Über Religion und Pop-Musik
Nach dem Verhältnis von Pop-Musik und Religion werde ich gefragt, ich vermute, weil sich da etwas geändert hat.
Religion hat das Opium- und Eskapismus-Stigma verloren und gilt heute als gesellschaftsbildende, womöglich auch gesellschaftskritische Kraft: Die jeweiligen Inhalte mögen noch so bescheuert sein, der Respekt wenigstens vor den Marginalisierten und Ausgegrenzten unter denen, die diese vertreten, verbietet eine vorschnelle Diskreditierung – so das eine Argument. Die Legitimationsressourcen von Religion lassen sich nicht so leicht vermarkten und kommodifizieren – so ein anderes. Die Wende, die man hier in letzter Zeit beobachten kann, besteht also darin, dass ehemals oder auch immer noch klar als Linke identifizierbare und somit gewohnheitsgemäß einer atheistischen Position zugeordnete Personen ein Ernstnehmen oder Neubedenken der politischen Rolle von Religionen und Religiosität fordern. Sie entdecken in der Religion eine Quelle politischer Ethik, die weiter trägt als eine rationale Ableitung der Verhältnisse. Einige gehen so weit, einem religiös gewussten Tatbestand die gleiche Berechtigung zuzubilligen wie einer politischen Überzeugung. Eine (als letzte) übrig gebliebene, außerökonomische Ethikquelle kann zu einem Partner für ökonomiekritisches politisches Handeln und Denken werden, etwa, wenn er jenseits des unmittelbaren staatlichen Einflusses Kirchenasyl anbietet. Darüber hinaus gibt es Figuren wie Alain de Botton, die den Religionen die Ermöglichung bestimmter auch weltlich und politisch nützlicher Denkfiguren zusprechen, die man gebrauchen kann, auch ohne an die übersinnlichen Quellen zu glauben. Schließlich leben wir in der Nachfolge des Kalten Krieges in einer neuen überformenden ideologischen Dichotomie, die mal als eine zwischen Islam und Westen oder auch als eine zwischen Fanatismus und Vernunft verhandelt wird, die natürlich gerade die politische Vernunft dazu anregt, diesen simplifizierenden und mythischen Antagonismus auseinanderzunehmen.
Doch solche politische Lektüre von Religion setzt nicht nur deren differenzierte Organisiertheit und Institutionalität voraus oder ein elaboriertes Schrifttum, sondern auch ein hohes Maß an Rationalität. So verstandene Religion ist oft nichts anderes als eine politische Partei, die gelernt hat, unterschiedliche Ausformungen einer Position unter einem strategisch operierenden Dach zu vereinen. Der Unterschied zur gewöhnlichen und säkularen politischen Organisation liegt oft nur in einer die interne Kommunikation enorm vereinfachenden Praxis, nicht alles infrage stellen zu können und zu dürfen, und damit einen bestimmten Bestand von Überzeugungen aus welchen theologischen Gründen auch immer aus der Tagesdiskussion heraushalten zu können.
Dreifach unwahrscheinliche Kommunikation
Um all dies geht es aber meistens nicht, wenn man über Religion und Musik redet. Denn um mein eigentliches Thema, Pop-Musik und Religion, diskutieren zu können, muss ich es nicht nur von dem eben eingeführten Nachbarthema, Religion als Quelle politischer Positionen, abgrenzen, sondern auch von den Konzepten von Musik und Religion, die auftreten, wenn man Johann Sebastian Bach oder Marvin Gaye zu würdigen ansetzt. Aus beiden auszugrenzenden Themenbereichen fließt aber gleichzeitig Material für das, was im Spannungsfeld zwischen Pop-Musik und Religion passiert.
Ich kann an mir selbst schon lange vielleicht nicht gerade einen Widerspruch, aber doch eine Neigung zur mentalen Arbeitsteilung beobachten, die hier möglicherweise symptomatisch ist. Während ich dazu neige, einen Menschen mit religiösen Überzeugungen jedweder Art für in letzter Instanz nicht ganz satisfaktionsfähig zu halten, als Gesprächspartner nicht wirklich ernst zu nehmen, gehe ich bei der Wertschätzung von Musikern – Musik-Musikern, nicht Pop-Musikern – oft genau umgekehrt vor: Wenn sie nicht eine mindestens mittelgroße religiöse Meise haben, nehme ich sie nicht ernst. Sun Ra, Karlheinz Stockhausen, John Coltrane, Albert Ayler, Olivier Messiaen, Giacinto Scelsi, Pharoah Sanders – alle haben diese Meise in großzügigem Maße und sind natürlich die wunderbarsten Musiker, womöglich besteht da sogar ein Zusammenhang.
