Am 1. Mai etwas über Arbeit? Muss wohl! Hinter all den Kulturkämpfen und Verunsicherungen der gegenwärtigen Zeit stehen auch Ahnungen darüber, wie sich der Zusammenhang von Arbeit und Einkommen, die Frage nach verfügbarer Arbeit und nicht zuletzt die Frage des Beitrages der Arbeitenden an der Wertschöpfung und der Mehrwertproduktion verändert.
Am 1. Mai etwas über entfremdete Arbeit? Muss wohl auch! Hier geht es mir nun weniger um die Arbeitsbedingungen, sondern eher um das grundlegende Verhältnis von Arbeit und Produzent. Am 1. Mai mit Reminiszenz an Karl Marx? Muss wohl erst recht!
Marx hat in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 entfremdete Arbeit noch so definiert, dass der Arbeiter einem Produkt gegenübersteht, das nichts mit ihm zu tun hat und nicht seine Bedürfnisse, sondern die anderer befriedigt. Es ging Marx hier noch um die Entfremdung des Menschen von seinem Mensch-Sein.
In der Konsequenz stand hier noch nicht Kapitalismuskritik im Vordergrund, sondern eine Kritik an der Unübersichtlichkeit der arbeitsteiliger werdenden Maschinerie. Später, im Kapital, spielten dann weniger die Arbeit selbst als die Produktionsverhältnisse eine Rolle. Entfremdung war Marx dann nur noch ein eher abstrakter, philosophischer Begriff, nun ging es eher um die gesellschaftliche Arbeitsteilung mit ihren Folgen für Besitzverhältnisse und Klassenbildung. Letztlich wurde Arbeit damit in die zweite Reihe verschoben, die Verhältnisse dafür in die erste. Arbeit selbst gerann zur gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen, gerahmt durch jene Verhältnisse, in denen sie stattfindet.
Vielleicht erfordert es nun die vierte industrielle Revolution, die sich ankündigt und in vielen Bereichen bereits Wirklichkeit wird, der Arbeit wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Im 19. Jahrhundert und in der klassischen Industriegesellschaft war die Maschinerie gewissermaßen die Verlängerung der menschlichen Arbeitskraft – oder diese die Verlängerung jener. Entfremdung entstammte paradoxerweise der Ähnlichkeit der Tätigkeiten, nur dass die Maschinerie eben skalierbare menschliche Arbeitskraft war, zumindest in dem Sinne, dass die Produkte eine Sichtbarkeit und ostentative Form hatten, dass sie für viele womöglich als äußerlich erschienen, nicht aber als völlig fremd. Deshalb hat Marx in seinem späteren Werk Entfremdung tatsächlich weniger auf die Arbeit selbst als auf die Eigentumsverhältnisse und deren Folgen für Arbeit bezogen.
Die dritte und die vierte industrielle Revolution – also die Automatisierung der Datenverarbeitung und Produktion als dritte und die selbstlernende und sich selbst steuernde Form der Datenverarbeitung und Produktion als vierte industrielle Revolution – haben eine ganz andere Art der Entfremdung hervorgebracht. Der Ort, an dem wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Mehrwert produziert wird, ist der Tätigkeit des konkreten Menschen tatsächlich äußerlich geworden. Nicht weil die Produkte ihm äußerlich seien, sondern weil die Rekombination von Daten eine epistemologische Ebene erzeugt, die für das menschliche Bewusstsein nicht zu erfassen ist.
Der Computer ist eine Maschine, die Daten miteinander rekombiniert und Muster entdeckt, die nicht nur dem natürlichen Bewusstsein entzogen sind, sondern auch die Fragen bisweilen erst während des Prozesses ihrer Beantwortung sichtbar macht. War die klassische europäische Epistemologie und Erkenntnisfrage eine Frage der sachadäquaten Rekonstruktion einer der Erkenntnis gegenüberstehenden Wirklichkeit, entsteht diese Wirklichkeit nun dadurch, dass sich in der Mannigfaltigkeit rekombinierbarer Daten Muster finden lassen, die erst jene Wirklichkeit erzeugen, mit der man dann wissenschaftlich, technisch, medizinisch, ökonomisch, polizeilich, militärisch usw. etwas anfangen kann. Die Grenzen zwischen Erkenntnis und Realgegenstand verschwimmen.
