LongRead: Konrad Paul Liessmann – Die Bundesbildungsrepublik

Ein Streifzug durch (ver)blühende Landschaften

 

Es ist nun auch schon wieder zehn Jahre her, dass die Bundeskanzlerin die deutsche Bildungsrepublik ausgerufen hat. Dass Republiken von ganz oben ausgerufen werden, ist zwar eher selten, aber in Fragen der Bildung auf eine Initiative von unten zu warten, ist wahrscheinlich wirklich müßig. Bildung wird heute gewährt, nicht erkämpft. Seit ihrer Ausrufung hat sich diese Staatsform angeblich prächtig entwickelt, aus einer geistigen Wüste sollen blühende Landschaften geworden sein. Allmählich aber stellt sich die Frage, wer in dieser Republik nun eigentlich lebt. Versuchen wir eine Bestandsaufnahme der Wohnbevölkerung der Bildungsrepublik und beginnen wir, auch wenn dies wenig republikanisch anmuten mag, mit jenen lichten höheren Regionen, denen diese Republik ihre Existenz verdankt.

Die Bildungspolitiker

Setzen wir dort an, wo die Verantwortung für das gedeihliche Leben und Denken in der Bildungsrepublik übernommen wird, in der Politik. So leicht es ist, eine Bildungsrepublik auszurufen, so schwer ist es, diese dann mit Leben zu erfüllen. Minister und hohe Beamte stehen dabei vor keinen geringen Problemen. Von allen Seiten werden sie bedrängt, doch endlich das Richtige zu tun. Einmal ist es die Öffentlichkeit, dann sind es die Medien, einmal die Experten, dann die zahlreichen Stiftungen und Testkonsortien, einmal twitternde Gymnasiastinnen, dann wieder mächtige Verbände, die von der Politik die richtigen Reformen, die richtigen Initiativen, die richtigen Strukturen, die richtige Didaktik, die richtigen Universitäten, die richtigen Schulen, die richtige Ausbildung fordern – wobei sich »richtig« immer auf die eigenen, begrenzten und ideologisch gesättigten Interessen der Fordernden bezieht. Vor allem kämpft die Bildungspolitik mit jenem Zeitgeist, den sie oft genug selbst beschworen hat und der ihren Handlungsspielraum nun empfindlich einengt. Dieser Zeitgeist artikuliert sich in den Phrasen, mit denen die Bildungspolitiker landauf, landab die Menschen versorgen: Dass Bildung die wichtigste Ressource für ein rohstoffarmes Land sei, dass Bildung niemanden ausschließen dürfe, dass Bildung zuständig für alle Formen der Integration und Inklusion sei, dass Bildung die sozialen Defizite der Gesellschaft ausgleichen könne, dass Bildung der Schlüssel für eine gedeihliche Zukunft sei, dass Bildung Wettbewerbsvorteile für alle verschaffe, dass Bildung gegen politische Vereinfacher und Verführer schütze und dass all dies gelingen könne, wenn sich die Bildung nur endlich modernisierte und auf Digitalisierung und Kompetenzen setzte. Dadurch werden die Bildungspolitiker zum Opfer ihrer eigenen Glaubenssätze. Sie versprechen einfach zu viel, was andere – die Lehrer und Schüler, die Professoren und Studenten – dann halten sollen. Das geht in der Regel nicht gut und verschärft den Druck. Die Qualität eines Bildungspolitikers wird an den institutionellen Reformen gemessen, die er initiiert und durchführt oder wenigstens begleitend beforschen lässt. Um der in Deutschland ja immer drohenden Bildungskatastrophe zu entgehen, setzt der Bildungspolitiker Bildung mit ihrer Reform gleich. Jede pädagogische Mode artikuliert sich deshalb gleich als Reformvorhaben, das der Bildungspolitik zur Realisierung überantwortet wird. Und da kein Bildungspolitiker als Reformverweigerer – dies wäre ein politisches Todesurteil – erscheinen möchte, jagt eine Reform die andere, werden Lehr- und Studienpläne ständig verändert, adaptiert, neu gefasst und neu geschrieben, Unterrichtsmethoden werden einerseits dem pädagogischen Innovationsfuror, andererseits dem technischen Fortschritt gnadenlos angepasst, Schulformen und Studienrichtungen werden in großer Zahl neu produziert, Unterrichtsfächer neu definiert, wild zusammengewürfelt, abgeschafft oder infrage gestellt, Lehrer werden nicht mehr für die Vermittlung von Fachwissen und Kulturtechniken, sondern für soziale Kompetenzen welcher Art auch immer ausgebildet, und alle Beteiligten werden einem ständigen Verunsicherungsprozess unterworfen. Das macht das Regieren leicht, den Erwerb von Bildung aber schwer. Dass dieser dennoch immer wieder gelingt, hat weniger mit den Erfolgen der Bildungspolitiker zu tun, sondern wohl eher damit, dass sich viele Beteiligte und Betroffene den Vorgaben der Politik ohne große Worte stillschweigend widersetzen und das tun, was sie für richtig halten und immer getan haben.

