Beliebt ist derzeit eine Kritik am Moralismus und am Moralüberschuss öffentlicher Debatten – ob es sich um ökologische und Klimafragen handelt, um Fragen der angemessenen Strategie angesichts des Krieges gegen die Ukraine, in Fragen des sogenannten „Genderns“, überhaupt in Fragen der Sexualitätsbesessenheit in öffentlichen Themen, überall da, wo es um die sogenannte „Identitätspolitik“ geht, in Debatten über den Sozialstaat und den ÖRR usw. Eine Verlängerung der Liste würde riskieren, dass fast nichts anderes mehr verbleibt.
Wer Moralismus kritisiert, hat auf den ersten Blick die Sachfragen, die Rationalität und das vernünftige Abwägen auf seiner Seite – zumindest ist dies das wirksame Stilmittel des Moralismusvorwurfs, der vielleicht die alte Kritik an den „Gutmenschen“ abgelöst hat oder alles „woke“ nennt, was einem nicht passt. Nicht ganz vorbeisehen freilich kann man, dass die Moralismuskritik oftmals selbst allzu moralistisch daherkommt. So ist das mit Konflikten: Sie integrieren, indem sie beide Seiten auf etwas Gemeinsames verpflichten, was es durchaus wahrscheinlich macht, dass die Negation von etwas viel positiver an das Kritisierte anschließt, als der Kritiker oder die Kritikerin denkt. Positiv meint: Wer als andere Seite einer anderen Seite opponiert, ist gerade von der Gegenseite geprägt. Wer nur A und B kennt, ist von der anderen Seite geradezu existentiell abhängig. In einer binären Welt ist die Existenz der Gegenseite die einzige Überlebensgarantie. Was würden Moralismuskritiker ohne ihre Gegenseite tun – und was Moralisten ohne die, die sie moralisch treffen wollen.
Mir geht es hier nicht um die Rekonstruktion konkreter Streitfälle – die oben genannten Andeutungen dürften zumindest bei geübtem Medienkonsum die Streitformen im Kopf wie eine Netflix-Serie mit immergleichen Folgen ablaufen lassen. Mir geht es darum, wie ähnlich sich die gegenseitigen Moralismen sind – die auch dadurch Moralismen werden, weil sie sich gegenseitig mit moralischen Mitteln bekämpfen. Aus einem stabilen, binär gebauten Konflikt gibt es deshalb kaum eine Exit-Strategie, weil jeder Spielzug der Gegenseite die eigene Strategie bestätigt.
Nun könnte man geneigt sein, in diesem Text eine false balance auszumachen, also eine Gegenseite stark zu machen, die einerseits gar nicht als Gegenseite taugt, andererseits als Gegenseite identitätsstiftend ist. Deshalb verzichte ich darauf, diese Moralismusfrage dadurch zu lösen, sie als Konfliktpartei zu beobachten. Ich habe in den meisten der genannten Fragen durchaus Präferenzen – aber aus methodischen Gründen ist es vielleicht nicht schlecht, diese Präferenz einzuklammern, denn nur dann werden Struktur und innere Logik eines solchen Konfliktsystems zwischen moralischem Moralismus und moralischer Moralismuskritik sichtbar. Und je nach Lesestandpunkt wird schon dieser banale Satz, der nach einem ausgeschlossenen dritten Standpunkt sucht, als parteiisch angesehen werden – das ist aber gerade die Sogkraft, die ein gut geölter Konflikt entfaltet, der irgendwie wie ein Allesfresser funktioniert: Was irgendwie dem Stoffwechsel der Konfliktdynamik dienen kann, wird auch verstoffwechselt. Und ich versage mir ausdrücklich, welche Art von Ausschuss manche Stoffwechselprozesse produzieren.
