Montagsblock /185

Wer erinnert sich noch an Tacitus? Der römische Geschichtsschreiber war der erste verbriefte Intellektuelle, der sich abfällig über Deutschland geäußert hat. Sein Urteil über Germanien von vor 2.000 Jahren war niederschmetternd: „Mit seinen Wäldern macht es einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck.“ Nun, Tacitus war nur ein eingebildeter Römer und die Germanen mehr als ein Haufen wilder Sumpfhühner. Denn sie trugen bereits das Gen des Exportweltmeisters in sich. So verkauften sie den Römern listigerweise Pelze, Horn, Schinken aus Westfalen und Bernstein. Und kassierten im Gegenzug dafür modische Textilerzeugnisse, Südfrüchte, Gewürze und Schmuckgegenstände. Kein Wunder, dass wir nur ein Jahrtausend benötigten, um eine erfolgreiche Wirtschaftsnation zu werden.

Und als wir schließlich auch nur 1.800 Jahre zur Kulturnation brauchten und die Weimarer Klassik ein Theaterstück nach dem anderen raushaute, schmeichelte uns sogar eine Französin, noch dazu die Tochter des zu seiner Zeit reichsten Bankiers in Europa. Germaine de Staël schrieb im Anschluss an eine Deutschlandreise die bewegten Worte, die heute noch am nationalen Firmament prangen: “Deutschland, das Land der Dichter und Denker.” Vom Sumpfhuhn zum Händler zum Denker – wenn das keine Erfolgsgeschichte war!

Heute regieren Scholz, Habeck und Lindner das Land. Erfolg ist jetzt eher ein Fremdwort, die Dichter und Denker haben sich verschanzt und der Schinken aus Westfalen stammt überwiegend aus trostloser Massentierhaltung. Zukunftsdiagnosen verirren sich in einem dunklen Ukrainepandemiegasloch: Immer mehr abwärts! Schon leiden die Jungen an ihren nicht rosigen Zukunftsaussichten – erster zarter Generationenkonfliktflaum sprießt. Gleichzeitig wird Deutschland älter! Das Statistische Bundesamt meldet: „Die Zahl der 65-Jährigen und Älteren ist seit 1991 von 12 Millionen auf 18,3 Millionen im Jahr 2020 deutlich gestiegen. Da jüngere Geburts­jahr­gänge zugleich sinkende Personen­zahlen aufweisen, stellen die ab 65-Jährigen im Zeit­verlauf auch einen immer größeren Anteil an der Gesamt­bevölkerung. Er stieg von 15% im Jahr 1991 auf 22% im Jahr 2020.“

Immer weniger junge Deutsche, verflxxt! Nicht wenige unken: Würden wir so weitermachen wie jetzt, gäbe es im Jahr 2100 womöglich nur noch knapp 25 Millionen Deutsche. Die überwiegend auf dem Land wohnen würden, denn in den Städten säßen überwiegend die aktiven Zuwanderer aus dem Ausland. Zum Glück, denn sie hielten den Wohlstand mit aufrecht und würden für den notwendigen deutsch-internationalen Nachwuchs sorgen. Mit der Folge: Kosmopolitische Lebensentwürfe würden mehr. Vom Konjunktiv zum Indikativ. Die Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes bestätigt aktuell: „Im Zuge der seit 2014 außergewöhnlich stark gestiegenen Zuwanderung kamen per Saldo insgesamt 2,6 Millionen überwiegend junge Menschen nach Deutschland: 37 % von ihnen waren im Alter unter 20 Jahre und 53 % im Alter von 20 bis 39 Jahren. Diese Entwicklung hat vor allem der Schrumpfung der Bevölkerungszahl entgegengewirkt, die ohne die Nettozuwanderung aufgrund der negativen natürlichen Bevölkerungsbilanz – die Sterbefälle übersteigen die Geburten – unvermeidlich wäre. Die Zuwanderung hat aber auch die jungen Jahrgänge gestärkt und zur Verjüngung des Erwerbspersonenpotenzials beigetragen.“

Ja, ja, die Weichen werden heute gestellt. Der Wohlstand in diesem Land überlebt nur, wenn es die Tore für möglichst gut gebildete, aber auch lernbereite und aufstiegsmotivierte Ausländer, Zuwanderer und Migranten weit öffnet. Denn die wollen Kinder, sind jung, wollen ihre prekären Lebensbedingungen hinter sich lassen und den kommenden Generationen die gleichen Ausgangsbedingungen vererben, die sie selbst vorgefunden haben.

Es sind Menschen, die sich nicht satt, müde und im Alltag bleischwer fühlen, sondern die hungrig, wach und belastbar sind. Menschen, die von unten nach oben wollen. Und die damit ein Mutmach-Signal an die Leistungsbereiten unter den autochthonen Deutschen aussenden. Ich wage die Behauptung: Wenn der bisher lebenslang verbriefte Wohlstand dereinst angeknabbert sein wird, wird dieser neue deutsch-internationale und kosmopolitische Bevölkerungskern in die Bresche springen. Diese Leute werden hierbleiben, unterdessen sich die Deutschen womöglich mehr und mehr zurückziehen (rechte Dünnbrettbohrer ab nach Dumpfistan oder in die Tumbachei).

Machen wir uns nichts vor: Die Geburtenrate wird die Zahl der Deutschen weiter verringern. Zudem emigrieren mittlerweile mehr Deutsche (im Jahr 2021 wanderten knapp 250.000 Deutsche aus). Die einen verprassen ihren erworbenen Wohlstand, die anderen sind von Perspektivlosigkeit bedroht. Letztere gehen geografisch oft nur ein Häuschen weiter – nach Österreich, in die Schweiz und Niederlande. In Länder mit flexibleren Arbeitsmärkten. Noch sind es jährlich erst wenige hunderttausend deutsche Auswanderer. Doch die Zahl ist sprunghaft gestiegen (im Jahr 2016 hat sich die Zahl deutscher Auswanderer zum Vorjahr erstmals verdoppelt). Blöderweise sind die meisten von ihnen zwischen 18 und 40 Jahre alt, also im besten Renteneinzahlungsalter. Über 40 Prozent von ihnen sind mit ihrem Leben in Deutschland unzufrieden.

Wir stellen fest: Die Deutschen werden erstens immer weniger und emigrieren langsam, aber stetig. Alle vier Jahre sind es zusammen eine Million Menschen. An ihre Stelle rücken Zu- und Einwanderer, die alles tun, um das bürgerliche Wohlstandsversprechen aufrechtzuerhalten. Übrigens auch mindestens eine Million. Sie nutzen eine anthropologische Grundeinsicht: Wer von unten nach oben will, hat Mut, Ehrgeiz und einen unbedingten Willen zu Leistung. Wer von oben nach unten muss, hat Angst, Selbstzweifel und empfindet seine und ihre Leistung als nicht mehr angemessen belohnt. Momentan klingt es vielleicht noch kalt und hart: Wer jetzt in Deutschland bleibt, muss sich darauf einstellen, Risiko, biographisches Unglück und existenzielle Notlagen zunehmend selbst zu managen und von der lebenslang nach oben verlaufenden Wohlstandskurve mehr und mehr Abschied zu nehmen.

Wie sagte mir kürzlich ein afghanischer Familienvater mit Blick auf seine Ehefrau und die drei Kinder: „Wir sind froh, dass wir es schaffen dürfen.“ Am 1. September beginnt er mit Ende 40 eine Lehre in einem Elektrobetrieb. Dort suchten sie die letzten Jahre vergebens nach jungen Auszubildenden.

Peter Felixberger, Montagsblock /185

22. August 2022