Die Bildungsforscher

Kaum ein Wissenschaftszweig erlebte in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung wie die empirische Bildungsforschung. Zum einen verdankt sich dieser einer einfachen Umbenennung: Aus Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern wurden Bildungsforscher. Keine Frage, das klingt wesentlich besser. Während auch für denjenigen, der die Etymologie von Pädagogik nicht genau kennt, in dieser noch der Knabe, das Kind mitschwingt, das auf den rechten Weg geführt werden soll, hat Erziehung seit den 1960er-Jahren ohnehin einen schalen Beigeschmack. Nur als antiautoritäre konnte sie reüssieren, und junge Menschen heute noch erziehen zu wollen, verträgt sich weder mit dem Glauben an die kindlichen Talente und Begabungen, die nur ihrer Entfaltung harren, noch mit der Autonomie der kleinen Subjekte, die keine pädagogischen Vorgaben mehr verträgt. All diese zweideutigen und missliebigen Konnotationen hat der Bildungsforscher abgeworfen, die Bildung zu erforschen, oder noch besser: zu beforschen, ist doch ganz etwas anderes, als sich zu fragen, wie eine junge Generation belehrt oder erzogen werden soll. Zum anderen gründet die Karriere der Bildungsforscher in einer ebenso einfachen wie bestechenden Überlegung: Man muss nicht wissen, was Bildung ist, es genügt, sie zu messen. Also wird tagaus, tagein gemessen, was irgendwie in den Verdacht gerät, dass es dabei um Bildung gehen könnte. Messen kann man das, was ohnehin geschieht, oder das, was man in einem eigens konstruierten Testverfahren zur Messung arrangiert. Alles dient der Erhebung von Daten, die wieder der Bildungspolitik als Entscheidungshilfe offeriert werden. Und deshalb wird seit geraumer Zeit getestet und evaluiert, verglichen und erhoben, korreliert und prognostiziert, dass es nur so eine Freude ist. Die Lernleistungen der Dreijährigen werden ebenso flächendeckend getestet wie die Schlüsselkompetenzen der 15-Jährigen, die Teamkompetenzen der deutschen Jugend sind ebenso Gegenstand internationaler Vergleichsstudien wie die mathematischen Fähigkeiten von Studienanfängern, die finanziellen Aufwendungen pro Schüler werden ebenso erhoben wie die Lebensarbeitszeiten von Lehrern mit und ohne Pausen, die Abiturnoten vor und nach der Zentralisierung von Reifeprüfungen müssen genauesten erfasst werden, ebenso die Studienzeiten vor und nach der Einführung Bologna-konformer Studienpläne. Das Ergebnis all dieser aufwendigen und angestrengten Bildungsforschung kann sich dann auch sehen lassen. Noch nie, so können wir zusammenfassend lesen, war eine Generation – zählt man die tertiären Abschlüsse – so gebildet wie heute, noch nie war aber auch die Rate der funktionalen Analphabeten so hoch, die Abiturnoten werden immer besser, die Studierfähigkeit nimmt aber ab. Auch in der Bildungsrepublik kommt es – und für dieses Wissen sei den Bildungsforschern gedankt – zu messbaren Unterschieden zwischen den Menschen, und irgendwie bewegt sich Deutschland bildungsmäßig immer im Mittelfeld. Aber wenn nichts geschieht, wird es untergehen. Reformbedarf ist angesagt.

