Montagsblock /153

Da haben wir sie wieder, diese unschuldigen Jahresanfangstage, die durch die Vorstellung geprägt sind, man könne im kommenden Jahr etwas anders und besser machen — auch wenn die empirischen Befunde der Vorjahre dem eher widersprechen. In diesem Jahr sind sie wohl noch stärker als sonst von Erschöpfung bestimmt, die jedem Impuls von Optimismus überlagert ist. Die Pandemie hat Spuren hinterlassen, genau wie die Infodemie, die ansteckungsartige Ausbreitung von Desinformationen, die in vielfältiger Weise mit der Pandemie selbst interagiert und diese entscheidend beeinflusst, wie eine Reihe von Studien nahegelegt hat [1], [2]. Wir mussten erkennen, dass die Bereitstellung zuverlässiger Informationen und deren ausführliche Erklärung und Einordnung oftmals nicht ausreichen, um andere durch einen festen Wall vorgefertigter Welterklärungen hindurch zu erreichen. Wir mussten einsehen, dass sich epistemische Paralleluniversen gebildet haben, die untereinander allenfalls sehr schwach konstruktiv wechselwirken können.

Vielleicht muss man Pandemie und Infodemie aber noch ein weiteres Übel hinzufügen, zumindest habe ich das in meinem Umfeld beobachtet: Die Aggrodemie. Selbst wenn man gesprächsbereit ist, wenn man den ehrlichen Versuch unternimmt, die Argumente und Beweggründe der Impfgegner und Wissenschaftsskeptiker zu verstehen, um ihnen rational begegnen zu können, wird man doch nicht selten sehr bald beschimpft und beleidigt. Was das aber so gefährlich macht, ist, dass diese Aggression Ansteckungspotential besitzt. Die Unterstellung böser Absichten, das Hören von Sub-Texten, toxische Ironie und passive Aggressivität sind ähnlich leicht übertragbar wie Viren oder Falschinformationen. Gerade zu Weihnachten mag es da einige Superspreader-Events im Freundes- und Familienkreis gegeben haben, deren Eindämmung alles andere als einfach ist, zumal die Dauer der Ansteckungsfähigkeit ausgedehnt ist, und viele Betroffene zu Langzeitverläufen neigen.

Als Astrophysikerin habe ich da leider weder Ideen für eine schnelle Immunisierungsstrategie, noch was wirksame Therapien für Patienten mit schwerem Verlauf sein könnten. Tatsächlich scheint die Astrophysik aber doch eine Art Hausmittel zu bieten. Das konnte man an Weihnachten und Neujahr verfolgen. Am 25.12., in Deutschland zur Zeit des festlichen Mittagessens, flog in Kourou in Französisch-Guyana eine europäische Ariane-5-Rakete in den Himmel, am Bord das teuerste Weltraumteleskop aller Zeiten. Das James-Webb-Teleskop ist der Nachfolger des 1990 gestarteten Hubble Weltraumteleskops. Es soll das Universum im infraroten Wellenlängenbereich beobachten und als erstes Teleskop in der Geschichte des Universums bis zu den ersten Sternen zurückschauen. Außerdem hat es das Potential, die chemische Zusammensetzung der Atmosphären fremder Planeten zu entschlüsseln und so Anhaltspunkte zu deren mögliche Lebensfreundlichkeit zu sammeln. Seine Beobachtungen wird es in 1,5 Millionen Kilometer Entfernung von der Erde vornehmen, am Lagrange-Punkt L2, wo es von der Sonne aus gesehen stabil hinter der Erde steht [3].

Die ersten Ideen zum Bau dieses Teleskops wurden bereits in den neunziger Jahren entwickelt. Es wurde mit den Wünschen mehrerer Generationen von Astrophysikern konfrontiert, überlebte viele Rückschläge und als Nasa-Projekte sowohl demokratische als auch republikanische Regierungen. Die europäischen und kanadischen Raumfahrtorganisationen ESA und CSA waren am Bau beteiligt, 1172 Wissenschaftler aus 44 verschiedenen Ländern werden zu den Empfängern seiner ersten Daten gehören. Damit das Teleskop trotz seiner Größe in die Rakete passte — der Primärspiegel ist 6,5 Meter groß, sein Sonnenschild hat die Größe eines Tennisplatzes —, war komplexe Faltkunst vonnöten. Der erste und überaus riskante Schritt der Entfaltung im All gelang am Neujahrstag, und stellte das zweite weltweit bejubelte Highlight neben dem Start selbst dar. Die New York Times verglich den auf der ganzen Welt mit Spannung und schließlich Erleichterung verfolgten Start mit der Eröffnung der Internationalen Raumstation oder den Apollo-Missionen, als Menschen auf der Welt in ihrer Faszination für den Weltraum vereint waren: “Von diesem Start schien etwas sehr hoffnungsvolles auszugehen am Ende eines schwierigen Jahres in einer Welt, die so dringend guter Nachrichten bedarf.” [4]

Meine Wahrnehmung war ganz ähnlich, und die Begeisterung für die Mission in den sozialen Medien hatte für mich etwas sehr Tröstliches. Es schien tatsächlich ein Thema zu sein, das die irdischen Empfindlichkeiten und Gereiztheiten zumindest für kurze Zeit überbrücken konnte. Was könnte uns auch eindrücklicher zu derjenigen Gelassenheit verhelfen, an der es derzeit an so vielen Stellen mangelt, als das Bewusstsein unserer eigenen Winzigkeit im riesigen Kosmos? Die überzeugtesten Wissenschaftsgegner werden zwar sicherlich auch durch James Webb nicht erreicht worden sein, aber ich weiß beispielsweise einige Impfskeptiker unter den Weltraumfans in meiner sozialen Blase. Und dass es mit ihnen noch etwas Gemeinsames gibt, das mit der menschlichen Neugier und den ganz großen Fragen nach unserer Stellung im Kosmos zu tun hat und der Aggrodemie kurzzeitig Einhalt bieten konnte, das ist doch bei allem Pessimismus eine schöne Botschaft für den Anfang des Jahres.

Sibylle Anderl

Montagsblock /153, 03. Januar 2022

[1] Briand et al. “Infodemics: A new challenge for public health”, Cell 9.12.21: https://www.cell.com/action/showPdf?pii=S0092-8674%2821%2901286-1

[2] Gallotti et al. “Assessing the risks of ‘infodemics’ in response to COVID-19 epidemics”, Nature 29.10.20: https://www.nature.com/articles/s41562-020-00994-6

[3] Aktuelle Position des JWST: https://www.jwst.nasa.gov/content/webbLaunch/whereIsWebb.html

[4] https://www.nytimes.com/2021/12/30/world/europe/webb-telescope-launch-space.html