Denn Musiker haben das Gefühl, dass sie mit Musik kommunizieren. Sie nutzen ein System von Zeichen, das vorderhand für Kommunikation nicht geeignet ist, erreichen aber über Klang, fixierte Klänge, gescriptete Klänge ohne Semantik die Leute so, als hätten sie ihnen etwas Benennbares mitgeteilt. Oft kann man in Konzertsälen den gleichen Gesichtsausdruck auf einer Reihe von verschiedenen Gesichtern beobachten, als hätten alle diese Hörer gerade die gleiche Mitteilung erhalten, eine uniforme Semantik empfangen. Natürlich ist das nicht im Kontinuum überprüfbar und entspricht auch nicht den inneren Tatsachen: Die Leute empfinden während eines Konzertes etwas, sie ergehen sich in subjektiven, ästhetischen Erfahrungen oder denken an etwas ganz anderes, und dennoch gibt es immer wieder den Moment, in dem viele Leute ganz präzise zeigen, dass sie das Gleiche empfinden. In ekstatischen Jazz-Konzerten stehen sie sogar auf und rufen immer wieder: »Ja, ja, ja«, als würden sie einen präzise übermittelten semantischen Inhalt bestätigen. Botschaft angekommen, Botschaft gut. Ja, ja, ja.
Kunst ist das Gegenteil von Kommunikation, lautet ein Bonmot Adornos, Kommunikation ist unwahrscheinlich, heißt es bei Luhmann. Unwahrscheinlich ist ihr Zustandekommen bereits in der Suppe der Sprache, wo arbiträre Zeichen, Gemeintes, Verstandenes durch verrauschte Kanäle zueinanderfinden müssen – und damit sie sich finden, muss alle darum herumflirrende Kontingenz abgeschnitten und weggerechnet werden. Die Konzentration, die nötig ist, um Kommunikation erfolgreich werden zu lassen, sodass etwa zwei Testpersonen berichten können, sie hätten dasselbe gehört, ist aber darüber hinaus der Feind all der Erfahrungen, die in der Regel als ästhetisch gelten. Kommunikation ist also nicht nur das Gegenteil von Kunst, sie wird unter den Bedingungen von Kunst doppelt unwahrscheinlich. Doch ist Musik nun auch noch eine Kunst, die weder mit symbolischen Zeichen arbeitet, die wenigstens unter bestimmten performativen Rahmenbedingungen eine vereinbarte Bedeutung besitzen, die bekannt ist, sodass Kommunikationserfolge möglich sind; noch arbeitet Musik mit Bildern oder Bildzeichen, die über eine ikonische Ähnlichkeit mit dem Gemeinten verfügen. Musikalische Kommunikation operiert also ebenfalls mit arbiträren Zeichen wie die Wortsprache – von programmmusikalischen Ausnahmen abgesehen –, aber ohne konventionell festgelegte Bedeutung, und erzielt trotzdem und als Kunst kommunikative Erfolge – das ist dreifach unwahrscheinlich. Es ist nicht nur ein Wunder, sondern ein Mirakel religiösen Zuschnitts.
Musiker sind Leute, die dieses Wunder nicht nur regelmäßig, ja berufsmäßig beschwören und evozieren, sie müssen auch über irgendeine Erklärung verfügen, warum sie das können. Je klassischer, verschulter, konventioneller ihre Ausbildung, desto leichter entstehen Rationalisierungen rund um Arbeitsethik und Regelfolgen, Üben und Begabungen. Ein solide ausgebildeter, verbeamteter Orchestermusiker braucht keine spirituelle Macke. Diese Leute sind also nicht unbedingt Kandidaten für religiöse Selbstbeschreibungen. Unkonventionelle, autodidaktische, aber auch revolutionäre und innovative Musiker hingegen haben für das wiederholte Gelingen des Wunders musikalischer Kommunikation keine andere mögliche Erklärung, als dass sie »ein Instrument Gottes« (John McLaughlin) seien, dass sie vom Saturn stammten (Sun Ra), dass es sie von Sirius ins Rheinische verschlagen habe (Karlheinz Stockhausen), dass sie als Gott Ohnedaruth nur vorübergehend auf Erden ein Gastspiel als John Coltrane spielten (Alice Coltrane) und dergleichen mehr.