Die Bildungsexperten

In der Bildungsrepublik wimmelt es von Bildungsexperten. Noch nie verstanden so viele Menschen so viel von Bildung wie heute. Überall treiben sich die Bildungsexperten herum, in den Redaktionsstuben und bei Elternabenden, in den Vorzimmern der Macht und in den Feuilletons, in den Talkshows und auf dem Campus. In früheren Leben waren sie Psychologen oder Hirnforscher, Philosophen oder Unternehmer, Physiker oder Esoteriker, nun wissen sie, wie Bildung endlich gelingt. Es gibt, bei allen herkunftsbedingten Unterschieden, einige markante Grundüberzeugungen, die die Bildungsexperten teilen. Fast alle sind gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, dass Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hoch talentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden. Die Welt des Bildungsexperten ist eine, in der alle Menschen nur mehr in ihrer Besonderheit gleich sind. Alle sind hochbegabt, aber jeder auf seine Weise. Unter solchen Prämissen wundert es nicht, dass der pädagogische Zeitgeist, flankiert von Genetik und Hirnforschung, nichts so sehr fürchtet wie den Durchschnitt und das Mittelmaß. Normalität ist das neue Schreckgespenst einer Zeit, in der Besonderheit zur Norm geworden ist: Nur nicht in die Durchschnittsfalle tappen, nur nicht gewöhnlich sein, nur nicht Mittelmaß, da wir doch im globalen Wettbewerb nur noch mit dem Außergewöhnlichen punkten können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Talente zu verschenken – so das Credo, das schon besser den eigentlichen Hintersinn dieser Kinderfreundlichkeit erkennen lässt. Gemeinsam ist den Bildungsexperten eine grundsätzliche Kritik an den rezenten Bildungseinrichtungen: Diese seien antiquiert, dem Geist der Kasernenschulen des 19. Jahrhunderts verhaftet, es dominiere dort noch immer der Frontalunterricht, die einzelnen Schüler würden in ihrer Besonderheit und Individualität weder wahrgenommen noch gefördert, die neue Welt mit ihren wunderbaren technischen Möglichkeiten gehe spurlos an diesen Einrichtungen vorüber, und Kreativität werde flächendeckend vernichtet. Genau deshalb aber fordert der Bildungsexperte nicht nur die eine oder andere weitere Reform, nein, er fordert die »Bildungsrevolution«. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben, alles muss sich ändern: wie gelernt wird, was gelernt wird, wo gelernt wird, mit wem gelernt wird. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt, und vorstellen kann man sich vieles. Entscheidend dabei sind vor allem zwei Ansatzpunkte: Die zunehmende Identifizierung von Lernen und Leben und das damit einhergehende Verschwinden des Lehrers und der Schule. Wenn es nichts mehr zu vermitteln gibt, weil nur noch solche Fragen interessieren, die sich dem jungen Leben unmittelbar stellen, dann wird auch der Lehrer überflüssig. Er hat nichts mehr zu lehren, denn das Leben lernt sich ja ohnehin von selbst. Nein, nicht ganz von selbst, ein bisschen Betreuung kann dann doch nicht schaden. Der Lehrer wird nach dem Willen der Bildungsexperten deshalb zum Coach, zum »Lernbegleiter«, der Schüler wird zum »Lernpartner«. Man begegnet sich auf Augenhöhe, der Lernbegleiter bietet nur dann Hilfe an, wenn der Lernpartner sie von sich aus einfordert. Im Prinzip aber lernt der Lernende autonom und selbstbestimmt, und er kontrolliert auch selbst seinen Lernfortschritt. Die Bildungsexperten und ihre Adepten in der Politik und der Öffentlichkeit haben es geschafft, dass es einige pädagogische Glaubenssätze gibt, denen nur mehr um den Preis, als hoffnungslos reaktionär zu gelten, widersprochen werden könnte. Dazu gehören die beliebten Thesen, dass es nichts Schlimmeres als Frontalunterricht und nichts Besseres als Projektarbeit gäbe, dazu gehört die Vorstellung, dass sich alles in Wohlgefallen auflöste, wenn man endlich mit einem konsequenten Modularisieren ernst machte, dazu gehört der Hinweis, dass schematisierte Unterrichtsstunden eigentlich ein Übel seien, dazu gehört der Glaube, dass zwar das Lernen individualisiert, das Unterrichten aber in Form des »Teamteachings« kollektiviert werden müsse, dazu gehört die feste Überzeugung, das Ziffernnoten ungerecht, verbale Beurteilungen, die sich dem Zeitgeist, den Erwartungen der Eltern und der Phraseologie der Empathie beugen, gerecht seien, und dazu zählt auch die Vorstellung, dass traditionelle Fächer und Disziplinen zugunsten von problemorientierten Vernetzungen, Clustern und Bündeln aufgelöst werden müssten. Es ist nicht zuletzt das Verdienst der Bildungsexperten und des von ihnen stark beeinflussten Bildungsjournalismus, dass »Schüler« und »Lehrer« nicht mehr zu den Bewohnern der Bildungsrepublik gehören. An deren Stelle tummeln sich nun Schimären, nämlich die Selbstlerner und ihre Lernbegleiter, denen wir hier allerdings kein weiteres Augenmerk schenken wollen.

