut einiges dafür, das auch durchzusetzen. Sind die Überzeugungen universalistisch links, ist die Praxis eher partikular rechts. Und spielen kann man damit schön, wenn man, wie in München im August 2009, auf dem Nockherberg, einem stadtbekannten Biergarten, Oskar Lafontaine und Peter Gauweiler mit der Unterscheidung spielen lässt und am Ende Gauweiler unter dem Gejohle des wohlsituierten, aber schon ziemlich beschwipsten Publikums resümieren lässt: Niemand kann ganz links und ganz rechts sein!

Kann man denn überhaupt noch rechts sein? Es gibt viel rechtes Potenzial – wenn rechts sein bedeutet, Menschen nur als Gruppenexistenz, als Angehörige unhintergehbarer, partikularer Gruppen zu definieren: Völker, Rassen und Geschlechter, Familien und Schichten, Religionen und Kulturen. Und auf die rechten NSU-Morde hat die Öffentlichkeit lange tatsächlich rechts reagiert – man konnte sich gar nicht vorstellen, dass die Morde von anderen begangen worden sein sollen als von kriminellen Migrantenmilieus. Wer sollte sonst ein Interesse haben, solche Leute umzubringen? – So der Subtext vieler Insinuierungen. Das Rechte lässt sich aber auch in der Zustimmung zu Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab beobachten. Es gab eine geradezu dankbare Reaktion darauf, dass jemand sagt, man werde es doch noch sagen dürfen … Ja, das Rechte ist unsagbar geworden, aber nicht verschwunden, wie das Linke längst nicht mehr links im engeren Sinne ist.

Und doch macht die Unterscheidung einen Unterschied, wie viele Beiträge in diesem Kursbuch deutlich zeigen – etwa das Gespräch, das wir mit Axel Honneth und Paul Nolte führen durften. Es ist weit davon entfernt, sich in der allzu einfachen Diagnose zu ergehen, die Unterscheidung sei eben implodiert, aber auch hier wird am Ende deutlich, wie unübersichtlich die Lage geworden ist. Auch Michael Brenner zeigt, wie wenig eindeutig die Verhältnisse sind: Antisemitismus ist kein Privileg der Rechten.

Besonders erwähnen möchte ich Karl Bruckmaiers Beitrag, welcher der Frage nach links und rechts in der Popmusik nachgeht. Er kommt zu einem klaren Ergebnis: Auch wenn man sich der Formen der Popmusik für konservative und rechte Zwecke bedienen kann, bleibt sie doch selbst links, weil sie schon wegen ihrer Herkunft aus der US-amerikanischen »Volksmusik« mit ihren vielen Quellen stets subversiv und bottom-up war, also links in dem Sinne, dass sie vom Volk und nicht von den Eliten ausging. Das ist weit weg vom Geruch, den »Volksmusik« in Europa immer auch hat. Bruckmaier schreibt: »Pop ist zum größten gesellschaftlichen Feldversuch der Menschheitsgeschichte angewachsen, weiter verbreitet als parlamentarische Demokratie und zuckerfreie Cola. Etwas wohnt diesem kulturellen Hybrid inne – eine  Kraft der vielen – das auch ohne Worte vom Wert des Individuums spricht, von seinem Recht auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.« Darüber könnte man lange debattieren –, aber die Assoziation ist klar: Es muss irgendwie links sein, was wiederum für die Stabilität der Unterscheidung spricht.

Was der Links-rechts-Unterscheidung widerfährt, passiert auch anderen Unterscheidungen, wie es in diesem Heft vorgeführt wird – und das gemeinsame Ergebnis lautet: Aus dem Unterscheiden gibt es kein Entrinnen. Das gilt auch für Susan Sontag. Ihre Notizen über einen damals sehr umstrittenen Besuch 1968 in Hanoi, in Nordvietnam, sind geprägt davon. »Hier ist alles schwarz-weiß«, schreibt sie, und alle Kommunikation wird davon überlagert, alles in diese Eindeutigkeit einzupassen. Dabei ringt Sontag um Nuancen – um Nuancen, die andere Unterscheidungen verlangen als schwarz und weiß. Aber eben auch: Unterscheidungen, einen eigenen Blick.

Mit dem Kursbuch 173 beginnen wir unseren zweiten Jahrgang. Wir stellen ab sofort von drei auf vier Hefte im Jahr um, so dass das nächste Kursbuch, das Kursbuch 174, bereits im Juni 2013 erscheinen wird. Es ist Wahljahr, deshalb wird das Heft den Titel tragen Richtig wählen – eine kleine Wahlhilfe, die aber nicht weiterhelfen soll, sondern nur zeigt, warum Wählen nicht einfach ist. Letztlich geht es auch hier ums Unterscheiden.

War noch was? Ja, unsere Kunststrecke. Wir sind sehr froh, die acht Bilder von HP Feldmann präsentieren zu können. Sie tragen keinen Titel. Schließlich ist Feldmann ein entschiedener Gegner jeder Form von International Art English. Sie werden nicht kommentiert. Auch nicht im Editorial. Nur dies: Lassen Sie sich von den Unterscheidungen in Ihrem Kopf überraschen, wenn Sie die Bilder sehen. Ein paar davon kann ich mir schon vorstellen. Und dann unterscheiden Sie mal anders.