Montagsblock /133

In zwei Tagen, am 2. Juni, erscheint das Kursbuch 206 „Impfstoffe“. Wir haben dafür acht Autorinnen und Autoren gebeten, kleine Intermezzi zu der Frage beizusteuern, wogegen sie immun seien. Was hätte ich eigentlich auf solch eine Frage geantwortet? Nun, ich hätte gar nicht so genau gewusst, wonach ich hätte suchen sollen, denn es gibt zwei sehr entgegengesetzte Immunreaktionen: entweder das Immunsystem räumt die Bedrohung weg, ohne dass man es merkt. Die Immunität bleibt dann gewissermaßen latent, im Hintergrund, wie ein unsichtbares Schutzschild. Oder aber das Immunsystem fährt die Energie hoch, es fiebert, es muss alle Energie aufwenden, um Antikörper zu bilden, um sich gegen die Bedrohung zu wehren. Man bekommt dann das, wogegen man immun ist, gar nicht zu Gesicht, merkt aber an sich selbst, dass da etwas passiert. Insofern merke ich erst jetzt, was für eine schwierige Frage wir unseren Autorinnen und Autoren gestellt haben, deren Beispiele sehr unterschiedlich sind. Petra Bahr hat Antikörper gegen Pandemiemetaphern ausgebildet, Barbara Prainsack auch, v.a. wenn sie sich aus dem Arsenal (sic!) militärischer Semantiken bedienen, und Birte Förster ist gegen Kitschphobie immun, zumindest bei bestimmtem Kitsch. Alle drei Fälle verbindet, dass es sich offensichtlich um Immunreaktionen des zweiten Typs handelt – also Dinge, gegen die sich Widerstand aufbaut, die den Energiehaushalt erhöhen, die sichtbar werden, die sich an den eigenen Immunreaktionen abarbeiten, die Fieber erzeugen, was in manchen Fällen offensichtlich auch angenehm sein kann. Bei Udo Di Fabio ist es der Hass, gegen den sich eine starke Immunreaktion richtet, Hermann Unterstögers Temperatur erhöht sich bei Wurfsendungen. Lilly Lillemor reagiert stark auf überhöhte Selbstdarstellung – und liefert das Antidot gleich mit. Und Stephan Rammler bekennt, dass es um sein Immunsystem schlecht bestellt sei, er sei gegen nichts immun. Nur Kurt Kister weiß es nicht. Er bringt den ersten Typus von Immunität ins Spiel, wenn er schreibt, dass er nicht weiß, ob die Abwesenheit einer „bestimmten Krankheit, einer politischen Infektion oder einer ästhetischen Verirrung“ seinem Immunsystem zuzurechnen ist oder schlicht der Tatsache, dass die Bedrohung ihn gar nicht heimgesucht hat.

Ich dachte, es könnte helfen, diese unterschiedlichen Immunreaktionen unserer Autorinnen und Autoren zu konsultieren, um die Frage beantworten zu können, wogegen ich immun sei. Wahrscheinlich gilt schon: Je unsichtbarer das Immunsystem arbeitet, desto leistungsfähiger scheint es zu sein und desto weniger tritt es in Erscheinung. Wahrscheinlich ist eine der wichtigsten Immunreaktionen überhaupt, auf latente Strukturen zurückgreifen zu können, auf latente Muster, also darauf, dass die Welt nur mit einer gewissen Unschärfe auszuhalten ist. Sprechen zum Beispiel immunisiert sich dadurch, dass Bedeutungen und das „Gemeinte“ nicht vollständig einholbar sind. Dass wir partiell aneinander vorbeireden können und dass wir mehr unterstellen als wissen, ob unser Gegenüber uns hundertprozentig verstanden hat, ist eine wichtige Immunreaktion für die Kommunikation. Damit umzugehen, dass andere andere Perspektiven haben, dass also die Reziprozität von Perspektiven immer einen nicht aufklärbaren Rest enthält, immunisiert gegen endlose Formen der Verständigung. Das Unsichtbarmachen von Widersprüchen, die Inkonsistenz und Inkonsequenz unseres Alltags ist eine gütige Form der Immunisierung gegen Rigorosität und Rechthaberei. Der Verzicht auf die Vorstellung, dass unsere Lebensformen von vollständiger moralischer Integrität und Konsequenz geprägt sind, macht den Alltag erst aushaltbar. Und dass ein unterstellter Konsens oft mehr Unterstellung als Konsens ist, ist nicht immer ein Fehler, sondern eine Immunreaktion gegen völlig unrealistische Rigorismen. Dass es „Grenzen der Gemeinschaft“ gibt, wie Helmut Plessner in seinem gleichnamigen Buch von 1924 gegen die Unbedingtheit sozialer Radikalismen geschrieben hat, ist ein Segen, weil es davon entlastet, die Welt in völlige Konsistenz zu zwingen. Er empfiehlt als immunisierendes Mittel den Takt als eine Form, die sich selbst zurücknimmt, um dem Gegenüber auch die Chance dazu zu geben. Alles, was thematisiert werden kann und soll und möchte, ist abhängig von einem noch größeren unbestimmten Raum dessen, was nicht thematisiert werden kann und soll und möchte. Und da man sich darüber nur um den Preis einer unaufhebbaren Paradoxie verständigen könnte, bleibt diese Immunität sozialer Ordnung unsichtbar – bis sie sichtbar wird und die soziale Temperatur steigt. Das ist manchmal nötig, manchmal geboten, manchmal unvermeidbar, aber der Raum des Unbestimmten ist genau genommen immer größer als der des Bestimmten, eingeschlossen der der expliziten Unbestimmbarkeit und des Konflikts.

Ich weiß nicht genau, wogegen ich immun bin. Wenig Immunität jedenfalls habe ich gegenüber solchem Verhalten, das nicht aufhören kann, noch die letzte Konsequenz herzustellen und noch die letzte Differenz aufzuheben – in moralischem Rigorismus ebenso wie in sachlicher Rechthaberei und ebenso in mangelnder Einsicht, dass es mit jedem weiteren Satz nicht besser werden kann. Vielleicht gibt es so etwas wie ein kommunikatives Pareto-Optimum. Starke Fieberreaktionen bilde ich dann aus, wenn gefordert wird, dass sich alles dem einen (meist: dem eigenen) Kriterium fügen muss, dass alles sich dem Kriterium einer Perspektive und einer normativen Vorstellung fügt.

Das führt bei mir dann manchmal dazu, selbst rigoros und rechthaberisch Rigorosität und Rechthaberei bekämpfen zu wollen. Hier hätte dann das Immunsystem des Latenthaltens der letzten Bedingung versagt, und man kann nur warten, bis das Fieber wieder sinkt. Um mit einer scharfen Formel zu enden: Es lebe die Unschärfe! Schöne Grüße bei deutlich unter 37°C und viel Vergnügen bei der Lektüre von Kursbuch 206.

Armin Nassehi, Montagsblock /133