Wie vorauszusehen, erzeugt die massive Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas unerträgliche Bilder, Tod und Leid – Ergebnis eines unfassbaren Dilemmas. All das wird breit diskutiert. In der Diskussion um die angemessene Beurteilung der Reaktion der israelischen Armee kommt es zu einer merkwürdigen Konstellation, die gerade Stellungnahmen aus Deutschland die Urteilskraft geradezu abspricht. Es ist ein psychologisierendes Argument, man könne in Deutschland nicht frei reden, sei gerade wegen der eigenen Geschichte nicht in der Lage, Israels Anteil an dem Geschehen angemessen zu beurteilen. Der Höhepunkt dieses Diskurses ist wohl der Schlachtruf, der insbesondere von linken Sympathisanten der Palästinenser und am Ende auch der Hamas zu hören ist: „Free Palestine from German guilt!“
In etwas akademischerer Diktion wird diese Parole vor allem von Judith Butler betont, die sich gerade gerne als Opfer der deutschen Presse geriert. In einem Interview betont sie ihre Schwierigkeiten so: „Ein Grund, warum es für mich schwierig ist, der deutschen Presse Interviews zu geben, ist, dass es nicht viele gemeinsame Annahmen zwischen dem deutschen Diskurs und dem Rest der internationalen Gemeinschaft gibt. Viele Deutsche reagieren reflexartig, indem sie Israel bedingungslos unterstützen, aus Angst, dass jede Kritik ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Weil es wichtig ist, seine Unterstützung für Israel zu signalisieren, stellt man sich die Frage: Wer ist schuld? Und dann muss die Antwort lauten: die eine oder die andere Partei. Wenn man sich für die eine Seite entscheidet, ist man ein Antisemit, wenn man sich für die andere Seite entscheidet, hat man sich erfolgreich gegen den Vorwurf des Antisemitismus gewehrt.“
Das hört sich ein wenig so an wie der Kommentar über den „Judenknax“ der Deutschen – ganz zu Beginn des deutschen Linksterrorismus Ende der 1960er Jahre. Von jenem „Judenknax“ wollte Dieter Kunzelmann die deutsche Linke befreien – und zwar mit einem Bombenanschlag auf das Haus der jüdischen Gemeinde in Berlin-Charlottenburg, wo am 9. November 1969 eine Gedenkveranstaltung in Anwesenheit von zirka 250 Personen stattfinden sollte. Ein korrodierter Draht hat die Katastrophe verhindert. Den Vorwurf des Judenknaxes gibt es immer noch.
Man muss für das Interview von Butler dankbar sein, bringt es doch die „Ja, aber“-Haltung derer perfekt zum Ausdruck, die in dem Angriff der Hamas eine mit Restlegitimation ausgestattete Reaktion auf etwas ansehen, was nicht am, sondern lange vor dem 7. Oktober 2023 begonnen habe. Dass der so genannte „Nahostkonflikt“ eine längere Geschichte hat, ist bekannt – aber es wird insinuiert, als sei die sehr schwierige Gemengelage in der Levante ausschließlich das Ergebnis einer israelischen „Kolonial“-Strategie und die Reaktion der Hamas fast so etwas wie eine natürliche Reaktion. Natürlich werden die „begangenen Gräueltaten … entsetzlich“ genannt und „können weder hingenommen noch rationalisiert werden“, aber irgendwie erfolgt die Rationalisierung doch auf dem Fuße, denn Butler kann die „Geschichte“, die sie da vorführt, nur als Kausalbeziehung erzählen.
Interessant ist daran, dass nicht nur den Deutschen ein rationales Verhältnis zum Problem abgesprochen wird. Es werden auch die Palästinenser als Leute beschrieben, die offensichtlich nicht anders konnten – noch deutlicher kann man Leute nicht als impotent oder zu angemessenen Urteilen nicht fähigen Akteuren erklären.
An einer Stelle hat Butler Recht: Eine völlig unkritische und ausschließlich affirmierende Haltung Israel gegenüber kommt (auch in Deutschland) durchaus vor. Sie ist falsch – und sie unterschreitet die Möglichkeiten Israels selbst. Das Land hat in den letzten Monaten bis zur Zerreißprobe über Fragen gerungen, die mit der Siedlungspolitik und der Radikalisierung von Siedlern zu tun haben, mit der Interethnik im Land und der interreligiösen Konstellation, aber auch mit dem Status als Rechtsstaat, als demokratischer Rechtsstaat. Und die Opposition hat eine Regierung kritisiert, die ganz offensichtlich, ähnlich wie in anderen demokratischen Staaten auch in Europa, nicht lassen konnte, die Institutionen des Rechtsstaates beschädigen zu wollen.
