Montagsblock /159

Vor einigen Wochen führte ich im Oldenburger Horst-Janssen-Museum ein Gespräch mit der Künstlerin Nanne Meyer, deren Ausstellung “ÜberAll” die Ergebnisse ihrer Auseinandersetzung mit astronomischen und kosmologischen Themen zeigt. Nanne Meyer zeichnet und malt und collagiert, und ihr Werk ist so vielfältig, dass ich gar nicht erst versuchen werde, es hier zu beschreiben. Durchgängiges Motiv in ihrer Auseinandersetzung mit dem Weltall ist aber eine sehr humorvolle Respektlosigkeit, indem wissenschaftliche Motive mit Alltagsobjekten und Wortspielen kombiniert werden, so dass man stets zwischen Bekanntem und Irritierendem in staunend-amüsiertem Unverständnis gelassen wird. Das Weltall sei für sie mit ihrem endlichen menschlichen Geist einfach so schwer zu fassen und zu verstehen, dass sie nicht anders könne, als sich ihm im künstlerischen Schaffen aus ihrem Alltag heraus zu nähern, sagte sie mir. Und darin schien gleichzeitig die Vorstellung mitzuschwingen, dass wir Astrophysiker das ja ganz anders handhaben können mit unseren Formeln und Modellen.

Tatsächlich tun wir das ja auch, und in der mathematischen Beschreibung kosmischer Phänomene liegt auch immer eine gewisse Beruhigung, dass man sich auf die Naturgesetze auch in den Fällen noch verlassen kann, in denen unsere menschliche Anschauung sich auf höchst unsicherem Terrain befindet. Wer einmal die Schwarzschildmetrik aus den Einsteinschen Feldgleichungen abgeleitet hat, hat vielleicht das Gefühl einer gewissen Vertrautheit mit Schwarzen Löchern entwickelt, auch wenn das nicht viel über unsere Fähigkeit aussagt, uns eine gekrümmte vierdimensionale Raumzeit wirklich vorzustellen. Gleichzeitig ist solch anschauungsfernes unsicheres Terrain aber dasjenige, auf dem die Interpretation des Berechneten ganz besonders reizvoll ist.

In der Oldenburger Ausstellung hängt eine Zeichnung auf schwarzer Pappe, auf der verschiedene kreisrunde Ausstanzungen durch gestrichelte und durchgezogene Linien verbunden sind: Daraus ergibt sich ein großer gestrichelter fast geschlossener Kreis und ein kleiner durchgezogener. Als Legende ist zu lesen, dass die gestrichelte Linie der Zeit und die durchgezogene dem Raum entspreche. Die in dieser technisch anmutenden Zeichnung zum Ausdruck kommende ironische Zuversicht, dass man Raum und Zeit irgendwie zufriedenstellend beschreibend handhaben kann, obwohl das Verständnis nach dem Studium der Zeichnung eher kleiner als größer ist als vorher, hatte mich beim Betrachten sehr erfreut.

Ich musste daran denken, als ich mich aus anderem Anlass in der vergangenen Woche mal wieder intensiver mit der Physik der Zeit beschäftigte. Die liefert ja, wenn man so will, eine Geschichte der Entzauberung unserer menschlichen Zeitwahrnehmung. Einsteins spezielle Relativitätstheorie von 1905 zeigt, dass der Verlauf der Zeit keineswegs universell und gleichmäßig ist, wie das noch Newton annahm. Dass er vielmehr davon abhängt, wie schnell sich Systeme bewegen: Bewegte Uhren gehen langsamer, und wenn sich, wie vor sechs Jahren, ein Nasa-Astronaut ein Jahr lang mit einer Geschwindigkeit von 8 Kilometern pro Sekunde auf der ISS um die Erde bewegt, ist er hinterher einige Millisekunden jünger als sein Zwillingsbruder auf der Erde. Dabei spielt allerdings auch die 1915 veröffentlichte Allgemeine Relativitätstheorie eine Rolle, der gemäß die Zeit in stärkeren Gravitationsfeldern langsamer vergeht. Das macht die Geschwindigkeitsverjüngung des Raumstation-Zwillings ein Stück weit rückgängig, da er sich in 400 Kilometern Höhe in einem rund 10 Prozent schwächeren Gravitationsfeld befindet. Das alles ist mittlerweile experimentell gut belegt. Unsere Navigationssysteme würden nicht funktionieren, wenn diese Effekte bei der Programmierung der genutzten Satelliten nicht berücksichtigt würden.