Die Bildungspropheten

Von den Bildungsexperten nur graduell unterscheiden sich die Bildungspropheten. Diese gelten – ganz im Gegensatz zum Sprichwort – im eigenen Land sehr viel. Es sind die Mahner und Warner, die nicht müde werden, zwei Dinge zu skizzieren, die essenziell seit alters her zum Geschäft des Propheten gehören: die Apokalypse und die Erlösung. Seit den 1960er-Jahren sind die Apokalyptiker aus dem deutschen Bildungsgeschehen nicht wegzudenken, und sie gehören zu den beliebten und angesehenen Bewohnern der Bildungsrepublik. Sie verkünden stets die nahende, drohende, sich abzeichnende, in Ansätzen schon sichtbare Bildungskatastrophe, die, wenn nichts geschieht, Deutschland zurückwerfen und zu einem armen und armseligen Land verkommen lassen wird. Indikatoren für die nahende Katastrophe sind jene harten Fakten, die von manchen Bildungsforschern geliefert werden: zu wenige Abiturienten, zu wenige Bachelors und Masters, zu wenige Eliteuniversitäten, zu wenig Integration und Inklusion, zu wenig Diversität, zu wenig Chancengerechtigkeit, vor allem aber: zu wenig Digitalisierung. Die Bildungskatastrophe drückt sich immer in einem Zuwenig von allem Möglichen aus, nie jedoch in einem Mangel an Bildung. Mangelnde Beherrschung der traditionellen Kulturtechniken zum Beispiel ist kein Grund zur Besorgnis – wer nicht lesen kann, kommuniziert dafür über Emojis; mangelnde Studierfähigkeit disqualifiziert noch lange nicht für ein Studium – die Universitäten sollen halt entweder Brückenkurse für Anfänger und Fortgeschrittene einrichten oder endlich akzeptieren, dass rationalitätslastiges und logozentrisches akademisches Fachwissen mit modernen sozialen und emotionalen Kompetenzen ohnehin nicht kompatibel ist, und sich allmählich darauf einstellen. Vor einem Bildungsverlust hat der Bildungsapokalyptiker keine Angst, ein mittelmäßiges Abschneiden bei einem PISA-Test oder eine Akademikerrate, die den Vorgaben der OECD nicht entspricht, stürzen ihn jedoch in Verzweiflung. Gar nicht verzweifelt sind die Heilsbringer unter den Bildungspropheten. Sie wissen, was getan werden muss, um der bildungspolitischen Erlösung teilhaftig zu werden. Das, was getan werden muss, ändert sich allerdings mitunter ziemlich schnell, auch das pädagogische Heil muss sich der dynamischen Entwicklung unserer Gesellschaft anpassen. Galt nach den ersten PISA-Tests die flächendeckende Umstellung von Lernzielen auf Kompetenzen und dementsprechend die Kompetenzorientierung der Lehr- und Studienpläne als Weg zur Erlösung, wurde dieser bald ergänzt und abgelöst durch Anleihen aus den diversen Managementheilslehren. Evaluation, Qualitätssicherung, Praxisrelevanz, Synergieeffekte und Classroom-Management versprachen zusätzliches Erlösungspotenzial. Seit Kurzem aber wird dies alles in den Schatten gestellt durch den Ruf nach Digitalisierung der Bildung, in der sich ein göttlicher Geist offenbart, der alles zum Besseren wenden wird. Bildung 4.0 lautet das Zauberwort – dass niemand weiß, was Bildung 1.0, 2.0 und 3.0 gewesen waren, tut nichts zur Sache. Schnelles Internet und Tablets, mit denen nun die Schulen ausgestattet werden sollen, werden, so die frohe Botschaft der Propheten, junge Menschen so auf die digitale Zukunft vorbereiten wie der rechte Glaube einst die Christenmenschen auf den jüngsten Tag.

