Kursbuch 206 – Editorial

Die Impfung ist die Hoffnung. Die Impfung ist nachgerade eschatologisch aufgeladen. Wird sie uns das Ende der Pandemie bescheren? Wir hoffen es, aber zugegebenermaßen wissen wir es nicht. Das Virus entzieht sich durch Mutation, der Impfstoff durch Bestellungs- und Produk­tionsprobleme, und die Organisation des Impfens hätte auch effizienter beginnen können. Das Impfen ist eine Technik, die einen Organismus widerständiger macht, resilienter. Ein geimpfter Organismus kann bedrohliche Informationen entschlüsseln und dagegen vorgehen. Immun­systeme können nur gegen Bedrohungen vorgehen, die sie kennen, an­dere Bedrohungen registrieren sie gar nicht – Impfungen sind Informa­tionsbeschaffungsmaßnahmen, sie klären einen Organismus auf, was kommen könnte, und regen die Ausbildung von Antikörpern an.

In diesem Kursbuch geht es um solche Impfstoffe – aber nicht nur um Impfstoffe im klassisch immunologischen Sinne, sondern auch um andere Immunreaktionen und um die Frage, ob es dafür Impfstoffe unterschiedlicher Gestalt geben kann. Im Interview mit der Germanistin und Medizinhistorikerin Martina King und im Beitrag von Philipp Osten geht es um die Geschichte des Impfens als einer Geschichte der Akzeptanz und des Zweifels. Josef Reichholf klärt über die biologische Struktur von Viren auf. Sie seien keine Lebewesen, weder lebendig noch tot und doch organisches Material, ohne das es kein Leben geben könne – womöglich hätten sie sogar mit dem Ursprung des Lebens zu tun. Viren haben etwas mit der Umweltanpassung von Organismen zu tun, aber auch mit der Koexistenz von Arten, auch zwischen Tieren und Menschen. Die vielleicht eindrücklichste Information: Wir kennen bislang nur einen Bruchteil aller Viren.

Immunsysteme wirken an der Schnittstelle zwischen Arten, zwischen Mensch und Tier, zwischen Gattung und Einzelwesen. Mit Schnittstellen anderer »Natur« beschäftigen sich die Beiträge der Psychologin Juliane Junge-Hoffmeister und der Bildungsforscherin Käte Meyer-Drawe. Sie gehen der Frage nach, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um psychische Gesundheit zu ermöglichen, beziehungsweise welche Art von Bildung das Verhältnis des zu bildenden Individuums und seiner sozialen Umwelt so gestaltet, dass Autonomie und Sozialbezüge in ein ausgeglichenes Verhältnis gesetzt werden können. Beide zeigen, dass es keine eindeutigen »Impfstoffe« gibt, aber schon so etwas wie Sensibilisierungen zur Abwehr von schädlichen Einflüssen.

Überhaupt fällt auf, wie sehr der Topos begrifflich und metaphorisch stets ins Militärische, ins Kämpferische gerät – zumal es ja tatsächlich um aktives Abwehrverhalten geht. Oder ins Informatische. Michael Leitl zeigt, dass auch KI-Systeme Immunisierungen und Abwehrstrategien nur in dem möglichen Informationsspektrum verarbeiten können, für das sie programmiert sind beziehungsweise das in Datensätzen detektiert werden kann. Mein eigener Beitrag fragt nach gesellschaftlichen Immunsystemen.

Für die Intermezzi haben wir diesmal acht Autorinnen und Autoren die Frage gestellt: »Wogegen sind Sie immun?« Die acht Beiträge von Petra Bahr, Udo Di Fabio, Birte Förster, Kurt Kister, Lily Lillemor, Barbara Prainsack, Stephan Rammler und Hermann Unterstöger geben hier sehr unterschiedliche Antworten.

Heike Littgers Spotreportage beginnt und endet im Münchner Impf­zentrum auf dem Messegelände in München-Riem. Die Stationen dazwischen führen sie in den Münchner Gasteig, in die Elbmarsch, nach Frankfurt am Main, Chemnitz, Erlangen und wieder zurück nach München – mit kurzen Reportagen über Stationen, die gerade alle gar nicht immun sind gegen das, was geschieht. Jan Schwochow schließlich führt grafisch vor, wie Informationen ent­stehen. Übers Impfen, vor allem, wie sehr die Information von der Darstellungsform abhängig ist. Es ist die erste Folge seiner neuen Kolumne.

Peter Felixbergers FLXX-Kolumne führt uns zu guter Letzt nach Berlin in das Jahr 2060. Nur so viel sei verraten: Der Rosenthaler Platz wird dann BioNTech-Kreisel heißen. Ist nicht weit weg von der Charité.

Armin Nassehi