Montagsblock /184

Wladimir Iljitsch Lenin wird der Satz zugeschrieben „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“. Sieht man sich in der letzten Zeit die Erregungszustände öffentlicher politischer Kommunikation an, muss man das Gefühl haben, wir lebten in vorrevolutionären Zeiten. Am vergangenen Wochenende war es vor allem Eric Gujer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, der in seinem Blatt diesseits der Paywall, damit die Botschaft auch wirklich unters Volk kommt, darüber schwadroniert, die temporäre Ausladung einer Biologiedoktorandin an der Humboldt-Universität und die Begleitumstände ähnelten den sogenannten „Gumbel-Krawallen“ an der Universität Heidelberg. Emil Julius Gumbel war ein linker jüdischer Mathematiker, der in der Spätphase der Weimarer Republik von nationalsozialistischen Aktivisten verfolgt und bedrängt wurde und 1933 zunächst nach Frankreich und 1940 in die Vereinigten Staaten floh. Darunter konnte es der Schweizer Chefredaktor nicht machen – und stilisiert die deutsche Universität der Gegenwart als einen Ort, der offensichtlich kurz vor der Machtübernahme steht. Er schreibt ernsthaft: „«Wehret den Anfängen» ist kein schlechtes Motto. Es hat sich im Umgang mit Neonazis bewährt. Es ist auch der richtige Wahlspruch, wenn wieder Minderheiten deutsche Universitäten zu okkupieren versuchen, um missliebige Ansichten auszumerzen.“ Was für ein Unsinn – ja, es gibt allerlei Eseleien an Universitäten, das kann ich aus Primärerfahrung bestätigen. Aber Gujers Argument wäre äquivalent der Behauptung, zehn dumme Zeitungsartikel seien ein Hinweis darauf, dass aus deutschsprachigen Tageszeitungen allesamt „Stürmer“-Kopien geworden seien. Er wähnt sich in vorrevolutionären Zeiten – die da oben können offensichtlich solchem Treiben nicht Einhalt gebieten – die unten wollen nicht mehr mitspielen. Nun, Lenin hat ja einige Zeit in Zürich gelebt, die Wege sind offensichtlich kurz.

Dieses Muster scheint gerade in Mode zu sein. Die Protestanten gegen geplante Corona-Maßnahmen auf der Straße bereiten sich, glaubt man Medienberichten, auf einen heißen Herbst vor. Proteste gegen Corona-Maßnahmen sind ebenso legitim wie legal – aber hier geht es um mehr, es geht um die Beschwörung einer vorrevolutionären Situation zur Wiederherstellung der Demokratie (wäre ich Gujer, hätte ich nicht vor der Nazi-Analogie zurückgeschreckt: zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums), zur Kritik an einer „DDR 2.0“ und gleich kombiniert mit Protesten gegen die „Öko-Ideologie“ und gegen Russlandsanktionen. Hier gibt es auch eine breite publizistische Flankierung, in der bereits angekündigt wurde, man werde „zunächst aufräumen“, was immer danach geschehen soll. Man wird ein bisschen an die publizistische Vorbereitung der ersten RAF-Generation mit noch harmlos aussehenden Texten in der konkret erinnert, die man dann im Nachhinein anders lesen musste. Auch hier ist das Motto, die da oben können nicht mehr – die unten wollen nicht mehr.

Auch manche aus der Klimabewegung neigen zu eschatologischen Gesten – man denke an sich radikalisierende Aktivisten, die ebenfalls in vorrevolutionären Fantasien schwelgen – die semantischen Mechanismen sind auch hier ähnlich. Wo es ums Ganze geht, gibt es auch keine Verhältnismäßigkeit mehr – und damit ist nicht gemeint, dass brave Bürgerkinder sich mediengerecht und harmlos auf Straßen kleben. Es ist eher die Denkungsart, die sich selbst mit einer endzeitlichen Attitüde ausstattet, die Identität verleiht und gerade in der provozierten Ablehnung letztlich wünschenswerter Ziele von Handlungsmöglichkeiten entlastet.

Man kann weitere Beispiele finden, und die völkische Endzeiterwartung einer „Umvolkung“ nach 2015 ist sicher noch in guter Erinnerung. Straßenproteste ebenso wie publizistische Formen werden rauer und unerbittlicher. Zusammengehalten wird dies alles in mehr oder weniger intensiver Form durch eine fast eschatologische Anmutung – als kämen die Dinge nun zu einer letzten Wende, an der es sich entscheidet. Die literarische Vorlage für all das sind Ernst Jüngers „Stahlgewitter“, in denen die Langweiligkeit des bürgerlichen Lebens auf eine andere Ebene gehoben wird, weil jeder Schritt, jede Regung, jedes Ereignis alles wenden kann. Die schnöde Gegenwart wird dann zum Kairos – und dann kommt es auf konkrete Details nicht mehr an.

Ist das eine übertriebene Diagnose? Ich glaube nicht. Schwierig wird es immer dann, wenn es in jeder Detailfrage ums Ganze geht – denn dann können die Detailfragen nicht mehr gelöst werden. Solche endzeitlichen Fantasien entlasten auch. Was soll ich mich um konkrete Fragen kümmern, wenn es doch ums Ganze geht? Dabei geht es in manchen Fragen womöglich tatsächlich ums Ganze, wenn man an die Klimakrise denkt – und darauf scheinen moderne Gesellschaften strukturell kaum eine Antwort zu haben, aller Appelle trotz, oder sind die Appelle nur Ausdruck dieser fehlenden Antwort? Sicher ist, auch wenn man das ungerne hört, dass auch bei den Problemen, bei denen es ums Ganze gehen könnte, das Problem nicht als Ganzes zu lösen ist. Wer das versucht, muss sich mit der Geste zufriedengeben.

Ich frage gerne funktionalistisch, für welches Problem etwas eine Lösung ist. Für welches Problem ist diese vorrevolutionäre Attitüde also eine Lösung? Die Antwort ist relativ einfach: Um keine Sachprobleme lösen zu müssen – zum Beispiel die Klimafrage als Sachfrage ernst zu nehmen oder ernsthaft zu fragen, welche Corona-Maßnahmen noch nötig sind und welche nicht. Frühere Generationen haben sich mit dem schönen Adorno-Spruch herausgeredet, es gebe kein richtiges Leben im Falschen, damit man sich um nichts weiter kümmern muss. Es waren meist Salonrevolutionäre. Das wäre noch die beste Lösung. Die anderen könnten dann an den Sachfragen weiterarbeiten, die schwieriger und radikaler sind, als wir es uns derzeit vorstellen können. Und hier fängt alles dann wieder von vorne an, denn wer wenn nicht der Soziologe in mir kann wissen, dass sich das nicht einfach dekretieren lässt.

Armin Nassehi, Montagsblock /184

15. August 2022