Kursbuch 216 – Editorial

»Anpassung« hat eine schlechte Presse. Die Angepassten sind diejenigen, die sich eben anpassen, statt selbst Akzente zu setzen. Es könnte fast ein Schimpfwort sein, fast ein Synonym für Feigheit, wenigstens Indifferenz, auf jeden Fall referiert es auf Passivität. Und dann kommt das Kursbuch und fordert auch noch auf: Passt euch an! Wie das?

Anpassung scheint nur auf den ersten Blick etwas Passives zu sein. Was fast alle Beiträge dieses Kursbuchs eint, ist der Hinweis darauf, dass Anpassung ein höchst komplexer Vorgang ist, der mehr verdient als jene schlechte Presse, die man ihr im ersten Moment zuspricht. Selbst unter den Herausgebern war es zunächst umstritten, ob man eine solche Aufforderung überhaupt formulieren kann – aber wenn man die Beiträge liest, wird deutlich, dass es einer solchen Aufforderung gar nicht bedarf, weil sie immer schon befolgt wurde: Wir sind immer schon angepasst! Und selbst wenn wir aktiv auf die Dinge zugreifen, gerade nicht angepasst sein wollen, bedarf es einer Anpassung an die Verhältnisse. Ohne adaptives Verhalten und adaptive Strategien keine Überwindung von Anpassung.

Am deutlichsten wird das in dem Beitrag von Joachim Müller-Jung, der die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Anpassungsmöglichkeiten an Klimawandelfolgen auslotet. Ein weiteres Motiv der Beiträge besteht darin, dass gar nicht immer ausgemacht ist, welche Seite sich an welche anpasst, kybernetisch gesprochen hieße das: wer Kontrolleur ist und wer Objekt der Kontrolle. Frauke Kreuter etwa fragt in ihrem Beitrag, wie sich künstliche Intelligenz und die Gesellschaft zueinander verhalten. Sie diagnostiziert letztlich wechselseitige Anpassungsverhältnisse. Und Hans-Otto Thomashoff zeigt, dass Konflikte, binäre Schemata, Freund/Feind-Unterscheidungen, überhaupt soziale Interaktion stets mit mutuellen Anpassungsleistungen zu tun haben, die sich derart stabilisieren können, dass es daraus innerhalb dieser Dynamik keinen Ausweg gibt – es sei denn, es gibt die Chance, diese Form reflexiv sichtbar zu machen. Auch mein eigener Beitrag setzt an dem Gedanken an, dass Anpassung selbst ein aktiver Vorgang ist und die Komplexität von Innen-Außen-Verhältnissen berücksichtigt werden muss.

Sibylle Anderl erhöht dann das Komplexitätsniveau noch, indem sie auf nichtlineare Formen der Ordnungsbildung aufmerksam macht, auf Feedbackschleifen und darauf, dass es evolutionär geradezu naturgesetzlich zu Komplexitätssteigerungen kommt. In eine ähnliche Richtung weist das Gespräch, das wir mit der Paläoklimatologin Madelaine Böhme geführt haben. Auch hier geht es um Feedbackphänomene, um Rückkopplungen und evolutionäre Eigendynamik – und um mehr Demut bei der Erkenntnis. Sie zeigt, dass es in der Erdgeschichte schon öfter Erwärmungsphasen gegeben hat – und wie sich diese zu der gegenwärtigen menschengemachten verhalten.

Wieder haben wir Autorinnen und Autoren um kurze Intermezzi gebeten. Die Intermezzo-Frage lautete diesmal Wie angepasst sind Sie? Und wieder sind sehr unterschiedliche Texte entstanden, diesmal von Katharina Berger, Juliane Engel, Suzanna Randall, Irmhild Saake und Philipp Staab. Das Intermezzo von Olaf Unverzart besteht aus acht Fotografien mit an ihre Umwelt adaptierten Motiven.

Die Grafiken von Jan Schwochow zeigen diesmal die Entwicklung der Weltbevölkerung von 1950 bis 2021, die in diesen 71 Jahren von circa 2,5 auf fast acht Milliarden Menschen gestiegen ist. Schlüsselt man dieses Wachstum nicht nur nach Altersgruppen, sondern auch nach Kontinenten auf, stellt sich ein erheblich differenzierteres und vielfältigeres Bild dar, vor allem im Hinblick auf mögliche Prognosen der Weiterentwicklung. Die Frage, wie dieses Bevölkerungswachstum, das in den nächsten 40 Jahren circa zehn Milliarden Menschen aufweisen wird, sich an die nicht wachsende Erde anpassen wird oder diese an die hohe Bevölkerungszahl, lässt sich den Grafiken nicht entnehmen – aber dass es zu Anpassungsnotwendigkeiten kommen wird und muss, wird hier ästhetisch sehr ansichtig.

Sehr freuen wir uns wieder über das nunmehr neunte Islandtief von Berit Glanz, die diesmal auf die Flüchtigkeit menschengemachter Bauwerke im Angesicht der sie transzendierenden Zeitdimension der Natur aufmerksam macht.

Wirklich bemerkenswert ist Peter Felixbergers FLXX-Kolumne. Er zeigt, zum Teil persönlich erfahrungsgesättigt, wie sich mit der Distribution von Waren und Inhalten im Netz nicht nur die Vertriebswege verändern und das Angebot erhöht. Er zeigt, dass mit der Anpassung des Marktes an die Möglichkeiten des Internethandels die Eigendynamik Marktentwicklungen in Richtung Diversifikation und Pluralität verschiebt. Diese Anpassungsleistung dekonstruiert zugleich den Mythos der Planbarkeit und Kontrolle solcher Märkte. Peter schreibt: »Denn Wikinomics entzauberte den Mythos des Genies in der Chefetage oder des Kapitäns auf der Kommandobrücke eines Unternehmens. Besser herrscht transparente Unübersichtlichkeit als jene vornehme Verschwiegenheit der diskreten Gesellschaft.« Anders gewendet: Das komplexe Geschehen der Welt von Amazon und Co. wird nicht passend gemacht, es formt sich in einer Dynamik der Selbstanpassung.

Spätestens damit sollte erwiesen sein, dass die schlechte Presse von »Anpassung« völlig unverdient ist. Passt euch an! ist tatsächlich eine Anweisung, die immer schon erfüllt wurde, sobald irgendetwas geschieht. Die Frage ist nur, wie. Denn das gilt nicht nur für Anpasser.

Armin Nassehi, Kursbuch 216

Editorial

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