Vorletzten Mittwoch bekam ich ein positives PCR-Testergebnis zugestellt. Ich lag noch im Bett, als ich das PDF des Labors zu früher Morgenstunde öffnete. „Positiv“. Mist, das Virus hat mich doch noch gekapert, dachte ich. Gleichzeitig befiel mich das befreiende Gefühl, endlich zum persönlichen Ringkampf schreiten zu können. So lange tänzelte das Virus schon in meinem Alltag als abstrakte Größe herum. Und ich war ständig in der Vorsicht, es nicht aerosol zu inhalieren oder ihm sonstwie Zugang zu verschaffen. Ein seltsames Gefühl. Irgendwie war mir das Virus plötzlich nicht mehr so fremd, in diesem frühmorgendlichen Augenblick, als ich es per Ct-Wert ganz offiziell in meinem Körper eingedrungen bestätigt bekam.
„Hallo Omikron, schon viel von Dir gehört“, begann ich einen Dialog mit dem Fremden. „Aber auch wenn du dich jetzt ansiedeln möchtest, werde ich alles tun, sorry, dass du hier keine weiteren Entfaltungsmöglichkeiten erhältst. Freunde werden wir nicht werden.“ Leider war das Virus nicht besonders gesprächsbereit, sondern versuchte, mich ohne gemeinsame Gesprächsbasis hinterrücks niederzustrecken. Ich empfand das ebenso als unfreundlichen Akt und schaltete in den Fremdenfeind-Modus. Und so beobachtete ich Omikron fiktiv bei seinen kleinen Vermehrungs- und Okkupationsspielchen. Ein kleines, kluges Lebewesen – das erkannte ich schnell.
Kommunikativ brodelte es in mir. Zur Sicherheit rief ich bei den Antivirus-Einheiten im internen Ministerium für Körperschutz an. Dort war bereits ein Krisenstab gebildet worden. Alle Abwehrkräfte saßen in Minutenschnelle am Tisch. Ein Beamter aus dem Arbeitsgedächtnis im Gehirn stellte jüngste Studien vor, erläuterte den Zusammenhang zwischen Viruslast und Erkrankung. Ein Vertreter der schnellen Eingreiftruppe präsentierte ein Video über Antikörper und ihr spezielles Waffenarsenal. Und die Frauenministerin berichtete über die gleichzeitige Infektion meiner Frau und der sich daraus ableitenden gemeinsamen Quarantäne. Unisono kamen wir zu dem Ergebnis: „Höchste Fremdenfeindlichkeit ist das Gebot der Stunde. Wer jetzt noch Verständnis zeigt, bringt sich in Gefahr. Man dürfe keine Gefangenen machen. Das Virus muss getötet werden.“
In der Isolation kam ich ob dieses Unsinns kurzfristig ins Grübeln. Seit vielen Jahren predige ich, das Fremde in Wirtschaft und Gesellschaft anzunehmen, es als Bereicherung zu integrieren und damit neue Qualitäten zu prägen. Neue Ressourcen und Fähigkeiten, so eine meiner Gebetsmühlen, ermöglichen notwendige Transformation und Wandel. Autoinfektiologisch war ich indes ganz anders drauf. Durch Omikron war ich zum vorübergehenden „Fremdenfeind“ des Virus geworden.
Schnell zurück auf festen Untergrund: Ein fremder Mensch ist kein tödliches Virus, das mich bedroht. Migrationssoziologisch bleibt ein Fremder jemand, der kommen und bleiben darf. Der berühmte Soziologe Georg Simmel hat vor über hundert Jahren einen „Exkurs über den Fremden“ veröffentlicht. Für ihn ist das Fremde eine soziale Wechselwirkung, deshalb „sind uns die Bewohner des Sirius eigentlich nicht fremd“. Wider besseres Wissen hatte mich das Virus emotional auf eine andere Umlaufbahn gedrückt.
Heute, zwei Wochen später, ist mein Ausflug ins rätselhafte Omikron beendet. Milde Symptome, sagte ich dem Mann im Gesundheitsamt. Der Krisenstab hat sich wieder aufgelöst. Und meine kleine Fremdenfeindverirrung ist wieder verschwunden. Ciao, Omikron, nice having met you, once!