Editorial von Armin Nassehi Es ist ein alter Topos, dass die Kunst nicht nur das Schöne und das Erhabene darstellt, sondern auch ein besonderes Erkenntnismittel ist und der Wahrheit womöglich näher kommt als die begrifflich und methodisch geschärfte, deshalb rational genannte, weil wiederholbare und rekonstruierbare Form, die Welt auf den Begriff zu bringen. Oh – das Schreiben ist schneller als das Denken: eben nicht auf den Begriff zu bringen, sondern zu begreifen oder wenigstens in eine Form zu bringen oder ins Bild zu setzen. Freilich ist der Topos nicht allzu alt – er stammt aus der bürgerlichen Gesellschaft, also aus einer Zeit, in der das »Auf-den-Begriff-Bringen« in den unterschiedlichen sich dynamisierenden Bereichen der modernen Welt exorbitant wächst – in der Wirtschaft ebenso wie in der Wissenschaft, in der politischen Programmierung ebenso wie in der philosophischen Methodik, im gesetzten Recht ebenso wie in den Verwaltungsstäben.
Nicht dass man das nicht zuvor auch schon gemacht hätte, aber mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten und mit der Verbetrieblichung des Ökonomischen, mit der Verwissenschaftlichung des Wissens, vor allem aber damit, dass organisierte Bildungsprozesse zur obligatorischen Lebenserfahrung kompletter Bevölkerungen werden, wird dieses »Auf-den-Begriff-Bringen« letztlich zum Hauptmodus der Welterfahrung und Informationsverarbeitung.
In dieser Gemengelage konnte die Kunst erst jenen Sonderstatus beanspruchen, den sie seit ihrer bürgerlichen Neuformierung erfahren hat. Sie sollte das ganz Andere sein – und zwar sowohl als ein gewisser Ausgleich für die sich rationalisierenden Lebenswelten in affirmativer Hinsicht als auch als Stachel und Relativierung jener Welt in kritischer Hinsicht. Diese Unterscheidung – kritisch und affirmativ zu sein, sogar affirmativ in ihrer kritischen Attitüde, auch umgekehrt: sogar noch dort kritisch, wo sie habituell und in der Rezeption affirmativ war – gehört zum Standardrepertoire der Reflexion übers Künstlerische und über die Kunst. Und letztlich hat sich daran bis heute nicht prinzipiell etwas verändert. An der Kunst sich zu reiben, heißt nach wie vor, ihren Sonderstatus als Erkenntnismittel, als Kritikmedium und als das ganz Andere in den Blick zu nehmen – um dann am Ende doch darauf zu kommen, dass die Kunst der Gesellschaft und der Welt nicht gegenübersteht.
Das wirklich Aufregende an der Kunst ist ihre Gesellschaftlichkeit, ihre Weltlichkeit – und zugleich die Frage, wie man auf die Idee kommen kann und wie diese Idee begründet wird, sie für etwas zugleich Internes wie Externes zu halten.
Es sieht fast wie eine Kränkung aus – dass das ganz Andere stärker am Selbigen hängt, als es zunächst den Anschein hat, ähnlich der Kränkung, die wir erfahren, wenn wir das Transzendente religiös behaupten, es aber stets nur mit den Mitteln der Immanenz tun können. Der Religion stehen dafür Figuren wie die Begrenztheit menschlicher Perspektiven, das Erstarren vor der Größe Gottes oder die Erbsünde zur Verfügung, was zumindest die Selbstüberhöhung jener ermöglicht, die im Namen der Unüberwindlichkeit des Immanenten auf das Transzendente sich beziehen dürfen. Der Kunst stehen dagegen keine priesterlichen Autoritätsrollen zur Verfügung, sondern nur ein Habitus, sich der Welt in der Welt als das ganze Andere zu zeigen.
All das kann man freilich wissen, wenn man nicht in Substanzen, sondern in Unterscheidungen denkt. Das Andere ist eben das Andere dessen, was nicht anders ist – und schon ist man mittendrin in der Welt: die Kunst, die in ihrer Selbstbeschreibung so gerne behauptet, der einzige Raum in der Gesellschaft zu sein, in dem es nicht um Zwecke und Ziele, nicht um Funktionen und die Erfüllung von Aufträgen geht, sondern um jenen Selbstzweck, in den sich der Zweck dann doch wieder hineingeschlichen hat. Freilich ändern sich die Schnittstellen zwischen der Kunst und der sie umgebenden Gesellschaft – und zugleich ändern sich auch die Zwecke, Ziele und Funktionen, die eigentlich keine sein wollen oder sollen.
Dieses Kursbuch setzt genau hier an. Es präsentiert keine Kunsttheorie. Es bringt nicht die Erhabenheit selbst auf den Begriff – und wie wir aus der Geschichte wissen, gefallen sich Texte über die Erhabenheit der Kunst gerne selbst in einem Habitus, der Erhabenheit zu beanspruchen scheint. Texte über die Kunst scheinen sich selten dagegen zu wehren, unter Kunstverdacht geraten zu können, wie übrigens auch Texte übers Politische allzu oft politische Texte werden, womit sie zwar durchführen, was sie beschreiben, es darin aber auch kategorial verfehlen. Das also macht dieses Kursbuch über die weitesten Strecken wenigstens – nicht. Es nimmt sich vielmehr die Schnittstellen vor, also jene Verbindungen der Kunst zu den anderen gesellschaftlichen Formen und Handlungsbereichen, an denen die sich reiben, die selbst unter Kunstverdacht geraten oder die bestimmte Vermögen und Leistungen der Kunst in Anspruch nehmen, um ihr eigenes Geschäft zu erledigen.