Vielleicht müssen wir beginnen, über jene neue Epistemologie unserer Zeit nachzudenken. Neues kommt durch eine Form der Wahrnehmung in die Welt. Immanuel Kant hat die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke noch durch eine bewusstseinsmäßige Eigenleistung zähmen können, die den logischen Kategorien unserer Welterfahrung entsprach. Dass das ein paradoxes, selbstbezügliches Verfahren war, wusste Kant. Und er fragte nur nach der Bedingung der Möglichkeit jener Erkenntnis, die der erfahrenen Wirklichkeit entsprach. Diese Zeiten sind vorbei. Heute geht es um die Mannigfaltigkeit der Rekombinierbarkeit von Daten und damit der gleichzeitigen Erkenntnis und Erzeugung von Mustern, die nicht nur ontologische Fragen völlig neu stellt, sondern auch die Position des Menschen als Wahrnehmungsmedium konterkariert. Die Arbeit tun inzwischen die epistemischen Maschinen der Mustererkennung – mit ebenso segensreichen wie bedrohlichen Folgen.
Das ist keine entfremdete Arbeit mehr, sondern verfremdende Arbeit. Entfremdung wandelt sich zur Verfremdung – und erzeugt darin Umwelten, deren Kritik und Kontrolle schwieriger geworden sind – schon weil diese Techniken vor allem Kontrolltechniken geworden sind: Es geht um die Kontrolle von Abläufen und Prozessen, von Produktion und Konsumtion, sogar um die Kontrolle der Kontrolleure. Die Entfremdungstheorie für das kybernetische Zeitalter muss erst noch geschrieben werden. Und auch die Theorie jener Verunsicherung, die wir derzeit erleben, wenn es um die Frage geht, wer eigentlich noch was bei der Herstellung von Mehrwert und Wertschöpfung beiträgt.
Am 1. Mai ging es immer um Anerkennungsfragen. Diese haben sich radikalisiert, weil sie, will man es mit Marx ausdrücken, inzwischen sogar das Kapital umgreifen, das nach seiner radikal sogenannten neoliberalen Phase (wenn man darunter die Entgrenzung und den Kontrollverlust von Märkten verstehen will) an sich erleben kann, wie sich die Eigendynamik dieses Geschehens verändert. Fatal ist, dass beide Seiten, Arbeit und Kapital, so und so Betroffene, Anerkennung in neuer nationaler Schließung erproben. Was dem einfachen Mann (um es im Genderkolorit dieses alten Diskurses auszudrücken) die Renationalisierung von Anerkennungsfragen ist, ist dem Kapital (oder, um es im Begriffskolorit des alten Diskurses auszudrücken, seinem staatlichen Büttel) der Protektionismus. Beide Seiten haben versucht, sich in die analogen Welten der Kontrolle und der Kalkulierbarkeit zu retten, statt die neue Epistemologie überhaupt verstehen zu wollen. Das geht so weit, dass viele Linke im Wahlkampf vor der Stichwahl in Frankreich lieber Le Pen ertragen wollen, als sich die Implosion der eigenen Kontrollfantasien einzugestehen. Und es geht so weit, dass die Rechten sich als Anwälte der kleinen Leute gerieren, die sie damit erst recht klein machen. Die praktischen Konfliktlinien liegen inzwischen woanders. Marx hätte das heute womöglich gewusst, weil er die praktischen Antinomien der Arbeit als befreiende und einschränkende Bedingungen kannte.
Darüber muss am Tag der Arbeit nachgedacht werden. In diesem Sinne gilt die alte linke Parole bis heute: „Raus zum ersten Mai!“
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /31, 01. Mai 2017
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