Nun entspricht das Religiöse in diesen Erklärungen für das Wunder der musikalischen Kommunikation nicht dem oben beschriebenen Typ von Religion als Quelle von Ethik. Noch handelt es sich bei dieser Musik – neue komponierte Musik, Free Jazz – um Pop-Musik. Die Religiosität, die als Erklärung dafür auftritt, dass auf Hupen und Überblasen ergriffene junge Menschen mit »Ja, ja, ja« antworten oder sich umarmen, ist vielleicht eher das, was in der neueren Alltagssprache Spiritualität heißt und seltener mit Amtskirchen, Organisationen und Grundsätzen verbunden ist als mit dem Sprach- und Namenlosen, vielleicht mit Mystik, also dem Typus von Offenbarung, der von den zuständigen Religionspolitikern innerhalb der religiösen Organisationen gerne verbannt und ausgeschlossen wird. Wenn überhaupt, dann gibt es bei Ritualen wie dem Zungenreden und dem Testifying in afrobaptistischen Gottesdiensten und in einigen synkretistischen Ritualen Mittel- und Südamerikas choreografische und auch musikalisch-dramaturgische Ähnlichkeiten mit dem Wunder der Musikbedeutung.
Im Unterschied zu spirituellem Free Jazz oder kosmologischen Komponisten arbeitet Pop-Musik aber nicht im Sinne einer »absoluten Musik« (Eduard Hanslick), die sich von Texten, Anlässen etc. seit gut 200 Jahren immer weiter entfernt hat. Pop-Musik ist als Medium, Genre, Disziplin dadurch gekennzeichnet, dass sie maximal viele heterogene Medien und Ausdrucksformen, ja Lebensbereiche integriert und miteinander verbindet. Pop-Musik ist Musik plus Bilder, sie basiert auf der von Fans vollzogenen Verbindung eines medial verbreiteten Bildes oder Bewegtbildes mit einem Recording, einer technischen Tonaufzeichnung; dazu kommen Texte, soziale Rituale und anderes mehr. Dass hier Bedeutungen ankommen, ist weit weniger wunderbar als bei Musik-Musik oder gar bei improvisierter Musik: »(M)usicians will tell you that it is a religious experience«, heißt es in einem Liner-Notes-Text aus einer zufällig herausgegriffenen Free-Jazz-Platte. Diesem Effekt stehen in der Pop-Musik einfach zu viele Kon- und Paratexte im Wege; sie alle liefern verlässliche Wege zu Bedeutungsursprüngen, die man gut zurückverfolgen kann.
Ekstase durch Wiedererkennung
Und dennoch gehört es zur Geschichte der Pop-Musik, dass sie Menschen in (mindestens: parareligiöse) Ekstasen versetzt, in the long run sogar noch etwas länger, als Jazz das vermocht hat. Man wird heute selbst bei besonders hingebungsvollen Fans und Kennern relativ selten erleben, was vielleicht bei Coltrane-Konzerten und Sun-Ra-Ritualen in den 1960er- und 1970er-Jahren noch an der Tagesordnung war: Ekstasen und Schreie, bezeugendes Rufen und jenes Testifying, das man aus afrobaptistischen Gottesdiensten kennt. In der Pop-Musik hingegen ist in den sechs Jahrzehnten zwischen Elvis und Lana Del Rey das Außer-sich-Sein nie aus der Mode gekommen. Das liegt daran, dass es das Wunder hier auch gibt, nur dass es nicht wie in der Musik-Musik von einem Wunder der Sprache ausgelöst wird: Ein leeres Symbol wird von Fleisch und Wahrheit erfüllt. In der Pop-Musik haben wir es mit einem Wunder der Stimme zu tun und mit der Magie der Medien, die sie aufzeichnen und übertragen.
In Ekstase versetzt werden Pop-Musik-Anhänger durch das Wiedererkennen einer medial übertragenen Stimme. Die Erregungseffekte in Konzerten und anderen Situationen werden ausgelöst über das Wiedererkennen einer Stimme oder eines Sound Effects aus einer früheren Situation, das eingebettet ist in sekundäre Attraktionen wie Beats und Power Chords und natürlich die visuelle Inszenierung dieses Wiedererkennens. Dabei ist es entscheidend, dass ich nicht die Melodie wiedererkenne, das lässt mich kalt. Ich erkenne eine einmalige, kontingente Körperlichkeit wieder, die durch das Wiedererkennen ihre Kontingenz verliert: Jetzt muss sie so klingen, denn es ist ja dieselbe wie beim letzten Mal. Die sterbliche Stimme wird unsterblich.
