Am »Westen« kann man eigentlich nur scheitern – das war einer der ersten Gedanken, die wir als Herausgeber hatten, als wir uns entschlossen haben, ein Kursbuch mit dem Titel Der Westen zu machen. Ein besseres Timing freilich konnte es nicht geben, als jetzt über den »Westen« nachzudenken, in Kriegszeiten, in denen der Nachfolger jenes nicht westlichen Protagonisten in Europa einen souveränen Staat überfällt, dort brandschatzt und mordet und sich aus allem verabschiedet, was man irgendwie normativ mit dem »Westen« verbindet. Ist der Antagonismus zwischen dem Westen (ab jetzt nach Möglichkeit ohne Anführungszeichen) und dem »Osten« (hier brauchen wir sie wieder!) wieder da? Zumindest scheint der Westen geeint wie nie – in der Europäischen Union (mit Ausnahme des üblichen Verdächtigen), erst recht in der NATO, die sich im Norden erweitert und an der Südostflanke erinnert wird, wie wenig westlich sie auch ist. Egal – offenbar gibt es keinen Zeitpunkt, an dem man weniger am »Westen« (geht doch nicht ohne) scheitern könnte. Aber es könnte auch das Gegenteil gelten, wenn die jetzige europäische geostrategische und militärische Lage allzu naive Unterscheidungen zwischen the west und the rest ausbildet.
Die Beiträge in diesem Kursbuch umkreisen alle auf je unterschiedliche Weise dieses Dilemma zwischen einem selbstbewussten westlichen Verständnis und seiner Selbstkritik beziehungsweise der Selbstrelativierung dessen, was sich als »Westen« (sic!) beschreibt. Gäbe es so etwas wie ein Grundmotto dieses Kursbuchs, dann ist es die Erfahrung, dass niemand die normativen und auch strukturellen Errungenschaften des Westens (in aller Vorsicht: was immer das bedeutet!) vollständig leugnet oder infrage stellt, zugleich aber darauf hinweist, dass dieser Westen seine Selbstbeschreibung und Selbstzurechnung immer wieder radikal infrage gestellt hat und infrage stellt, ja geradezu dementiert. Zur europäisch-nordamerikanisch-westlichen Praxis gehört eben nicht nur die Erfindung der Demokratie und der Menschenrechte, nicht nur die Idee der Gleichheit der Menschen und die Idee pluralistischer Ordnungen, der Gewaltenteilung und des (Vorsicht!) vernünftigen Interessenausgleichs, sondern auch seine radikale Dementierung. Kolonialismus, Faschismus und Nationalsozialismus, Imperialismus und Rassismus sind ohne Zweifel keine nicht westlichen, keine nicht modernen Erscheinungen (auch wenn etwa der Kolonialismus oder der Rassismus keineswegs nur »westliche« Ursprünge haben). Sie gehören konstitutiv zur westlichen Moderne dazu – aber sie sind in diesem dialektischen Sinne auch Dementierungen dieser westlichen Moderne selbst. Auch die postkoloniale Kritik am Westen zehrt von normativen Ideen, die »westlich« zu nennen sicher nicht falsch, aber dann doch irgendwie unangemessen ist.
Ich habe es gesagt: Man kann am Thema nur scheitern – und dieses Kursbuch bezeugt, wie mit dieser Gefahr umzugehen ist. Helmut Heit etwa beschreibt sehr eindringlich, dass das Lügengespinst um den Irak-Krieg jener »Koalition der Willigen« nach 9/11 nicht nur für sich normativ beurteilt werden kann, sondern gerade deshalb besonders eklatant ist, weil der Westen sich hier gewissermaßen selbst negiert. Er beschreibt dies aus der Perspektive eines akademischen Lehrers im Reich der Mitte, dessen Selbstbewusstsein inzwischen beginnt, den universalistischen Vorrang des Westens für eine kurzzeitige historische Anomalie zu halten. Daniel-Pascal Zorn nimmt ebenfalls eine nicht westliche Perspektive ein, um den Universalismus des Westens zu verstehen. Er kommt zu der These, der Westen sei nur mit sich selbst beschäftigt. Philosophisch tue er so, als beginne das Denken (Griechenlands) bei sich selbst, statt zu sehen, wie sehr dieses Denken bereits an anderes anschließt. Der denkerische Universalismus des Westens sei verbunden mit dem (politischen) Kampf um Hegemonie in Indien, China und Afrika. Mein eigener Beitrag rekonstruiert die postkoloniale Kritik des Westens (mit oder ohne »«?) als eine Kritik, die nicht unbeeindruckt ist von den normativen Formen dessen, was der Gegenstand der Kritik ist. Das führt zu der Frage, dass der »Westen« womöglich nicht mehr im Westen liegt, sondern womöglich im Senegal – und selbstverständlich bräuchte es dafür einen anderen Begriff.