Die Konsequenzen daraus bleiben schwer zu fassen: Es gibt keine universelle Gegenwart mehr. Dass wir Menschen mit diesem Konzept so erfolgreich operieren, liegt kurz gesagt einfach nur daran, dass wir uns gemeinsam so einheitlich durchs All bewegen und uns in einer so kleinen Raumzeitregion im Kosmos aufhalten. Die Frage, was “jetzt” gerade in der Galaxie M33 passiert, ist dagegen sinnlos. Aktuelle Ereignisse dort liegen raumartig zu uns und stehen daher zu dem, was bei uns passiert, in keiner eindeutigen zeitlichen Ordnung. Einstein selbst war über den Verlust der Gegenwart im klassischen Sinne angeblich sehr betrübt. Dass sich unsere menschliche Grunderfahrung, dass der aktuelle Moment der Gegenwart eine ausgezeichnete Zeitmarke als Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit darstellt, so nicht in der Physik wiederfindet, ist mindestens seltsam. Es hat aber auch metaphysische Konsequenzen: Neben gegenwärtigen müssen auch zukünftige Ereignisse existieren, wenn Zukunfts-Zeitreisen möglich sind. Und dass sie möglich sind, zeigt ja schließlich Einstein: Wer sich in die Nähe eines Schwarzen Lochs begibt und zur Erde zurückkehrt, wird dort mit der Situation konfrontiert sein, dass viel Zeit vergangen ist und alle Altersgenossen lange tot sind — der Raumfahrer ist in diesem Sinne in die Zukunft gereist.

Der Logiker Kurt Gödel diskutierte die Konsequenzen der Relativitätstheorie in Princeton mit Einsteins und wies früh darauf hin, dass auch Reisen in die Vergangenheit gemäß der Theorie möglich seien. Technisch gesagt: Es gibt in der Allgemeinen Relativitätstheorie geschlossene zeitartige Kurven im vierdimensionalen Raum. Das hieße aber auch, dass neben zukünftigen auch vergangene Ereignisse existieren müssen, schließlich muss es ja das Ziel solcher Reisen geben. Ob solche Reisen in die Zeit auch tatsächlich realisierbar sind, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Der Physiker Kip Thorne, der 2017 den Physik-Nobelpreis für den ersten direkten Nachweis von Gravitationswellen bekommen hat, stellte 1988 in einem Artikel eine Art Bauplan für eine Zeitmaschine auf der Grundlage eines Wurmlochs vor. Ein Wurmloch ist gewissermaßen eine Abkürzung zwischen zwei voneinander entfernten Raumzeitstellen. Albert Einstein und Nathan Rosen hatten 1935 gezeigt, dass man eine solche Raumzeitbrücke theoretisch durch die Kombination eines Schwarzen Lochs mit seinem mathematischen Gegenstück, einem Weißen Loch, erzeugen ließe. Während Schwarze Löcher Dinge anziehen, spucken Weiße Löcher Materie aus.

Kip Thornes Bauplan einer Zeitmaschine funktioniert nun so: Man erzeugt sich ein Wurmloch aus Quantenschaum und vergrößert es auf makroskopische Dimensionen, dann muss man es mithilfe exotischer Materie mit negativer Energiedichte stabilisieren (normalerweise ist es höchst instabil), beschleunigt das eine Ende des Wurmlochs auf fast Lichtgeschwindigkeit (lässt es so also deutlich weniger altern als das andere Ende) und bringt es dann zurück zum anderen Ende — Voilà. Dass so eine Raumzeitstruktur in naher Zukunft herstellbar ist, kann wohl ausgeschlossen werden. Aber wäre das grundsätzlich überhaupt möglich?

Die Frage, ob es nicht doch ein physikalisches Prinzip jenseits der Allgemeinen Relativitätstheorie gibt, das Zeitreisen verbietet, ist nach wie vor offen. Denn andernfalls müsste man überlegen, wie man logisch höchst beunruhigende Konsequenzen wie etwaige Großvatermorde verhindern könnte. Sowieso würde man grundsätzlich ausschließen wollen, dass die Zukunft auf die Vergangenheit wirken kann, dass man also rückwärts gerichtete Kausalität beobachtet. Dass an dieser Front aber alles nach Plan läuft, scheint die Thermodynamik zu verantworten. Denn wenn man sich in der Physik nach Prozessen umsieht, die eine Zeitasymmetrie aufweisen — die also nur vorwärts und nicht rückwärts ablaufen —, dann sind das fast immer Abläufe, in denen Wärme eine Rolle spielt: Die Kaffeetasse, die sich immer abkühlt aber in einem kühlen Zimmer nie spontan zulasten der Zimmertemperatur aufheizt, oder das Badeöl in der Wanne, das sich einmal im Wasser nicht wieder zurück in die Flasche extrahieren lässt. Die ausgezeichnete Richtung dieser Prozesse ergibt sich aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik: Es ist unmöglich, dass spontan Wärme von einem kälteren auf einen wärmeren Körper übergeht. Oder etwas technischer: In einem geschlossenen System nimmt die Gesamtentropie nie ab. Die Richtung der Zeit ist, grob gesprochen, die Richtung zunehmender Entropie. Und Entropie, das wissen wir zumindest umgangssprachlich, ist so etwas wie Unordnung: Eine Badewanne mit Öl im Wasser ist “unordentlicher” als Badewanne plus Öl in der Flasche.