Diese Schnittstellen reichen in diesem Kursbuch von der geradezu klassischen Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wahrheit, wie es Boris Groys besorgt, bis hin zur Frage von Jürgen Dollase, ob denn die Kochkunst Kunst sei und was denn diese Frage eigentlich bedeuten soll. Groys stellt die klassische Frage vor dem empirischen Hintergrund der (Selbst-)Vermarktung der Kunst im Internet, das mit seinen technischen Möglichkeiten selbst für eine ganz andere Wahrheit über die Kunst sorgt. Dollase behauptet nicht einfach, dass gutes Kochen eine Kunst sei, weist aber darauf hin, dass es beim Kochen auf Kunstniveau darum geht, Wahrnehmungsmuster aufzubrechen. Mit den Wahrnehmungsgrenzen des Publikums rechnet auch Peter Rawert, dessen Einblick in die Arbeit eines Zauberers vor allem zeigt, wie dieser mit den Wahrnehmungsroutinen seines Publikums rechnen muss. An der Schnittstelle von Kunst und der Führung von Organisationen arbeitet Martin Kornberger. Auch er behauptet nicht einfach die Übertragbarkeit der Kunst aufs Management. Mit der metaphorischen Unterscheidung von Karte und Territorium weist er darauf hin, was das Management mit seinen eigenen kartografischen Mitteln eigentlich sehen kann – und was nicht.
Conny Habbel arbeitet sich an der Frage der Politisierbarkeit der Kunst ab und stellt fest, dass der Gegner mit künstlerischen Mitteln nicht so einfach dingfest zu machen ist – und dass der Gegner bisweilen in den eigenen Reihen zu suchen ist. Der Gegner bewegt sich also auf dem Boden der Ästhetik und nicht des Politischen selbst. Auch mein eigener Beitrag nimmt diese Schnittstelle in Anspruch und behauptet, dass die Kunst als Hinweis auf die Kontingenz von Blicken und Sehgewohnheiten auch eine ästhetische Kritik des Politischen erlaubt. Friedrich von Borries und Mara Recklies schließlich plädieren für eine selbstreflexive, autoethnografische Perspektive als Methode der Designforschung, um die politische Dimension des Gegenstandes freizulegen.
Auf einem anderen Feld bewegt sich Karl Bruckmaier. Er beschreibt den Pop, der nicht einmal ein Vier-Buchstaben-Wort sei, als eine Form der Selbstermächtigung und Selbstaneignung der Kunst und damit eine Erweiterung des Zugangs zu den künstlerischen Produktionsmitteln, während Stephan Opitz leidenschaftlich für eine staatliche Förderung jener Produktionsmittel eintritt, die politisch ermöglicht, aber weniger politisch kontrolliert werden sollten. Jakob Schrenk hat sechs Kuratoren ziemlich verfängliche Fragen gestellt. Etwa, was ein Kurator macht, und was die Kunst, und wie es sich mit Museen verhält – und manche von ihnen schauen sogar aus dem Fenster. Vielleicht weil Menschen viel zu viel Gehirn haben. Das jedenfalls schreiben Ernst Pöppel, Eva Ruhnau und Alexandra von Stosch, die den Rahmen für ästhetisches Erleben und Erzeugen abstecken.
Es sollte deutlich geworden sein, dass dieses Kursbuch tatsächlich die Frage danach stellt, was die Kunst macht, nicht was sie ist – was ja ernsthafterweise nicht beschrieben werden könnte, ohne zu sagen, was sie macht. Es schließt dann übrigens mit der Frage nach den sich verändernden Bedingungen, unter denen man heute Bücher und Zeitschriften machen kann. Peter Felixberger macht sich Gedanken über die Kunst des Buch- und Zeitschriftenverlegens. Selbstverständlich behauptet er nicht, das Bücher- und Zeitschriftenmachen sei eine Kunst im engeren Sinne. Er kommt aber zu erstaunlichen Einsichten, die hier nicht vorwegzunehmen sind, die aber darauf verweisen, dass es auch hier darum geht, gewohnte Blicke und Sehgewohnheiten zu ändern und so genau das zu tun, was ganz offensichtlich ein Proprium der Kunst ist: zu zeigen, dass schon kleine Perspektivenverschiebungen und kleine Veränderungen von Wahrnehmungsgewissheiten zu ganz anderen Welten führen.
Was sie wirklich macht, die Kunst – dafür lohnt sich ein Blick in die wunderbaren Bilder von Wilfried Petzi. Ein Blick freilich genügt nicht – die Bilder erzwingen sofort mehrere. Vielleicht hätte das schon ausgereicht, um unsere Titelfrage zu beantworten.
Hanno Rauterberg danken wir, dass er unsere Kolumne »Brief eines Lesers« fortführt.
Editorial von Armin Nassehi, Kursbuch 184 “Was macht die Kunst?”, Dezember 2015
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