Kursbuch 203 – Editorial

Leben oder Überleben – das könnte einen Unterschied ausmachen, den Unterschied zwischen ob überhaupt und wie. Oder es geht generell übers Leben – als biologisches, als psychisches, als soziales, als kulturelles, als logisches Problem. Die Beiträge dieses Kursbuchs versammeln all diese unterschiedlichen Perspektiven aufs ÜberLeben. Im Gespräch erklärt der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda die Überlebensbedingungen der Kultur in schwierigen Zeiten, Wolfgang Schmidbauer lotet aus, wie sehr sich die Wertigkeit und Bedeutung des Überlebens über die unterschiedlichen Krisen verändert hat, Andrea Römmele sorgt sich um das Überleben der Demokratie, Sabine Haupt um das der Frauen in der Wissenschaft, und Marlene Müller-­Brandeck vergleicht familiale und palliative Formen der Sorge ums Überleben. Mein eigener Beitrag macht auf die gesellschaftlichen Bedingungen des Überlebens aufmerksam. Stefan Wolf macht sich aus Anlass der Corona-­Krise Gedanken um den Stellenwert des Konsums.

Warum überlebt der Antisemitismus in so unterschiedlichen Kontexten? Das ist die Grundfrage des Beitrags von Stefanie Schüler­-Springorum, den man parallel zu William Pickens Bericht über einen an­gekündigten Lynchmord lesen sollte. Pickens war ein amerikanischer Bürgerrechtler, Linguist und Journalist, dessen Text der 1934 erschienenen, legendären Anthologie Negro von Nancy Cunard entnommen ist, die gerade, herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Karl Bruckmaier, in der kursbuch.edition erschienen ist. Der Antisemitismus und der Rassismus sind die offenen Wunden einer Moderne, die jedem Individuum das Recht auf Leben und Strukturen des Überlebens garantiert, aber selbst Ausnahmen schafft, die geradezu eine Dementierung ihrer eigenen Versprechen sind – bis heute.

Dirk Baeckers Beitrag setzt grundlegender an, indem er das Ereignishafte sowohl des sozialen als auch des psychischen Geschehens und das Überleben als zeitliche Form nicht kontrastiert, sondern systematisch in Beziehung setzt. Und noch grundlegender geht es bei Sibylle Anderl zu, die nach den Bedingungen des Lebens im Universum sucht, nicht um sich von unserem Leben zu entfernen, sondern um die Frage danach stellen zu können, warum es überhaupt Leben auf der Erde gibt.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Beiträge von Thorsten Nagelschmidt und Daniel Kojo Schrade. Nagelschmidt inszeniert literarisch sehr eindringlich die Situation in Chile zwischen Protest und einem autoritären Staat, zwischen sozialer Ungerechtigkeit und dem Versuch, darin zu überleben – buchstäblich und überhaupt. Der Text – als Gespräch junger Chilenen gestaltet – fesselt. Nicht weniger eindringlich sind die Bilder des Künstlers Daniel Kojo Schrade, denen als Echos kurze Textpassagen gegenübergestellt sind. Sie berichten von Episoden, in denen Schrade die Versuche des Überlebens in alltäglichen Rassismuserfahrungen in ihrer Brutalität und Banalität darstellt. Beides, die literarische und bildlich-­textliche Form sind von einer Intensität, die dieses Kursbuch sehr bereichern.

Den Schluss bildet wieder Peter Felixbergers Kolumne FLXX, diesmal mit einem Stück über Komplexität, unter anderem aus der Perspektive von Ameisen betrachtet. Und den Anfang macht mit dem 30. Brief eines Lesers Knut Cordsen. Vielen Dank dafür.