Die Bildungsreformer

Der Bildungsreformer stellt die angewandte Form des Bildungsexperten und die zur Praxis geronnene Variante der Bildungspropheten dar. Er versucht, deren Ratschläge umzusetzen. Manchmal sitzt er in einer Regierung, dann wieder in den für Wissenschaft, Bildung und Unterricht zuständigen ministeriellen Abteilungen, manchmal gehört er zum inneren Kreis der staatlichen Bildungsbürokratie , manchmal ist er ausgelagert. Manchmal war er in einem früheren Leben Lehrer oder Fachdidaktiker, Direktor einer Schule oder Sekretär einer Partei, manchmal war er Unternehmensberater oder Coach. Fortschritt ist für ihn gleichbedeutend mit Reform, und je mehr Reformen es gibt, umso besser wird die Welt. Aber die Welt, vor allem die Welt der Bildung erweist sich als uneinsichtig und tendenziell als reformfeindlich, wohin er blickt, sieht er einen Reformstau, und unermüdlich kämpft er gegen die Blockierer und Reformverweigerer. Er selbst ist natürlich reformfreudig, und er weiß den Fortschritt auf seiner Seite. Denn zwei Dinge sind in einer modernen Gesellschaft ausgeschlossen, und das bestärkt ihn in jedem seiner Reformvorhaben: der Stillstand und der Rückfall hinter eine Reform. Den Bildungsreformern verdanken wir Bologna, den kompetenzorientierten Lehrplan Plus, dreidimensionale Kompetenzraster, unlesbare Modulhandbücher und den ständigen, dynamischen Wechsel zwischen G 8 und G 9. Den Bildungsreformern verdanken wir den Wechsel der Unterrichtsmethoden, die wunderbare Erfindung des Projektunterrichts und neuerdings die geradezu kantianisch anmutende Errungenschaft des autonomen Lernens. Dieses korrespondiert freudig mit dem Flipped Classroom, was bedeutet, dass die jungen Selbstlerner sich die nötigen Kompetenzen zu Hause autonom erwerben und in der Schule dann mit ihrem Lernbegleiter nur noch die letzten offengebliebenen Fragen diskutieren. Das ist zwar nicht immer ganz so innovativ wie die dazugehörige Rhetorik es propagandistisch verheißt, aber früher wäre einfach niemandem eingefallen, die Tatsache, dass Schüler etwa zu Hause einen Text von Franz Kafka lesen und dann darüber imUnterricht diskutieren, als Flipped Classroom zu bezeichnen. Auf all diese Ideen muss man erst einmal kommen, und deshalb wächst der Anteil der Bildungsreformer, gemessen an der Gesamtzahl der Bewohner der Bildungsrepublik, auch stetig an. Als neuestes Reformvorhaben haben die Bildungsreformer nun die Digitalisierung auf ihre Fahnen geheftet, in enger Verbindung zu den digitalen Industrien, den dazugehörigen Stiftungen und einer zukunftsoffenen Bildungspolitik propagieren sie das Programmieren, modisch auch Coding genannt, als neue Kulturtechnik und forcieren die Blasen der sozialen Netzwerke als die entscheidende pädagogische Realität. Eigentlich kafkaesk. Aber Kafka steht in keinem Lehrplan mehr.

Die Bildungskritiker

Wo viel Licht, da gibt es auch Schatten. Die von Experten, Propheten und Reformern mit Modernisierungsschüben durchflutete Bildungsrepublik hat auch ihre dunklen Seiten. Diese personifizieren sich in den Bildungskritikern. Sie kritisieren natürlich nicht die Bildung, sondern das, was unter diesem Titel gegenwärtig gehandelt wird. Es sind notorische Zweifler, Skeptiker, Querulanten, Konservative, Verweigerer und Ketzer, die sich hier zusammenfinden, sie sind wenige, aber sie kommen von allen Seiten, von rechts und links, von oben und von unten. Sie bezweifeln die Sinnhaftigkeit einer empirischen Bildungsforschung, die glaubt, ohne eine Theorie der Bildung auskommen zu können. Nachdrücklich kreisen ihre Gedanken um die Frage, wie es eigentlich wäre, wirklich gebildet zu sein. Gemeinsam ist ihnen auch die Ablehnung all dessen, was alle anderen lieben: PISA und Bologna, Digitalisierung und Kompetenzorientierung, Chancengerechtigkeit und Inklusion, Wettbewerb und Standardisierung. Diese Ablehnung kann aber völlig unterschiedliche Gründe haben. Die einen verstehen sich als Humboldtianer und sehnen sich nach dem humanistischen Gymnasium, den Bildungsgütern der Antike, der Pflege der Musen und nach einer Universität, in der die Freiheit der Wissenschaft und die Einheit von Forschung und Lehre gelebt, vom Staat finanziert, aber nicht kontrolliert werden. Die anderen haben in jungen Jahren Theodor W. Adornos Theorie der Halbbildung gelesen und sehen diese mittlerweile flächendeckend verwirklicht. Überall, in jeder Evaluation, in jeder Reform, in jeder qualitätssichernden Maßnahme wittern sie eine Ökonomisierung der Bildung aus dem Ungeist des Neoliberalismus, die Vernichtung jedes kritischen Bewusstseins, die Degradierung junger Menschen zu Sozialkapital und die Unterwerfung der Bildung unter die Interessen der Konzerne. Manche Bildungskritiker beklagen den Verlust der Leistung im Bildungsbereich, die Nivellierung der Anforderungen und die Inflation der guten Noten. Für sie sollte ein Abitur noch etwas mit umfassenden Kenntnissen zu tun haben und ein akademischer Abschluss mit wissenschaftlichen Qualifikationen. Sie verteidigen eisern, aber vergebens das Wissen gegen den Angriff durch die Kompetenzen. Andere wiederum beklagen die Degradierung von Bildung zur wirtschaftsnahen Ausbildung, sie verweisen auf die unsicheren Arbeitsmärkte der Zukunft, um eine Bildung zu propagieren, die auf Persönlichkeit, Charakter, Offenheit und Neugier setzt. Gemeinsam ist ihnen aber der Widerwille gegenüber einer reformorientierten Bildungsdynamik, die sich in immer mehr quantifizierenden Verfahren, Kontrollen und Tests niederschlägt. In der Bildungsrepublik sind sie mittlerweile zur Minderheit geworden, kaum gehört und oft einem politischen Spektrum zugeordnet, dem sie nie angehören wollten.