Herausragend in diesem Kursbuch ist Franziska Davies’ Versuch einer Ortsbestimmung der Ukraine – nicht nur in der gegenwärtigen Situation des terroristischen Kriegs Russlands gegen dieses Land zwischen Ost und West. Die Historikerin zeigt die wechselvolle Geschichte dieses Landes, dessen Zugehörigkeiten stets mit Randlagen in geostrategischen Großlagen zu tun hatten. Davies arbeitet heraus, wie sehr die Erwartung vor allem von westlicher Politik und westlichen Medien, die Ukraine als »westlich« zu markieren, der Selbstbeschreibung der Demokratisierungsbewegung in der Ukraine zuwiderläuft, die sich dieser Opposition schon aus historischen Erfahrungen entzieht.
Das Gespräch, das Peter Felixberger und ich mit Ines Geipel geführt haben, nimmt eine andere Ost-West-Differenz in den Blick, nämlich die zwischen der ehemaligen Bundesrepublik und der DDR. Geipel beklagt ein merkwürdiges Desinteresse an der Aufarbeitung der Gewaltgeschichte der DDR, sie spricht von der »Härtesubstanz des Ostens«, der den neuen Menschen gewaltsam herstellen wollte, vor allem durch Disziplinierung der Körper. Dabei malt sie kein beschönigendes Bild des Westens, sondern allenfalls eine Position indifferenten Desinteresses, was auch dazu führe, dass sich gerade im Osten Deutschlands eine Renaissance autoritärer rechter politischer Formen etabliere.
Sibylle Anderl beschäftigt sich mit dem Entdeckergeist, vor allem mit dem extraterrestrischen. Nachdem die Renaissance und die Aufklärung das erste und das zweite Entdeckerzeitalter gewesen seien, sei nun die planetarische Exploration die dritte. Sibylle erzählt, wie es der Wettlauf zwischen der sowjetischen und der US-amerikanischen Seite war, der in den 1950er- und 1960er-Jahren in den Orbit und auf den Mond führte und als Wettrennen Motive freigesetzt hat, die es ohne nicht gegeben hätte. Insbesondere der Westen habe tatsächlich als »Westen« agiert und wollte den Kampf um den Mond unbedingt gewinnen – und verlor das Interesse, als der Sieg errungen war. Die letzten geplanten Mondmissionen wurden 1970 sogar gecancelt. Die darauffolgende Phase der Kooperation zwischen der sowjetischen, später russischen Seite und den USA und Europa auf der anderen Seite hat offensichtlich kaum größeren astronautischen Entdeckerdrang freigesetzt. Erst nun, weil China starke Ambitionen auf den Mond und weit darüber hinaus demonstriert, will auch der Westen wieder.
Eine besondere Form des Antagonismus zwischen einem angegriffenen Westen und seinen Feinden erzählt Rasha Khayat. Wie 9/11 nicht nur Zwillingstürme in Manhattan zum Einsturz brachte, sondern auch andere, erzählt sie an drei Septembern 1988, 2001 und 2002 – sehr bedrückend. Lesen Sie selbst. Für die Intermezzi haben wir diesmal die Frage gestellt: Was ist für mich der Westen? Auch in den 14 kurzen Texten kommt die Ambivalenz des Westlichen zum Ausdruck, vor allem aber die pluralen Perspektiven auf das Thema.
Jan Schwochows grafische Darstellungen zeigen, wie verzerrt eine Kartendarstellung der weltweiten Verteilung des BIP ist. Verzerrungen gibt es auf verschiedenen Ebenen: zum einen die Verzerrung der Kartenfläche wegen der üblichen Kartenprojektionen, zum anderen die unterschiedlichen Größen der Länder, die grafisch die Information verzerren, schließlich das Verhältnis von BIP und Einwohnerzahl. In einer zweiten Grafik, einem Balkendiagramm, werden diese Verzerrungen vermieden, was auf Anhieb einen anderen Informationswert erzeugt. Das nunmehr vierte Islandtief von Berit Glanz beschäftigt sich mit Insellagen, peripheren Chancen und Risiken, Verletzlichkeiten, Kommunikationsverbindungen, Tiefseekabeln und ihren Folgen für Island. Wie stets gelingt es dem Islandtief, an islandlokalen Themen globale Vernetzungen aufzuzeigen – diesmal Vernetzungen im buchstäblichen Sinne.
Kann man am »Westen« und am Westen denn nun nur scheitern? Nach der Lektüre dieses Kursbuchs sollte deutlich sein: Man kann, aber man muss nicht, wenn man für jene Ambivalenz eine Form findet, die dem Begriff des »Westens« eingeschrieben ist.
Armin Nassehi
Kursbuch 211, Editorial