Kursbuch 207 – Editorial

2013, ein Wahljahr übrigens, schienen die Herausgeber des Kursbuchs optimistischer gewesen zu sein. Der Titel von Kursbuch 174 lautete: Richtig wählen. Zumindest, das suggerierte der Titel, ließ sich im Horizont möglichen richtigen Wählens nachdenken. 2021, wieder ein Wahljahr, bringt es hingegen nur noch zum Falsch wählen. Sind wir pessimistischer geworden? Oder sind das womöglich dieselben Fragen, ist Wählen nicht schon per se eine Unterscheidung von richtigen und falschen Alternativen? Es gibt kaum Wahlen, die nicht schon vorgewählt sind. Die Alternative zwischen politischen Parteien ist selten die zwischen richtigen und falschen Alternativen, sondern zunächst zwischen Alternativen, die weder absolut richtig noch absolut falsch sind. Was wir da wählen, hängt viel mehr vom Angebot ab, von den dargebotenen Alternativen, von Gelegenheiten und nicht zuletzt Gewohnheiten. Dass man sich an ein bestimmtes Parteienspektrum und ein dazugehöriges Parteiensystem gewöhnt hat, heißt auch, dass man sich an bestimmte Richtig/Falsch-Alternativen gewöhnt hat, innerhalb derer sich dann richtig und falsch wählen lässt. Was wäre eigentlich, wenn sichtbar würde, dass diese Richtig/Falsch-Alternativen falsch wären? Passen die Parteiengestalten aus der klassischen Industriegesellschaft noch in die Zeit digitaler Ökonomien und ganz anders geschnittener Klassen- und Milieugrenzen? Geht es heute noch um mehr oder weniger Staatsintervention? Glauben die Bevölkerungen von Staaten noch an die klassischen Konfliktlinien, oder polarisieren sich Bevölkerungen um ganz andere Fragen, etwa Identitätsfragen oder Kontinuitätsfragen? Sind Querschnittsthemen wie der Klimawandel durch eher »rechte« und eher »linke« Politikangebote zu lösen, oder braucht es ganz andere Unterscheidungen?

Klingt nach Suggestivfragen, sie sind es aber nicht. Sie sollen nur anzeigen, dass es auf die Frage nach dem falschen Wählen keine richtigen Antworten gibt – oder umgekehrt?

Dieses Kursbuch jedenfalls ist auf der Suche nach dem Falschen – und es steht dennoch sehr viel Richtiges zwischen den Buchdeckeln. Und es geht nicht nur um politische Wahlen, sondern um das Wählen zwischen Alternativen auch in anderen Bereichen. So lotet Paul Watzlawick das komplexe Verhältnis von Problemen und Lösungen aus und zeigt, dass das Gegenteil des Falschen nicht unbedingt das Richtige ist, sondern womöglich noch falscher sein könnte. Das weist in die Richtung, wie sehr wir uns an Richtig-falsch-Konstellationen gewöhnt haben und diese für richtig halten. Das könnte falsch sein. Der Essay entstand im Nachklapp der Münchner Konferenz »Aufbruch in neue Lernwelten« im Jahre 1992. Peter Felixberger editierte damals den Text im Auftrag Watzlawicks für das gleichnamige, von ihm herausgegebene Buch (Passagen Verlag, Wien 1994). Wir danken dem Passagen Verlag für die Genehmigung zum Wiederabdruck.

Auch unser Gespräch mit Ernst Mohr zeigt auf, wie sich Wahlalternativen bilden und wie sie strategisch auf Märkten erzeugt werden müssen, während Robert Dorschel und Jutta Allmendinger an einem konkreten Fall erörtern, nämlich bei Frauen zwischen Familie und Arbeitsmarkt, wie illusionär die Vorstellung einer freien Wahl ist, sondern von jenem »Raum des Möglichen« geprägt ist, der gesellschaftlich erst hergestellt werden muss. Ganz im Sinne Watzlawicks zeigen Dorschel und Allmendinger, wie voraussetzungsreich Wahlalternativen und Entscheidungsräume sind.

Johanna L. Degen zeigt in ihrem Beitrag am Beispiel von Online-Dating-Portalen, wie hier durch ein neues Medium und eine technisch unterstützte Praxis eine veränderte Form des Aushandelns von Entscheidungsspielräumen entsteht. Was mir an dem Beitrag besonders gut gefällt, ist, wie Degen zeigen kann, wie Nutzerinnen und Nutzer solcher Plattformen beides erleben: Einschränkungen und Limitationen von Handlungsoptionen, aber eben auch das Gegenteil: Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungskompetenz. Hedwig Richter berichtet von der Etablierung der politischen Wahl in den USA und wie voraussetzungsvoll es ist, tatsächlich freie Wahlen zu organisieren, frei würde hier heißen: dass die einzelnen Wählerinnen und Wähler entscheiden können, was sie für falsch und für richtig halten. Sie bindet diesen historischen Prozess an eine veränderte Funktionsbestimmung der politischen Wahl: von der Bestätigung der Obrigkeit hin zu einer kompetitiven Wahl zwischen politischen Alternativen und einer Inklusion der gesamten Bevölkerung in den Wahlprozess.

Mein eigener Beitrag wiederum versucht, das Falsche zu rehabilitieren, als diejenige Kategorie, die dem Offensichtlichen das Offensichtliche nimmt. Und richtig werden kann. Aber nicht muss.

An Heike Littgers »Lagerfeuer« sitzen dieses Mal drei Menschen, die offenkundig falsch abgebogen sind – zu einer AfD-Anhängerin, zu einem Suizidanten, der glücklicherweise sein Ziel nicht erreicht hat, und zu einem Drogensüchtigen. Die Lehre aus den Geschichten: Nur wo man überhaupt abbiegen kann, kann man auch auf die falsche Fährte geraten. Dass Grafiken aus der Wahlberichterstattung ebensolche Fährten legen können, zeigen die beiden Grafiken von Jan Schwochow, die beide dasselbe abbilden und doch Unterschiedliches zeigen.

Die Intermezzi sollten diesmal die Frage beantworten: Wann haben Sie einmal eine falsche Wahl getroffen? Das Tableau der Bekenntnisse ist sehr breit und vielfältig und auch sehr offen und persönlich. Wir danken Sibylle Anderl, Georg Essen, Rüdiger Fox, Serap Güler, Hubertus Kohle, Jan Myszkowski und Georg von Wallwitz für die Einblicke in ihre falschen Wahlen – aus denen ganz offensichtlich alle unbeschadet herausgekommen sind.

Das Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger wagt sich an eine Wahlprognose, die es in sich hat. Und das vor 18 Uhr! Richtig oder falsch? Beurteilen Sie selbst!

Armin Nassehi