Während Musik-musikalische Ekstase von dem Sprechendwerden des leeren Symbols in einer Live-Inszenierung mit einem co-präsenten Publikum lebt, braucht die Pop-musikalische Ekstase zwei Orte, die vom Rezipienten miteinander verbunden werden: einen intimen Ort einerseits – zu Hause oder unter dem Kopfhörer von iPod und Walkman –, andererseits einen öffentlichen Ort, gemeinsam mit einem co-präsenten Publikum und einem wiederzuerkennenden Star im Konzert oder auch nur dessen wiederzuerkennender Stimme an einem öffentlichen Musikort. Das Unsterblichwerden findet in der Pop-Musik vor dem Hintergrund einer überwundenen Distanz zwischen Intimsphäre und Öffentlichkeit, zwischen Schlafzimmer und Klub oder Straßenecke statt.
Das Wunder, welches also hier das alte Musikwunder an Geschwindigkeit und Genauigkeit überbietet, ist das der technischen Aufzeichnung eines lebenden Menschen: Dieses Wunder funktioniert aber nur, wenn sein tautologischer Kern – diese Stimme ist die wirkliche körperliche Spur von David Bowie, Mick Jagger, Beyoncé, Miley Cyrus, die ich von Bildern kenne – eingebettet ist in Deutungen, die durch Zeichen anderen Typus möglich werden, langsamere Zeichen, nämlich statt Indizes Symbole und Icons; Texte, Logos, Design. Dieses Einbetten ist aber im Gegensatz zur Einbettung der Jazz-Ekstasen in gottesdienstartige Situationen der Co-Präsenz darauf ausgerichtet, intensive und lapidare Momente miteinander zu verschalten, ohne dass Enttäuschung und Banalisierung aufkommt. Die Pop-Musik, vor allem die heutige, ähnelt insofern den Religionen ersten Typus, den integrierenden, vergesellschaftenden, antimystischen mehr als der radikalen Spiritualität und Mystik der feurigeren Spielarten des Jazz. Im Pop-musikalischen Zentrum gibt es zwar noch einen übersinnlich heiligen Kern, einen Gottesindex wie das Schweißtuch der Veronika oder den Bildabdruck der Virgen de Guadalupe, die Musik aber ist kulturindustriell oder künstlerisch von Narrativen und institutionellen Gebilden umstellt und kontextualisiert, die für entdramatisierende Ausgänge sorgen.
Seit gefährlich außer sich geratene Teenager auf weltweit verbreiteten Fernsehbildern bei Beatles-Konzerten des Jahres 1964 zu sehen waren, die nur deswegen so überdrehten, weil sie die Personen auf einer Bühne an Stimme und Bild wiedererkannten, die ihnen so oft mit hochaufgelösten Stimmen in ihren privaten Gemächern in intimen Momenten pubertärer Verunsicherung begegnet waren, hat es eine Reihe von Maßnahmen gegeben, nicht nur an dieser Form der Ekstase zu verdienen, sondern auch sie einzuhegen und planbar zu machen, aus ökonomischen ebenso wie aus gouvernementalen Gründen.
Seitdem gibt es aber auch immer wieder Versuche von sich als Reformbewegungen gerierenden Kräften, den originalen Schock wiederherzustellen und zur Bildung quasireligiöser Gemeinschaften zu nutzen: dem charismatischen Wiedererkennungseffekt, der, konstruiert rund um Stimme und andere körperliche Kennzeichen (auch solche von mit ihnen verbundenen Maschinen, denn Cyborgs sind in der Pop-Musik bei Menschen immer mitgemeint) und auditiv und visuell übermittelt, in der Pop-Musik im Mittelpunkt steht, etwas hinzuzufügen, das anders funktioniert. Diesen Wiederkennungseffekt neben das andere Religiöse, das Nichtorganisierte, das Spontane, die von co-präsenter Communitas lebende Spiritualität als Kontext, als gewissermaßen Verwandten aus der Musik-Musik. Pop-Musik ist zwar zur Welt gekommen mit einer anderen Art von Wunder, dem medialen Wunder der Stimmübertragung, aber warum sollten sich beide nicht verbinden lassen? Schließlich misstrauen Religionen traditionell den Bildern, nicht aber den Indizes und auch nicht den plötzlich sprechend werdenden leeren Zeichen, dem Sprechen in Zungen, und nichts anderes passiert mit der Musik.