Die Bildungsnahen und die Bildungsfernen

Die Bildungsnahen und die Bildungsfernen sind erst seit Kurzem zu Bewohnern der Bildungsrepublik geworden. Auf einmal waren sie da, und keiner weiß, woher sie kamen. Sie ersetzen auch nicht die aus früheren Epochen bekannten Gebildeten und Ungebildeten. Denn ihr Verhältnis zur Bildung ist rein geografisch bestimmt. Hatte sich der Gebildete offenbar eine bestimmte Form der Bildung wie auch immer angeeignet und war ihm diese zu einem Charaktermerkmal geworden, das dem Ungebildeten eben fehlte, sind die Bildungsnahen und Bildungsfernen nur durch ihr räumliches Verhältnis zur Bildung bestimmt. Während etwa für ein Kind aus einem bildungsnahen Milieu das nächste Buch in greifbarer Distanz steht, müsste das Kind aus einem bildungsfernen Milieu in einen anderen Stadtbezirk fahren, um ein solches zu finden. Oder: Der bildungsnahe Jugendliche kann schon einmal mit seinen Eltern an einem Universitätsgebäude vorbeischlendern und erfahren, dass diese dort studiert hatten; der bildungsferne Jugendliche kennt zwar bald die Nähe der sozialen Netzwerke und der digitalen Endgeräte, seine Wege führen ihn aber weder zu Theatern noch Museen. Für Bildungsnahe wie für Bildungsferne muss Bildung also etwas sein, das lokalisierbar ist, und je nach eigenem Standort ist man dieser Location dann näher oder ferner. Aber auch für den Bildungsnahen bleibt die Bildung letztlich unerreichbar, denn er kann ihr ja nur nahe kommen, nie wird er eins mit ihr, also zu einem Gebildeten. Damit umgibt sich die Bildung mit jener Aura, die Walter Benjamin einst dem Kunstwerk zugeschrieben hat: eine Ferne, so nah sie auch sein mag. Allerdings ist die Nähe zur Bildung gegeben, wenn man bestimmte Institutionen besucht hat und Bildungsabschlüsse – am besten Abitur und Bachelor, vielleicht auch noch einen Master welcher Art auch immer – vorweisen kann. Fehlen diese Abschlüsse, helfen auch Kenntnisse, Lektüreerfahrungen und glanzvolle Karrieren nicht weiter, das Attribut der Bildungsferne bleibt hängen, denn es fehlt der Nachweis durch Zertifikate und Leistungspunkte.