Hier lauert allerdings das nächste Zeiträtsel. Denn die im 19. Jahrhundert im Kontext der Beschreibung von Dampfmaschinen entstandene Thermodynamik ist eine makroskopische Theorie. Sie arbeitet mit statistischen Beschreibungen wie der Temperatur oder dem Druck, die Mittelwert mikroskopischer Eigenschaften — der einzelnen Bewegungen von Gasteilchen etwa — darstellen. Die physikalischen Beschreibungen der mikroskopischen Einzelteilchen selbst sind aber zeitsymmetrisch. Die Schrödingergleichung etwa funktioniert vorwärts wie rückwärts. Woher kommt der Zeitpfeil auf höherer makroskopischer Ebene, wenn er mikroskopisch nicht existiert? Ludwig Boltzmann versuchte das statistisch zu erklären: Unordnung ist statistisch wahrscheinlicher als Ordnung. Mit dieser Einsicht ist man aber nur halb am Ziel, denn auch wenn eine Entwicklung vom Ordentlichen zum Unordentlichen wahrscheinlicher ist, ist die gegenläufige Entwicklung trotzdem auch möglich. Um diese Möglichkeit auszuschließen, muss man sicherstellen, dass die Anfangsbedingungen die richtigen sind: Man muss von etwas Geordnetem starten.

Diesen Job wiederum erledigt global die Kosmologie: Der Urknall hat ein sehr entropiearmes Universum geschaffen (obwohl er das nicht gemusst hätte). Warum das so ist, ob das wirklich eine besondere Anfangsbedingung ist oder Bestandteil eines Naturgesetzes, ist nach wie vor unklar. Dass es so ist, reicht aber erstmal aus, um die Gerichtetheit der Zeit bei allen trotzdem noch offenen Fragen zu erklären. Die Kosmologie erzeugt darüber hinaus durch die Expansion des Weltalls einen “kosmologischen Zeitpfeil”, der es sinnvoll werden lässt, Aussagen zu treffen wie die, dass seit dem Urknall rund 13,8 Milliarden Jahre vergangen sind. Aber auch dieser Zeitpfeil beinhaltet seine ganz eigenen Rätsel. Denn würde die Zeit rückwärts laufen, wenn das Universum irgendwann seine Ausdehnung umkehrte und zu kollabieren begänne?

Die Rückführung der Zeitrichtung auf die Entropie bleibt ohnehin etwas unbefriedigend. Idealerweise würde man sich eine Erklärung für die Bezeichnungen zeitliche “vorher-nachher” wünschen, wie man sie für die räumliche Bezeichnungen “oben-unten” hat. Letztere kann man einfach auf Änderungen im Gravitationsfeld zurückführen. “Unten” ist da, wo die Gravitation stärker ist, also auf der Erde in Richtung Erdmittelpunkt. Wenn es mit der Entropie genauso funktionieren würde, dann müsste “vorher” den entropieärmeren Zustand bezeichnen. Dass das aber nicht so ist, sieht man daran, dass man sich nicht plötzlich an die Zukunft erinnert, wenn man ein einen Kühlschrank steigt (ein Beispiel des Philosophen Jos Uffink).

Faszinierend ist die Interpretation mancher Wissenschaftler wie etwa des italienischen Quantenschleifentheoretikers Carlo Rovelli, dass die Entropie als makroskopisches Konzept direkt auf uns Menschen verweist. Sie existiert demnach als Konsequenz unseres Unwissens, sie kommt dann ins Spiel, wenn wir durch unsere Beschränktheit nicht mehr alle beteiligten Teilchen individuell beschreiben können. In dieser Linie könnte man sich vorstellen, eine Art physikalischer Transzendentaltheorie in der Nachfolge Immanuel Kants zu konstruieren: Zeit würde dann tatsächlich zu einer reinen Form unserer Anschauung, die für uns Menschen (und mutmaßlich andere makroskopische Wesen) Objektivität besitzt, obwohl sie an uns als Erkenntnissubjekte gebunden ist. In der Welt müsste es die Zeit dann nicht mehr geben.

Die Tatsache, dass man auf der Suche nach der Zeit in den Theorien der Physik schließlich immer wieder auf die Philosophie stößt, ist ein schönes Beispiel dafür, dass wir Physiker letztendlich genauso Suchende sind und bleiben, wie es auch die methodisch so viel freier agierenden Künstler sind. Wer weiß, vielleicht wird sich ja irgendwann zeigen, dass Raum und Zeit als zwei sich teilweise überlappende Liniengebilde umgeben von Löchern abzubilden sind. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich Nanne Meyer dazu noch einmal etwas genauer befragen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /159

21.02.2022