Vielleicht hilft ja eine ethische Beobachtung moralisierender Konfliktlogiken. Hilfreich ist womöglich eine der Grundunterscheidungen in der Ethik selbst, nämlich die zwischen konsequentialistischen und nicht-konsequentialistischen Ethiken. Nicht-konsequentialistische Ethiken kaprizieren sich vor allem auf die Haltung und auf die Pflichtmäßigkeit des ethischen Urteils beziehungsweise der ethischen Handlung – das bekannteste Beispiel ist sicher die Kantsche deontologische Ethik, für die die ethische Relevanz einer Handlung in der Maxime des Handelns und nicht in den Konsequenzen der Handlung liegt. Diese spielen für die Frage der ethischen Beurteilung überhaupt keine Rolle, während für konsequentialistische Ethiken, insbesondere utilitaristische Ethiken, gerade die Konsequenzen in Gestalt eines Nutzens (welcher Art und für wen auch immer) die entscheidende Rolle spielen. Eine dritte Form der Ethik wären Tugendethiken, die in gewisser Weise quer zu der oben genannten Unterscheidung liegen, weil sie vor allem an den Möglichkeiten des ethischen Handlungsträgers ansetzen, zumindest in der Form einer modernen Capability-Ethik, wie sie etwas von Amartya Sen oder Martha Nussbaum vertreten wird.
Es soll hier nicht um eine philosophisch-ethische Reflexion der angedeuteten Debatten gehen – eher um die Frage von Denkstilen. Würde man es zu Ende argumentieren, wäre es vielleicht eine capability-orientierte Beobachtung vor allem nicht-konsequentialistischer Haltungen. Denn der angedeutete moralistische (Anti-)Moralismus-Diskurs mag sich weniger auf deontologische, in diesem Sinne pflichtmäßige Formen des Guten beziehen, aber die Konsequenzen sind ihm vergleichsweise egal. Anders formuliert: Beobachtet man die normativen Debatten zu den genannten Reizthemen nicht philosophisch-ethisch, sondern soziologisch, fällt auf, dass die Konfliktparteien selten die Kapazität und das Vermögen haben, sich aus dem Rigorismus ihrer Haltung, die sie für eine Art Pflicht jenseits aller empirischen Konsequenzen halten, zu befreien.
Der Soziologe würde darin wohl nicht eine Schwäche ethischer Reflexion oder die Anwendung einer „falschen“ Ethik vermuten, sondern eher eine Konfliktkonstellation, deren Zugzwang so integrativ ist, dass bei all dem nichts herauskommt als eine Selbststabilisierung von Positionen. Die soziologische Beobachtung würde nicht sagen, dass es einer konsequentialistischen Ethik bedürfte, um das Problem zu lösen, oder einer capabilistischen. Diese wären vielleicht für das Konfliktsystem schädlich, weil empirische Konsequenzen nicht so integrativ sind wie Pflicht genannte Haltungen, die am Ende ganz ohne Empirie auskommen und aus sich selbst heraus prämiiert/kritisiert werden können. Die ethische Beobachtung könnte dann sehen, dass eine starke Moral stabilisiert und integriert – nicht die Lösung der moralisierten Probleme und Fragen freilich, sondern sich selbst. Als Geschäftsmodell ist das lohnend – und die Kontrahenten sind sich einiger, als sie es sich selbst überhaupt vorstellen können.
Wahrscheinlich würde es Debatten guttun, wenn sie sich mit Konsequenzen der Probleme und der Lösungen und der Problem-/Lösung-Konstellationen beschäftigen können. Vielleicht lassen sich strittige normative und Interessenfragen, vielleicht sind es manchmal auch nur unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven, unter Verzicht auf ihre Moralisierung und Antimoralisierung behandeln, aber dieser Wunsch eines Soziologen ist natürlich gnadenlos naiv, denn wie soll man sich dem Sog eines solchen integrierenden Konfliktsystems entziehen, wenn es doch so integrativ ist und eigentlich alle glücklich machen kann: diejenigen, die mit dem permanenten Moralismusvorwurf schlechte Zeitungen vollkriegen oder die Kritik an Gewohnheiten abwehren, und diejenigen, die sich auch aufgrund der permanenten Kritik so sehr im moralischen Recht wähnen, dass sie sich auch kommod einrichten können. Und naiv ist natürlich auch die Erwartung, dass die Beteiligten überhaupt daran interessiert sind, strittige Fragen im außermoralischen Sinne zu diskutieren. Fast wäre man in einer schwachen Minute geneigt, das selbst für eine angemessene moralische Form zu halten, aber das gibt Ethik meist nicht her.
Der Rigorismus der Rigoristen ist wie ein Perpetuum mobile – ich empfehle einmal mehr die Lektüre von Helmut Plessners Grenzen der Gemeinschaft von 1924 und ihre Kritik an sozialen Radikalismen wie schon im Montagsblock /49.
Armin Nassehi, Montagsblock /207
03. Februar 2023