Die Bildungsaufsteiger und die Bildungsabsteiger

Wir leben in einer dynamischen und mobilen Gesellschaft. Das kann auch vor der Bildung nicht haltmachen. Es muss sich etwas bewegen, und deshalb ist Bildungsmobilität ganz wichtig. Sehr genau wird von den Bildungsforschern beobachtet, wie sich diese Mobilität gestaltet, wie Bildungsaufsteiger und Bildungsabsteiger die Bildungsrepublik prägen. Entscheidend ist natürlich der Aufstieg. Der geht, wie immer, zu langsam und kann bedauerlicherweise nur von wenigen in Angriff genommen werden. Viele werden daran durch eine versteinerte Bildungslandschaft gehindert. Die Ziele sind ja hochgesteckt. Mindestens 50 Prozent eines Generationenjahrgangs, besser 70 Prozent sollen ein Studium absolvieren, und damit dies möglich ist, müssen viele aufsteigen und ein höheres Ausbildungsniveau als ihre Eltern erreichen. Das ist, vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz, bekanntlich schwer, denn in diesen Ländern, so lesen wir es, wird Bildung vererbt. Das stimmt zwar nicht ganz, denn auch in diesen Ländern steigt die Zahl der Akademiker, deren Eltern keine Akademiker waren, ziemlich rasant an, aber die Rede von der Vererbbarkeit der Bildung ist einfach zu verführerisch. Wie diese Vererbung geschieht, bleibt allerdings im Dunkeln. An die genetische Fixierung und Weitergabe erworbener Eigenschaften ist dabei ja nicht gedacht, und dass man Bildung nicht einfach an seine Nachkommen weitergeben kann wie eine Immobilie, ein gefülltes Bankkonto oder eine goldene Uhr, versteht sich eigentlich von selbst. Gemeint ist wohl, dass Kinder, die in einem bildungsaffinen – auch so ein schönes neues Wort – Elternhaus aufwachsen, mehr Chancen haben, sich über Bildung zu definieren, als Kinder, die in Milieus leben, in denen Sportler, Popmusiker und Dealer aller Art zu den Leitfiguren zählen. In der Formulierung von der Vererbbarkeit der Bildung schwingt aber ein leiser Vorwurf mit: dass dies eigentlich ungerecht sei. Der Vorsprung, den Kinder erlangen, weil ihnen Eltern aus Büchern vorlesen oder klassischen Musikunterricht ermöglichen, dürfte eigentlich nicht sein. Bildungsnähe wird zum moralischen Versagen, wenn sie den eigenen Kindern mehr Chancen einräumt als anderen. Chancengleichheit wird deshalb mitunter gleich als Chancenlosigkeit für alle verstanden. Wäre dem nicht so, hätte sich wenigstens die Redeweise durchgesetzt, dass Unbildung vererbt werde und dass man dagegen etwas tun müsse. Die Bildungsmobilität hält allerdings auch noch andere Tücken bereit, da sie zertifizierte Bildungsabschlüsse zum nahezu alleinigen Indikator auch für soziale Mobilität macht. Der Sohn einer Gymnasiallehrerin, der sein Studium abbricht, eine Partei übernimmt und Bundeskanzler wird, gilt als Bildungsabsteiger, kann er doch im Gegensatz zu seiner Mutter mit keinem akademischen Grad aufwarten; die Tochter eines erfolgreichen Unternehmers ohne Studienabschluss, die ein Pädagogikstudium absolviert und im akademischen Prekariat landet, gilt für die Mobilitätsstatistik aber als Aufsteigerin, denn ihr Bildungsabschluss liegt über dem ihres Vaters. Durch solche Mobilitätsschimären werden wir allerdings nicht weit kommen.

