Montagsblock /208

In gut zwei Wochen erscheint das neue Kursbuch. Sein Titel: „Alles kein Zufall“. Hier schon mal ein kleiner Vorgeschmack aus meiner FLXX-Kolumne.

Schwarz ist der Schwan

 Die Zukunft kennt nur unvorhergesehene Ereignisse. Niemand ahnt sie voraus, keiner rechnet mit ihnen. Selbst der größte Zufall könnte zufällig sein. Schwarze Schwäne nennt der New Yorker Professor Nassim Taleb solche Geschehnisse jenseits des Erwartungshorizonts. Sie zeigen: Wir sind blind gegenüber dem Zufall, denken zu wenig und wissen fast nichts. Diese Kränkung aber könnte helfen, mit der Unschärfe unseres Handelns besser zurechtzukommen.

Eine Geschichte hat es Taleb besonders angetan. Die Neurologin Yevgenia Nikolayevna Krasnova plante eines Tages, ihre wissenschaftlichen Forschungen in literarischer Form zu publizieren. Hinzu kam der nicht gerade lesefreundliche Umstand, dass sie fremdsprachige Dialoge in der Originalsprache, also unübersetzt ließ. Diese Gemengelage bot sie Verlagen an. Natürlich mit wenig Erfolg. Einer schrieb sogar zurück: „Meine Liebe, von diesem Buch werden sich nur zehn Exemplare verkaufen lassen, und da sind die, die Ihre Exmänner und Ihre Familie erwerben, schon mitgerechnet.” Krasnova stellte schließlich ihr Manuskript ins Internet. Ein kleiner, unbekannter Verlag wurde darauf aufmerksam und verlegte das Buch honorarfrei. Glücklicherweise wurde es in der Folge völlig unerwartet ein Millionenseller, der in 40 Sprachen übersetzt worden ist. Warum, weiß bis heute kein Mensch. Ihr Buch ist ein Schwarzer Schwan. Er hätte nie das Licht der Welt erblicken dürfen.

Womit wir beim Thema sind: Unerwartete Ereignisse wie Börsenkrisen, Flugzeugabstürze oder Stromausfälle sind fast immer Niederlagen der menschlichen Allmachtsfantasie, die Welt immer und überall kontrollieren zu können. Jeder Buchverlag versucht seit Menschengedenken den Bestseller auf dem Reißbrett zu planen. Was mehr als selten gelingt. Weshalb sich umgehend die Fragen stellen, warum diese extremen und unvorhersehbaren Ereignisse überhaupt passieren und warum wir blind gegenüber dem Zufall sind, der ihnen zugrunde liegt.

Nassim Taleb forscht mit großem Eifer seit vielen Jahren nach den Antworten darauf. Seine Haupterkenntnis: Menschen denken erstens viel weniger, als sie glauben. Und sie konzentrieren sich zweitens beim wenigen Nachdenken auf das Nebensächliche. Das hat fatale Folgen: Denn wir wissen oft nur das Falsche oder nichts. Sonst würde das Unwahrscheinliche nicht geschehen. Dies betrifft auch positive, unwahrscheinliche Ereignisse wie besagte Buchbestseller oder One-Hit-Wonder.

Sie passieren nur in Umgebungen, wo das Einzigartige, Zufällige und Unvorhergesagte zugelassen wird. Das sind Gesellschaften, die Taleb „Extremistan” nennt. Im Gegensatz zu „Mediokristan”, wo die Tyrannei des Kollektiven, der Routine, des Offensichtlichen und Vorhergesagten herrscht. In Extremistan dauert es lange, bis man erkennt, was vor sich geht. In Mediokristan glaubt man, wenn man etwas eine Zeit lang beobachtet, könne man schlussfolgern, was vor sich geht. In Extremistan macht die Geschichte Sprünge, in Mediokristan kriecht sie dahin. Schön, mag man umgehend erwidern, dass es noch Bankenkrisen und Bösencrashs gibt. Wie langweilig wäre es sonst. Nur noch Nordkorea will freiwillig Mediokristan genannt werden.

Schwarze Schwäne nennt Taleb die unberechenbaren Ereignisse, mit denen keiner rechnet. Oder besser gesagt: Das, was wir in diesen Situationen nicht wissen, ist bedeutungsvoller als das, was wir wissen. In dieser Kluft werden Schwarze Schwäne produziert. Was wiederum ein neues Licht auf die Heerscharen von Experten in allen nur erdenklichen Problemzonen wirft. Sie erkennen, so Taleb, oft nur bedeutungsloses Zeug. Das Entscheidende bleibt ihnen jedoch verwehrt. Zum Beispiel in Unternehmen: Topmanager glauben qua ihres Ranges, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Wenn alles läuft, sonnen sie sich in der täglichen Selbstvergewisserung des Helden. Wenn nicht, fällt ihnen in der Regel nichts mehr ein und sie verabschieden sich oder werden hinausgeworfen. Die Blindheit gegenüber dem Zufall ist ihr Markenzeichen, sagt Taleb. Manager posieren vielerorts als Strategen, probieren aber in Wirklichkeit auch nur wie jemand herum, der in der Dunkelheit verzweifelt nach dem Lichtschalter sucht. Dies zuzugeben wäre allerdings Selbstmord.

Es ist nicht zuletzt diese radikale Eindeutigkeit, mit der Taleb unser Nichtwissen zum eigentlichen Gestaltungsmerkmal von Management in Politik und Wirtschaft erklärt. Damit steht er in einer Reihe amerikanischer Wirtschaftsautoren, wie zum Beispiel Phil Rosenzweig, die messerscharf sezieren, wie Manager und Politiker mit Klischees und Patentrezepten im Nebel herumstochern. Talebs Ausweg: Das Unmögliche als möglich denken. Sich also erstens bewusst machen, dass jede Entscheidung, wenn überhaupt, nur begrenzt erfolgreich oder haltbar ist. Und zweitens, dass jedem Zauber auch das Unberechenbare innewohnt. Solange es also Börsen gibt, werden sie crashen. Solange Flugzeuge herumfliegen, werden sie abstürzen. Und solange es Bücher gibt, werden Bestseller geboren. Der Einfluss des Menschen auf das Unbekannte ist offenbar geringer, als uns Experten weismachen wollen. Eine Kränkung, so Taleb, die der Beginn sein könnte, mit der Unschärfe wirtschaftlichen Handelns besser zurechtzukommen.

Lustigerweise wollte Frau Krasnova ihren Bestseller eines Tages wiederholen. Acht Jahre lang schrieb sie daran, perfektionierte ihn Tag um Tag. Das Problem, nachdem ihr neues Buch erschienen war: Es wurde von den Kritikern mit Lob überhäuft, aber kaum einer wollte es kaufen. Der Verleger musste Villa und Porsche verkaufen, weil er auf das Ereignis eines neuerlichen One-Hit-Wonders gesetzt hatte. Er konnte nicht glauben, dass das Phänomen umgekehrt auch funktioniert. Was streng genommen ebenfalls ein Schwarzer Schwan ist.

Übrigens ist Taleb streng genommen auch ein selbiger. Er lebt im Fegefeuer des Unbekannten und Unberechenbaren. Ein einsamer Dissident, der die Erfolgsregeln in der Wirtschaft als brotlose Kunst entlarvt und ihre Manager und Rädelsführer gnadenlos aus der Illusion von Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit zerrt.

Montagsblock /208, Peter Felixberger

13. Februar 2023

Weiterführende Literatur

Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München 2008.