„Bei der Rente muss jetzt etwas passieren“, sagt die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer. Die neuerliche Debatte um ein Koppeln des Renteneintrittsalters mit der steigenden Lebenserwartung schreckt die Babyboomer auf. Da darf der Montagsblock mit zwei alternden Boomerautoren nicht schweigen.
Blick zurück nach vorne: Als die Bundesrepublik in den 1950er Jahren nachdachte, wie man den Volksakku wieder mit Zuversicht aufladen könnte, zogen die Verantwortlichen den ewig jungen Joker aus dem Schatzkästchen der Belohnungen: Wohlstand! Besserer Lebensstandard und größeres Vermögen wurden kollektiv versprochen, wenn alle mit ganzer Kraft am Wiederaufbau mitwirkten. Das ließen sich die Leute nicht zweimal sagen. Sie hörten den neuen Klang der Fanfaren und begannen mit unglaublichem Fleiß und klagloser Disziplin die Trümmer des „tausendjährigen Reiches“ beiseitezuschieben. Und weil man sich am Feierabend die Frage stellte, wofür das Ganze, versprach Adenauer nicht nur Wohlstand für alle, sondern gleich auch noch Ruhe – politisch und im Alter. Die Zukunft sollte möglichst risikoarm vorkonfiguriert werden. Mit den weiteren Aussichten: Ein Leben lang für den Wohlstand arbeiten. Dann ruhen in Sicherheit und Frieden!
Adenauer benutzte für diese kollektive Anästhesie einen sozialpolitischen Trick: Er koppelte die Renten an die Lohnentwicklung. Das Motto: Wohlstand heute – Wohlstand morgen. Der Anreiz, mit Leistung und Fleiß ein Vermögen im Hier und Jetzt zu scheffeln, wurde mit sozialer Absicherung im Alter belohnt. Das Versprechen wurde zur Volksdroge. Schnell war eine ganze Nation abhängig. Nie mehr würde die Sonne des Wohlstands in der neuen Republik untergehen. Mittelklassewagen, Eigenheim, hohe Rente. Der Dreisprung des alten bundesrepublikanischen Wohlstandsmodells hielt Arbeits- und Lebensfreude hoch. Dieser lineare Pfad des Wohlstands überdauerte Jahrzehnte. Jede Bundesregierung hielt sich eng an Adenauers Versprechen und diente dem Volk als staatlicher Rückversicherer: Ihr schuftet, wir sichern ab.
Es war fraglos eine bemerkenswerte gesellschaftliche Leistung, das Wohlstandsspiel bis heute hinüberzuretten. Doch es hatte von Anfang an drei Haken. Erstens fragte sich der und die Fleißige irgendwann, ob ihm oder ihr der angehäufte Wohlstand überhaupt ausreichen würde. Zweitens fragte er oder sie sich irgendwann, warum und für was und wen man sich eigentlich abstrample. Und drittens bemerkte der und die Fleißige irgendwann, dass Adenauer längst tot war und ein ganzes Volk in Sachen Wohlstand immer unsicherer wurde.
Ja, die Frage nach der aktuellen Codierung des Wohlstands wird schwieriger. Nehmen wir zum besseren Ausloten eine Kuh. Sie steht im günstigsten Fall auf der Weide, frisst Gras, kaut wieder und lässt Verdautes auf dem Acker zurück. Ihre Grundbedürfnisse sind leicht zu befriedigen. Die Kuh weiß, was ihr guttut. Ein Leben lang. Fressen und Scheißen sorgen für das richtige Maß an Wohlbefinden, Wohlbehagen und Wohlergehen. Glückliche Kühe, sagt man, wenn man an einer Weide vorbeiradelt.
Der Mensch im ersten Lebensjahr tickt überwiegend ähnlich. Dann aber beginnt für jeden Erdling das Lernen. Was dummerweise ein ganzes Leben dauert. Die Fragen des Lebens beginnen uns fortan mehr oder weniger heftig zu bedrängen. Was tut mir gut, was will ich werden, was nehme ich mir vor? Mit diesen Fragen grenzen wir uns von der Kuh ab. Denn nun feilen wir am Gelingen unseres Lebens. Wir selbst können und dürfen das so lange, wie uns keiner daran hindert.
Wohlstand heute bedeutet womöglich etwas anderes. Zum Beispiel, dass jedem sein oder ihr Leben besser gelingen mag. Und zwar auf die eigene, spezielle Art und Weise. Nehmen wir, um es besser zu verstehen, noch ein Schwein dazu. Es ist dem Menschen sehr ähnlich. Als Jungtier ist es bewegungsfreudig, im Alter eher träge. Es braucht viel Auslauf und Abkühlung, und es wird im Erwachsenenalter bisweilen fremdenfeindlich. Trifft es einen Fremden, kann dieser übel malträtiert und gebissen werden. Keiner aber fragt ein Schwein, ob es sich auf den von der EU zugelassenen 0,75 Quadratmetern in der Mastschweinezucht wohlfühle. Wir ahnen es: Tut es nicht. Keinem Schwein gelingt mehr ein gutes Leben. Arme Schweine, sagt man, wenn man eine Mastfabrik sieht.
Wohlstand bezieht sich bei „Wohlhabenden mit ethischer Girlandenflechterei“ auch auf die Freiheit, über seine Zeit so zu verfügen, wie man will. Das kann sehr unterschiedliche Züge annehmen. Nehmen wir beispielsweise zwei arbeitende Menschen: Person A jagt von einer Besprechung zur nächsten. Kurze Mittagspause. Am Abend der erste Blick auf die Uhr. »Oh, schon 17 Uhr. Die Zeit ist wie im Fluge vergangen.« Person B hatte in der gleichen Zeit kaum etwas zu tun, hat die Mittagspause herbeigesehnt und die Sekunden gezählt, dass sie um 17 Uhr nach Hause gehen kann. Beide haben gleich viel Zeit verbraucht, aber unterschiedlich wahrgenommen. A hat etwas Interessantes erlebt, die Zeit verging rasch. B hat nichts erlebt, die Zeit wurde ihr ewig lang. In der Psychologie bezeichnet man dies als subjektives Zeitparadoxon: Ist die erfahrene Zeit kurzweilig, wird die Zeit der Erinnerung lang, ist sie dagegen langweilig, schrumpft die Erinnerungszeit.
Wohlstand bedeutet in der aktuellen Renteninszenierung, kurzweilig Zeit zu verbringen und sich daran lange zu erinnern. In den nächsten Jahren werden die Babyboomer in Rente gehen (auch wenn gerade das Renteneintrittsalter wieder nach oben gedrückt werden dürfte) und sich an Adenauers friedliches Rentnerschlummer-Versprechen erinnern. Man darf gespannt sein, wohin die Wohlstandsreise gehen wird.
Peter Felixberger, Montagsblock /247
13. November 2023