Die Bildungsbürger

Eigentlich wäre es naheliegend, im Bildungsbürger den authentischen Bewohner einer Bildungsrepublik zu sehen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Ausgerechnet der Bildungsbürger hat in einer Bildungsrepublik nichts verloren, er ist verschwunden, im Exil oder in der inneren Emigration. Blicken lassen darf er sich nicht mehr, ohne nicht sofort denunziert zu werden. Bildungsbürger ist ein Schimpfwort, und wer ein Anliegen mit dem Attribut bildungsbürgerlich belegt, hat es damit auch schon erledigt. Warum ist das so? Werfen wir einen kurzen Blick auf die Geschichte des Bildungsbürgers. Es gab vor allem in Deutschland und Österreich ein schmales Segment der bürgerlichen Klasse, das, sich stützend auf die Philosophie und Pädagogik des deutschen Idealismus, mangelnden ökonomischen Besitz und mangelnde politische Macht durch den Besitz von und die Verfügungsgewalt über Bildungsgüter kompensierte. Dem Bildungsbürgertum galt die Bildung deshalb nicht so sehr als Voraussetzung für ökonomischen Erfolg, sondern als ein Wert an sich, dessen Aneignung mit entsprechender sozialer und pekuniärer Anerkennung honoriert werden sollte. Kern des bürgerlich-humanistischen Bildungsbegriffs war der Kanon an exemplarischen Werken der Literatur, der Kunst, der Musik und Philosophie gewesen, mit starker Ausrichtung an den stilbildenden Werken der klassischen Antike. Dieses Kunstverständnis drückte sich auch aus in der Konstruktion von Nationalliteraturen und Nationaltheater, in bürgerlichen Kunstsammlungen und in der Aneignung und Neuschaffung von Opern- und Konzerthäusern, in jenen Musentempeln also, die zu den architektonischen und gesellschaftlichen Zentren des gehobenen bürgerlichen Lebensstils und zu einem wesentlichen Identitätsmerkmal des Bürgertums wurden. Der Anspruch des Bildungsbürgertums, der ihm bis heute nicht verziehen wird, war in der Tat, dass diese Kultur einerseits auf eine exklusive Schicht beschränkt, andererseits aber als Norm und Maßstab für die Kultur eines Landes überhaupt gelten sollte. Das hat einerseits einen Bildungsbegriff befördert, dem wir die Tradierung von klassischen Kunstwerken verdanken, ohne die sich auch die ästhetische Moderne nicht hätte entfalten können. Das hat aber auch andererseits zu jener Karikatur des Bildungsbürgers geführt, der sich über den Rest der Welt erhaben fühlt, weil er »seine Klassiker« als »Zitatenschatz« betrachtet, den sinnentstellend zu plündern er keine Gelegenheit auslassen kann. Die ökonomisch mächtige Bourgeoisie, aber auch viele Vertreter der Handels- und Kaufmannschaft haben übrigens diese Ideale nie wirklich anerkannt und ihre Kinder immer schon lieber auf eine kaufmännische oder technische Schule geschickt, sodass sich das Bildungsbürgertum als eigene Schicht konstituieren musste, deren ökonomische und politische Schwäche durch mitunter höchst bizarre Konstruktionen geistiger Elitenbildung konterkariert wurde. Das Bildungsbürgertum, das sich zeitweilig nicht nur als eigener Stand etablieren, sondern auch dem Bürgertum eine mehr oder weniger verbindliche Kultur vorgeben konnte, die zum Maßstab gesellschaftlich erstrebenswerter Bildung überhaupt werden sollte, ist verschwunden. Die Liquidierung von humanistischem Gymnasium und Humboldt’scher Universität, die Praxisorientierung der Schulen und die Verwandlung von Universitäten in Dienstleistungsbetriebe zeigen beispielhaft die bildungspolitische Seite dieses Prozesses, die Entmachtung der bürgerlichen Kultur als Vorbild und Maßstab kultureller Aktivität überhaupt verweist auf die ästhetisch-normative Seite dieses Bedeutungsverlustes. Mit dem Verschwinden des Kanons und seiner Ersetzung durch ein gültiges Nebeneinander aller ästhetischen Äußerungen, mit der Transformation von Kultur in Lebensstil, hat sich die einstige bürgerliche Leitkultur in ein schmales Segment der globalen Eventkultur verwandelt. Und dennoch verdanken wir den Resten des Bildungsbürgertums die Auslastung von Opern, Philharmonien und Konzerthäusern, das Funktionieren von Theatern und Museen und die wenigstens rudimentäre Weitergabe kultureller Traditionen, ohne die es auch den Kampf gegen diese Traditionen nicht gäbe. Auch wenn der seltene Auftritt des Bildungsbürgers noch immer unangenehm, dünkelhaft, arrogant und im Beharren auf den Vorrang der klassischen bürgerlichen Kultur gegenüber allen Formen der Popularisierung und in seiner Verachtung des Massengeschmacks mitunter ziemlich verstockt, konservativ und peinlich erscheinen mag, ist Häme gegenüber dieser Figur fehl am Platz. Der beliebte Vorwurf, dass der Bildungsbürger die großen Werke der Kunst, die er nur aus Gründen des Prestiges genießt und als soziales Distinktionsmerkmal benutzt, gar nicht richtig verstünde und man deshalb diese Werke vor ihm in Schutz nehmen müsse, greift bei aller Berechtigung zu kurz. Dass diese Werke noch zugänglich sind und sich an ihnen ein kritischer Geist entzünden kann, verdanken wir doch auch diesem seltsamen pseudoelitären Gehabe. Noch in seiner karikaturhaften Verzerrung deutet der Bildungsbürger an, was die Bewohner einer Bildungsrepublik auszeichnen könnte. Dem Bildungsbürger gehört deshalb unsere Solidarität im Augenblick seines Verschwindens.

Konrad Paul Liessmann,geb. 1953, ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Zuletzt erschien Bildung als Provokation.

Der Text erschien in Kursbuch 193 »301 Gramm Bildung«. Dieses und weitere Kursbücher finden Sie in unserem Webshop.