Eines meiner absoluten Lieblingsbücher seit Studienzeiten ist Helmut Plessners „Kritik des sozialen Radikalismus“, so der Untertitel des Werkes „Die Grenzen der Gemeinschaft“ (Frankfurt/Main 2002). Zuerst ist der Text 1924 erschienen. Wenn man (wie der Autor dieses Block-Beitrages) älter wird, häufen sich Gelegenheiten und Anlässe zur Relektüre und damit Déja-vú-Erlebnisse, die sich bei solchen Relektüren einstellen. Würde es mir nicht widerstreben und wollte ich deshalb uns Deutschen ein einziges Buch als unbedingte Pflichtlektüre anempfehlen, es wäre dieses kaum 150 Seiten starke Büchlein. Aber eine solche Verpflichtung zur unbedingten Lektüre wäre bereits das, wogegen Plessner sich wendet.
Plessner identifiziert bei den Deutschen einen Hang zur Unbedingtheit. Er schreibt dazu im ersten Kapitel: „Der Deutsche ist stolz darauf, in seinen besten Männern das Gewissen der Welt zu sein“. (S. 20) Das ist keine Völkerpsychologie, sondern eine kultursoziologische Analyse des Deutschen, damals geschrieben sowohl gegen die blut-und-bodengeschwängerte Jugendbewegung, aber auch gegen die radikale Linke. Dass das bald 100-jährige Buch aktueller kaum sein könnte, wird schon darin deutlich. Den Radikalismus der Deutschen macht Plessner vor allem am Luther’schen Protestantismus fest, der Staats- und Kulturreligion des eigentümlich bürgerlichen Radikalismus der Deutschen. „Protestantimsus ist die Religion der Konzessionslosigkeit, weil der Mensch unmittelbar zu Gott ist, und damit ein Bruch mit der Wirklichkeit. Protestantische Menschen, die eine Berufung zur Wirklichkeit kennen und nicht auf Gottes Werk verzichten, haben nur zwei Möglichkeiten: den tragizistischen Dualismus ewiger Unvereinbarkeit zwischen den Forderungen der sündigen Realität und den Geboten Gottes, das Ethos Luthers, des Deutschen, oder das gleichsam alttestamentarische System der Eintracht zwischen weltlichem Erfolg auf Gottes Erde und Erwähltheit durch Gottes Gnade, das Ethos Calvins.“ (S. 20) Es geht Plessner nicht um den real existierenden Protestanten, sondern um den Sozial- und Kulturtypus, der sich in Gestalt des Lutherischen als das Deutsche schlechthin darstellt. Max Weber nicht unähnlich heißt es bei Plessner: „Dem Katholiken nimmt die Synthesis der Gegensätze die Kirche ab, dem Calvinisten Gottes Gnadenwahl, dem Lutheraner aber ist sie nicht abgenommen, sie wuchtet mit unermeßlicher Schwere auf seinem Gemüt, er selbst, der Mensch, soll Schauplatz des Kampfes und durch Versöhnung aller Gegensätze in Gott sein.“ (S. 22) Getrost darf man diese Typologie verweltlichen: Plessner sieht in den konfessionell bestimmbaren Formen die Grundlage jener Authentizitäts-, Betroffenheits-, Unbedingtheits-, sozialen Radikalitätsformen, die auch heutige Debatten bestimmen, und zwar von allen Seiten. Es ist dies die Grundlage aller Orthofoniestrategien im wechselseitigen Kampf um Sagbarkeiten.
Den speziell deutschen Radikalismus – in deutlichem Unterschied zu den Radikalismen anderer kultureller Formen, des Russischen, des Romanischen, des Amerikanischen – charakterisiert Plessner vor allem darin, dass dieser „den Sinn für die Wirklichkeit und die praktische Entschlossenheit“ (S. 21) so gefährde. Diese Krankheit der Unbedingtheit, der „Konzessionslosigkeit“, wie er das so treffend formuliert, kann man getrost als einen der Faktoren identifizieren, die die soziale Radikalität zehn Jahre nach Erscheinen des Buches gar zur Staatsräson erhoben hat, jene Staatsräson, die ihn 1933 im Namen der der „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ seiner Kölner Professur enthob. Es ist dies eine der wenigen sozialwissenschaftlichen Theorien der Moderne, die auch die zivilisationsgefährdende Dementierung von Modernität integrieren können. Es ist übrigens auch ein schöner Beitrag für eine Theorie des „Eigenen“, die der soziale Radikalismus der Rechten auf Nachfrage zumeist unbeantwortet lässt.
Diese hier nur angedeutete Analyse ist ebenso treffend wie scharf. Aber zu einem meiner Lieblingsbücher macht das Buch nicht in erster Linie seine Diagnose, sondern sein Therapievorschlag. Das Kapitel „Die Logik der Diplomatie. Die Hygiene des Taktes“ ist ein literarisches, philosophisches und soziologisches Kabinettstück sondergleichen. Plessner interessiert sich hier für den öffentlichen Verkehr. Öffentlichkeit ist für ihn „das offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“. (S. 95) Hier, so Plessner, könnten Diplomatie und Takt für Interessenausgleich und nichtradikale Formen des Sozialen sorgen. Die Diplomatie ist das Feld der Geschäfte, der Politik, der Interessengegensätze von Funktionsträgern, Geschäftsleuten, Beamten usw. Takt ist das Feld der Begegnung natürlich unverbundener Personen. Beide versteht Plessner als Garanten einer zivilisierten Ordnung.