Der kleine, aber feine Unterschied ist der, dass diese Kritik in Israel möglich ist, dass dagegen demonstriert werden konnte, dass nach dem Angriff der Hamas die Regierung zugeben musste, nicht einmal militärisch angemessen vorbereitet gewesen zu sein. All das sind Dinge, die es im Hoheitsbereich der palästinensischen Selbstverwaltung nicht gegeben hat und auch nicht geben konnte. Gaza wurde nach dem Rückzug Israels 2005 nicht alleingelassen – aber alle internationalen Unterstützungsmaßnahmen (auch deutsche) verpufften ganz offensichtlich, gerade, weil dort nicht einmal Spuren demokratischer, rechtsstaatlicher und öffentlicher Kritik und Selbstkritik möglich waren. Ganz offensichtlich war am Ende die Feindschaft gegen Israel (auch aus Frust gegenüber den eigenen arabischen Bruderstaaten) größer als der Wille, von einer reinen Kriegs- und Widerstandsökonomie und -kultur darauf umzustellen, belastbare Strukturen aufzubauen. Die Hamas ist neben allem anderen auch ein Geschäftsmodell.
All das kann man nicht sehen, wenn man den einen einen Judenknax nachsagt, die anderen nur als reagierende Opfer ohne Handlungsspielräume sieht. Butler wirft Israel nach dem derzeitigen rechtfertigenden Sprachgebrauch sogar einen „Völkermord“ an den Palästinensern vor – unter Zitation der einzigen korrekten Definition des Begriffs. Ein Genozid geschieht „in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten“ – sollte Butler tatsächlich meinen, dass das das derzeitige Ziel Israels ist, muss man sich fragen, ob die Autorin nicht ihrerseits einen „Israelknax“ hat. Ich weiß, dass das ein riskanter Satz ist, wenn er von einem katholischen Deutschen an die Adresse einer jüdischen Amerikanerin gerichtet ist. Aber man darf sich schon fragen, wie eine solche Einschätzung zustandekommt – von einer Person, die ihr Geld mit Argumenten verdient und als Philosophin gilt.
Vielleicht ist alles viel schlichter. Israel steht am Ende für ein bestimmtes linkes Milieu nur für alles, was westliche Linke verachten: für den Westen, für dessen Kolonialgeschichte, für den Kapitalismus und eine Form des Pluralismus, der offensichtlich schwer auszuhalten ist. Ich habe schon öfter auf Eva Illouz‘ Bruch mit diesem Milieu in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Oktober 2023 hingewiesen, die diesen Linken die Anerkennung verweigert.
Israel steckt in einem schrecklichen Dilemma – ob die Reaktion auf den Angriff wirklich verhältnismäßig ist und wem man die unfassbare Anzahl von zivilen Opfern zurechnen muss, ist schwer zu überblicken. Es gibt nicht die geringste prinzipielle Rechtfertigung, unschuldige tote Zivilisten israelischer oder palästinensischer Provenienz ethisch ungleich zu behandeln. Aber genau das macht ja das ethische und politische Dilemma Israels aus, das kein Dilemma wäre, würde es daraus einen einfachen Ausweg geben. Ein sehr großer Teil palästinensischer Opfer geht jedenfalls auf die unmittelbare Strategie der Hamas-Führung zurück, die eigenen Leute als Faustpfand und Zielscheibe einzusetzen.
Und doch besteht das Dilemma, und es ist von herzzerreißender Radikalität. Dem Gerede von Butler über Leid und Trauer jedenfalls ist nicht zu trauen. Sie redet davon, dass man die Sache nicht am 7. Oktober beginnen lassen darf, sondern eine Geschichte erzählen muss. Es ist freilich bei ihr eine Geschichte, die weniger eine innerweltliche Geschichte ist, sondern eine, die sich fast in eschatologischen Höhen bewegt. Es geht um die Gesamtaufrechnung von Leid überhaupt – und da schrumpfen die aktuellen Ereignisse zu einer Episode zusammen. Israel als Projektionsfläche bietet sich dafür hervorragend an. Aber wie heißt es am Ende des 130. Psalms, dem De profundis: „Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.“
Armin Nassehi, Montagsblock /248
20. November 2023