Dies hat es mindestens dreimal und mit einer Modifikation sogar viermal in der Geschichte der Pop-Musik gegeben, vielleicht sogar ein fünftes Mal. Zum ersten Mal in der Hippie-Kultur natürlich, in der die intensive, freie Improvisation Pop-Songs in die Länge zog, sodass die alte charismatische indexikale Übertragungsbedeutung und das Wunder der Sprechendwerdenden eigentlich asemantischer Symbole unmittelbar auseinander hervorgingen und sich gegenseitig kontextualisierten. Wahrscheinlich wäre Jimi Hendrix hier das schlagende Beispiel, der die elektrische Offenbarung improvisierte und nicht nur Töne, sondern auch Geräusche fand, die plötzlich und unmittelbar verstanden wurden und perfekt zusammenpassten mit seiner charismatischen, sofort zu erkennenden Stimme und der coolen Rhetorik seines Vortrages. Dass sich diese Kombination hervorragend auch für eine Politisierung jenseits repräsentativer Modelle von Politik eignen würde, lag auf der Hand und wurde vielfach erprobt.
Der zweite und damit zusammenhängende Fall findet sich in der Befreiungsreligion der Rastafari und des Reggae. Hier war der charismatische Performer zwar eher so konstruiert wie beim herkömmlichen Pop, doch die rein spirituellen Wunder fanden auf den B-Seiten der Singles in den Versions und Dub-Fassungen statt; der alttestamentarisch-reaktionäre Überzeugungsbestand vieler ihrer Songs (die Unreinheit von menstruierenden Frauen zum Beispiel) stand ihrer Rezeption als ebenso schöne wie antiimperialistische Freiheitskämpfer nicht im Wege. Die erste postkoloniale Pop-Musik wurde nicht buchstäblich, sondern symbolisch rezipiert. Sie hatte nicht nur im Westen, sondern auch überall in der damals so genannten Dritten Welt, vor allem auf beiden Seiten des Black Atlantic, Anhänger gefunden. Denen waren die Spezifika dieser von dem Black Nationalist Marcus Garvey gestifteten und von der Göttlichkeit des äthiopischen Ex-Kaisers Haile Selassie überzeugten Religion egal, sie fühlten sich aber dennoch auf einer Ebene angezogen, auf der die Politik, spezifisch afrodiasporische, schwarz-nationalistische Politik, auf religiöse Überzeugungen zurückgeführt wurde. Was wäre, fragt man sich etwas zugespitzt dieser Tage, was wäre, wenn die Taliban, die sich ja auch ziemlich cool anziehen, gute elektrische Songs hätten? In Indonesien gibt es jedenfalls dschihadistischen Metal, im Senegal islamistischen HipHop.
Tatsächlich spielt der Islam im dritten Fall auch eine Rolle. Dieser politische Islam der sogenannten Nation of Islam, einer seit den 1940er-Jahren in den USA als Alternative zu weltlichen Bürgerrechtsorganisationen auftretenden Bewegung, die nicht zuletzt wegen ihrer schrägen Mythologie und ihres flagranten Antisemitismus lange Zeit von der offiziellen Linken als nicht ernst zu nehmend eingestuft wurde, argumentierte separatistisch und nationalistisch und war die ursprüngliche politische Heimat von Malcolm X. Im HipHop der späten 1980er-Jahre gewann die Sekte enorm an Zulauf. In derselben Zeit lieferte die neu zugänglich gewordene Sampling-Technologie die Möglichkeit, das Wunder der technischen Aufzeichnung endlos zu multiplizieren. Man kann aus einem unbegrenzten Archiv historische Stimmen und andere Realweltaufzeichnungen der eigenen Stimme hinzufügen. Das heißt, dass gerade durch HipHop und seine in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren hauptsächlich schwarz-nationalistische Politik diese Stimmen, alte Malcolm-X-Ansprachen, Verkehrsgeräusche zu einer historiografischen Musique concrète der afroamerikanischen Geschichte kumulierten, die nun nicht mehr nur die Stimme der charismatischen Person, sondern nach derselben technischen Wundergrammatik quasi das Nacheinander der afrodiasporischen Vergangenheit als simultanes Wunder aufleben ließ. Gangsta-Rap war dann ab den mittleren 1990ern gewissermaßen die Restauration der klassischen Pop-Musik-Fixierung auf eine Person.
