In der Pandemie wünschen sich alle »Normalität« zurück, und wenn es auch nur ein new normal werden sollte. Sogar Hoffnung gibt es, dass es eine bessere Normalität wird, die uns postpandemisch (und dann wohl präexzeptionell) ins Haus steht. Diese Annahme oder Hoffnung hat einen blinden Fleck: die Bedingungen dessen nämlich, was als »Normalität« durchgeht. Wenn es ein Signum dessen gibt, was man mit dem allzu großen Begriff »Moderne« verbindet, dann doch wohl, dass alles, was ist, auch anders sein könnte. Nichts ist notwendigerweise so, wie es ist – schon weil es historisch geworden ist und anders ausgehen hätte können und weil es von unterschiedlichen Positionen ganz unterschiedlich beschrieben werden kann.
»Normalität« ist nur ein Zustand, der eine Ausnahme davon darstellt, wie es hätte sein können. »Normalität« hört sich an, als bezeichne sie einen unproblematischen Zustand, womöglich sogar einen normativ wünschenswerten. Man muss nicht lange hinschauen, um einen Eindruck davon zu bekommen, dass dies eine gewagte These wäre. Deshalb kommen wir nicht umhin, eben kein Kursbuch darüber zu machen, wie wir endlich wieder in normale Verhältnisse zurückkehren oder wie diese neue Normalität aussehen könnte oder sollte. Nein, wir haben ein Kursbuch gemacht, in dem es um die Bedingungen von Normalisierung geht, um das Verhältnis von Normalität und ihrem Gegenüber, über das Verhältnis von Ausnahmezustand und Normalität, um den Ausnahmezustand Normalität.
Die Beiträge dieses Kursbuchs gehen diesem Verhältnis auf verschiedenen Feldern nach – in Bezug auf jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland, auf den Kampf ums sprachliche Gendern, auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft und des Autismus. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie sich auf das Spiel erst gar nicht einlassen, den Ausnahmezustand durch eine wie auch immer geartete Normalität heilen zu wollen. Horst Bredekamp etwa pocht auf den Ausnahmezustand, den das ästhetische Erleben hervorbringen kann, Carolin Müller-Spitzer macht deutlich, dass die Herstellung sprachlicher Normalzustände eine Machtfrage ist, Leonhard Schilbach zeigt am Beispiel des Autismus, wie arbiträr und kontingent Vorstellungen sozialer Normalität sind, Sibylle Anderl macht auf den revisionsfähigen Status aller normalwissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten aufmerksam. Und Levi Israel Ufferfilge beschreibt an jüdischen Schulen einen drastischen Fall eines Ausnahmezustands Normalität als Insel in permanentem Anderssein. Er schreibt: »Weniger Sicherheit wäre fahrlässig, keine Sicherheit unmöglich. Keine jüdischen Schulen mehr? Dann könnten jüdische Schüler nie einmal eine Pause davon haben, eine Minderheit zu sein, nie erfahren, so wie alle anderen Anwesenden zu sein.«
Die sieben Intermezzi beantworten die Frage »Wann wurde für Sie aus einem Ausnahmezustand Normalität?« Wir freuen uns sehr, dass sich die Autorinnen und Autoren auf diese Frage eingelassen haben.
Heike Littgers »Lagerfeuer« rekonstruiert den Ausnahmezustand Normalität mit der Geschichte von Aids/HIV und der Vielfalt von migrantischen Normalitäten – als Ausnahmezustand. Berit Glanz’ zweite Kolumne »Islandtief« beschäftigt sich mit der medial vermittelten Form der Naturbeobachtung am Beispiel von Vulkanausbrüchen und führt von Island aus um den ganzen Globus. Und dass Covid wirklich nicht normal ist, zeigt Jan Schwochow in zwei Grafiken über die Sterblichkeit der Seuche.
Peter Felixberger ist diesmal mit der FLXX-Maschine zum Planeten »Politische Macht – PM001« unterwegs. Erstaunlich, wem er da alles begegnet, und kein Wunder, dass Hin- und Rückflug ins Trudeln geraten.
Armin Nassehi
Kursbuch 209, Editorial