Es geht Plessner nicht um beschönigende, romantische, konsentistische Verklärung. Nicht um ein „neues Wir“, das auch die Wohlmeinenden derzeit gegen das „alte Wir“ zu stellen sich anschicken und dabei schnell die Grenze von der moralischen Wohlgenährtheit zur semantischen Radikalität zu gehen bereit sind. Plessner negiert gerade nicht Interessengegensätze, Machtkonflikte und Kampf um Vorteile und Ressourcen. Wer in Gesellschaften etwas anderes erwartet, ist entweder dumm oder ein Fantast (meine Worte, nicht die Plessners). Gegen solche Dummheit und Fantasterei wendet sich Plessner. Freiheit und Würde, so sagt er, sei die Voraussetzung dafür, dass im sozialen Verkehr Sieg und Niederlage möglich seien. „Seiner Freiheit beraubt, in seiner Würde gekränkt, für Nichts geachtet, bäumt sich der Unterlegene gegen den Sieger auf. Diplomatie ist die Kunst, diesem Prozeß vorzubeugen, dadurch, daß sie die Würde des anderen unangetastet läßt und die Unterlegenheit des Gegners aus seiner freien Entscheidung hervorzaubert oder die belastende Siegerrolle objektiven Gewalten zuschiebt.“ (S. 98f.) Es geht um Gesichtswahrung – der Unterlegene erhält seine Würde, der Überlegene trumpft nicht zu dessen Ungunsten auf.
Aus Plessners Theorie der Diplomatie lässt sich etwas über die Demokratie lernen – der Unterlegene, die Opposition, derjenige, der die Macht nicht hat, ist zwar unterlegen, aber prinzipiell auf Augenhöhe. Er ist weder Feind, noch ist er unwürdiger als der Sieger. Die Diplomatie ermöglicht es, dass es nicht in jeder Detailfrage ums Ganze geht – wie dem sozialen Radikalismus der „Konzessionslosigkeit“ –, sondern dass das Spiel weitergespielt werden kann.
Wie die Diplomatie nicht Konsens voraussetzt, nicht einmal auf Konsens zielt, ist der Takt kein Garant für Vergemeinschaftung und Distanzlosigkeit, sondern gerade ein Distanzmedium. Das Ziel ist „Ausgleich, die Balance, und zwar durchaus eine labile“. (S. 109) Die aber hilft, das Gesicht und die Würde des Gegenübers zu wahren. Es ist eine Toleranz, die den anderen nicht umarmt, sondern sein lässt. Es ist ein interessiertes Desinteresse. Es ist, wie ich das einmal formuliert habe, das „bürgerliche Privileg, in Ruhe gelassen werden zu können“. Plessner sagt es so: „Taktlos ist, wer seine Macht, seine Überlegenheit fühlen läßt, wer nach vorgefaßten Meinungen, irgendwie zurecht gemachten Bildern andere Menschen behandelt und beurteilt, taktlos ist der Seelentaube, der Seelenblinde, der Monomane, der jeder Gelegenheit nur sich oder das absolute Nein entnimmt.“ (S. 109f.)
All das sind nicht einfach moralische Normen oder wohlfeile Forderungen. Plessners Analyse ist eine funktionale Analyse. Sie fragt nach einem möglichen Lösungskonzept für das Bezugsproblem des Interessenausgleichs und der Interessendifferenz in komplexen sozialen Situationen. Es ist ein funktionales Äquivalent für den Protestantismus des Unbedingten und des Katholizismus einer institutionell immer schon vorgefassten Lösung. Es ist die liberale Idee, mit Widersprüchen umzugehen und auf die volle Konsistenz einer geordneten Welt zu verzichten – darin dann übrigens weit katholischer als lutherisch konsistent. Die Anschlussfrage wäre dann, welche ökonomischen, politischen, kulturellen, bildungsförmigen und rechtlichen Rahmenbedingungen die Wahrscheinlichkeit für diplomatischen und taktvollen Verkehr erhöhen. Die Antwort auf eine so komplexe Frage kann nur eine weit jenseits allen sozialen Radikalismus sein. Für Plessner ist durchaus Platz auch für die Liebe, die unbedingte Zuwendung und die Gemeinschaft – aber eben nicht im öffentlichen Verkehr. Wir können nur miteinander auskommen, weil wir dort keine Brüder und Schwestern sein müssen. Schon (Volks-)Genossen zu sein wäre zu viel.
So weit meine Relektüre eines Buches, das mich schon mit 19 Jahren, in meinem ersten Studiensemester begeistert hat. Ich habe es in einem pädagogischen Proseminar gelesen, im Wintersemester 1979/1980. Es war die Hochzeit der Alternativbewegungen, und der Tenor der Lektüre war damals bei vielen, dass man die Formen des bürgerlichen Takts überwinden müsse, wenn es um alles (Friede, Wald, Verdauung) geht. Wenn ein universitäres Studium in den Sozialwissenschaften dennoch vermitteln kann, dass es mit Diplomatie und Takt spätestens dann vorbei ist, wenn es in jeder Einzelfrage ums Ganze geht, war es nicht umsonst. Insofern ist die Lektüre von Plessners Die Grenzen der Gemeinschaft unbedingt notwendig, aber nicht unbedingt verpflichtend.
Übrigens: Der Anlass der Relektüre war unter anderem, den protestantischen Eifer Rudi Dutschkes zu verstehen, dessen Reden und Interviews ich gerade gelesen habe, weil ich an einem Manuskript über 1968 sitze. Und wenn dieser Eifer von der Form her manchem heutigen sozialradikalen Eifer durchaus ähnelt, hat Plessner einen Schlüssel für das Verständnis. Wir sollten aufhören, „in unseren besten Männern das Gewissen der Welt zu sein“ – hier haben die Frauen übrigens, das konnte Plessner noch nicht wissen, mindestens gleichgezogen. Also: freiwillig lesen, aber subito!
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /49, 15. Januar 2018