Schließlich finden wir viertens eine mindestens negative Theologie in den Satanismen und Misanthropismen des Black Metal und seiner diversen Verwandten. Auch hier ist die unmittelbare Übertragung von negativ erleuchteten Stimmen in einem Zustand des negativen Außer-sich-Seins Grund für die Begeisterung, eingebettet in die full package von einander nicht wiedersprechenden zusätzlichen Klangobjekten der gleichen Semantik. Text und Bild ergänzen einander nicht, sondern akkumulieren dieselbe Aussage auf allen Ebenen. Dies kommt zwar auch in anderen Genres von Pop-Musik vor, aber nur im Black Metal in so dezidiert religiöser Semantik, auch wenn die fragliche Religion hier, also der Teufelsglaube, ebenso wenig von allen Anhängern geteilt wird, wie die Fans von Sun Ra ihrerseits alle überzeugt davon waren, dass man zum Saturn nur kraft musikalischer Anstrengung physisch reisen könne. Der Fall Black Metal ist aber auch insofern bezeichnend, als er die Mechanik der Intensitätserzeugung durch Negation, durch Sichentziehen, durch Exodus und Separatismus, der die radikalen Pop-Reformbewegungen mit traditioneller religiöser Mystik verbindet, buchstäblich nimmt: Von den Separationstechniken ist nur die Abstraktion übrig geblieben, die radikale Negation, zuweilen durch den Satan gefüllt, zuweilen durch religiös überhöhte Ökologismen.
Abschließendes
Prinzipiell stehen zwei Wunder zur Verfügung, das magisch-indexikalische der technischen Aufzeichnung und das künstlerisch-experimentelle des Sprechendwerdens der Symbole. Das erste gehört zu Pop-Musik, das zweite zu Musik-Musik, insbesondere deren experimentellen, autodidaktischen und Randbereichen. Doch beide Religionstechniken lassen sich mischen und in unterschiedliche Kontexte einspannen. Bei der Niederschrift dieses Textes habe ich viel Stockhausen – der fünfte Fall – aus der Zeit der späten 1960er- und der frühen 1970er-Jahre gehört, als seine Musik noch einmal einen ziemlichen Sprung nach vorne machte. Wir wissen aber auch, dass Konkurrenz zu und Begehren von der Seite der Pop-Musik zu der Zeit größer wurden, Stockhausen erwähnte dann oft, dass Musiker von Can und Grateful Dead seine Studenten waren. Und wir wissen, dass er den endgültigen Schritt zu den ultra-durchgeknallten religiösen Überzeugungen machte, die er für den Rest seines Lebens beibehalten sollte, indem er das sogenannte Urantia Book rezipierte, ein kosmologisches Buch, das in derselben Zeit auch Sun Ra in die Hände fiel: Für beide ist Sirius seitdem die entscheidende Bezugsgröße.
Ich dachte dann irgendwann: Wahrscheinlich muss man es einfach umdrehen. Nicht Musiker fallen in die Hände von Sekten und üblen spirituellen Ideologen, nein, umgekehrt: Ideologen und Religionsgründer haben immer schon um die jeweils avanciertesten musikalischen Idiome der Menschen per Instrumentalisierung, Rationalisierung und Fiktionalisierung Kirchen gebaut – sei es, um die magischen und mirakulösen Formen der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung zu neutralisieren, sei es, um sie für eigene Zwecke zu nutzen. Vielleicht sollte man also das Innenleben von Stockhausen eher daraufhin ansehen, dass es dazu beigetragen hat, die größte Musik des 20. Jahrhunderts zu schreiben und alles, was an Irrsinn zu diesem Zweck benötigt wurde, als notwendige Rahmenbedingung abschreiben. Das bedeutet aber, dass die Urheber von Musik potenziell gemeingefährlich sein können: Isoliert man sie, verliert man das Wunder, integriert man sie, macht man sich der Religionsbildung schuldig. In dem Zusammenhang, würde ich behaupten, hat die Pop-Musik einiges an produktiver Integration diesseits von Religionsstiftung und kulturindustrieller Verwertung geleistet. Man kann ihr das zugutehalten.
Diedrich Diederichsen, geb. 1957, ist Kulturwissenschaftler, Journalist und Autor und lehrt als Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschien Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste.
Der Text erschien in Kursbuch 196 »Religion, zum Teufel«. Dieses und weitere Kursbücher finden Sie in unserem Webshop.