Günter Dueck – Ich hasse Krisen

Wenn in Reden die Krise thematisiert wird, bekomme ich eine. Ich leide unter immer gleichen Sprüchen im Management wie: »Eine Krise kann und muss als Chance begriffen werden.Wir werden einen glatten Neuanfang schaffen. Wir starten von null. Wir haben keine Altlasten mehr. Wir haben die Brücke hinter uns abgebrochen und sehen nach  vorne. Wir werden aus dieser Krise gestärkt hervorgehen, ganz anders als unsere Wettbewerber, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Unsere Wettbewerber verharren noch im Alten und glauben, alles würde von allein wieder gut. Wir dagegen handeln. Wir werden später sagen, dass uns gerade diese Krise den heilsamen Schock versetzt hat, der letztlich der Auslöser für einen grandiosen Siegeszug werden sollte. Wir münzen um. Wir sind die Einzigen, die aus der Krise lernen. Wir jammern nicht. Wir stecken nicht wie die anderen den Kopf in den Sand. Das ist schon immer unsere ureigene Stärke gewesen, nämlich in Krisen zusammenzurücken und die Probleme zu meistern. Wir sind noch immer herausgekommen, weil wir in schweren Zeiten nicht mehr in den Fehlern der Vergangenheit  herumrühren und uns stattdessen auf die Zukunft konzentrieren.« Sehr überzeugend klingt auch: »Die Zukunft ist hell! Lassen Sie uns optimistisch sein! Ja, wir werden Ballast abwerfen müssen und nicht mehr alle Minderleister durchschleppen können. Wer für unsere Zukunft nicht mehr voll mitziehen will und das freudige Gehen von Extrameilen verweigert, darf in diesem  Unternehmen keine Heimat haben. Wir müssen geschlossen und energisch an einem Strang ziehen, wir müssen alle als Team unsere Energie geballt auf die Straße bringen.Wenn uns das gelingt – und da bin ich sicher – haben wir eine goldene Zukunft. Wir haben die besten Produkte und die besten Mitarbeiter! Der Markt ist da, überall liegt das Geld auf der Straße. Die Kunden wollen kaufen. Sie wollen nur von uns angesprochen werden! Sie warten auf uns! Es ist an uns, die Krise zu nutzen! Wer jetzt verzagt ist, soll gehen! Er gehört nicht zu uns. Ich fordere Begeisterung von allen! Ich will keinen hängenden Kopf mehr sehen! Ich will, dass alle Mitarbeiter in jeder Sekunde die Zukunft ausstrahlen! Ich will, dass sich die Realität in Ihrem Gesicht widerspiegelt!«

Mitten in der Finanzkrise habe ich kürzlich einen rhetorisch diesbezüglich codierten Vorstandsvorsitzenden gefragt, ob er wirklich an solche Worte glauben könne. Er lachte fröhlich und erklärte ganz unumwunden, dass es theoretisch gar keine andere Reaktion gäbe. »Soll ich sagen, dass wir uns Sorgen machen müssen? Was würde es helfen? Wir müssen durch die Krise, ganz klar, und das Rauswerfen von Leuten ist jetzt viel einfacher. Die Krise gibt mir viel mehr Macht. Ich darf jetzt endlich einmal herrschen und durchgreifen. Es kann ja nur noch besser werden.« Wir erkennen an dieser Aussage schnell, dass Krisen wie Ausnahmesituationen gesehen werden, in denen die archaischen Regeln wieder gelten, in denen also die »Sitten härter und ehrlicher werden« und im Grunde eine Kulturregression stattfinden kann. Sie missfällt dem Management in vielen Fällen gar nicht. Als anderes Beispiel die Mutter: »Kind, ich habe immer und immer wieder geschimpft, dass du auf einer Vier stehst. Jetzt haben wir den Salat, du stehst auf einer Fünf. Davor habe ich immer gewarnt. Gut, wir wollen die Vergangenheit vergessen. Lassen wir es gut sein. Schwamm drüber. Aber jetzt wirst du tun, was ich sage. Ich verlange Begeisterung für deine Zukunft.« Eine Krise stärkt die Macht des Chefs ebenso wie der äußere Feind den Diktator. Ob es hilft? Wird jemand, der als Chef in die Krise schlittert, mit einem Mehr an Macht wieder herauskommen? Wir sehen beispielsweise bei Fußballmannschaften, dass dies nicht gelingt.

Anders gesagt: Wer mit seinem normalen eigenen Managementstil nicht durchkommt, schafft es mit mehr Druck auch nicht. Deshalb holt man oft einen ganz neuen Trainer oder Manager, der sich sehr gut und am besten nur auf den harten Stil versteht. Ja, so einer gewinnt in der Krise, weil er genau der Charakter ist, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Davon gibt es aber nur wenige! Ganz wenige! Und dann gehen sie leider nicht einfach weg, wenn sie das Gröbste erledigt haben! Sie bleiben, auch wenn es der Mannschaft oder dem Unternehmen besser geht, und werden in der Regel noch härter. Dadurch aber leiten sie selbst die nächste Krise ein. Sie beseitigen zuerst eine Krise schlechter Aufstellung oder eine des Schlendrians, erzeugen aber dann eine Krise zu hohen Drucks.

Kurz gesagt: Krisen werden als Gefahren gesehen, die meist durch ein Übermaß entstehen, worauf mit einer harten Gegenbewegung reagiert wird. Es darf aber nicht dazu führen, dass nun, wie es so sehr häufig geschieht, das Pendel zur anderen Seite ausschlägt. Und angesichts dieser Probleme des Unmaßes frage ich mich, ob wir alle diese Krisen, Heldengesänge und wenigen erfolgreichen Krisenmanager wirklich brauchen. Ich brauche sie nicht. Ich hasse nämlich Krisen. Krisenromantik des Auf und Ab Unsere Kultur macht uns glauben, dass alle Dinge im Fluss sind, auch wenn alles auf und ab geht. Aktien fallen und steigen. Die Konjunktur ist besser oder schlechter. Die Zeiten kommen und gehen. Nach dem Winter kommt der Frühling. Das stimmt im Großen und Ganzen, aber sehr oft nicht im Einzelnen. Menschen werden geboren und sterben, Unternehmen werden gegründet und werden marode. Wirtschaftsbranchen entstehen und fallen technologischem Wandel zum Opfer. Die guten Zeiten bringen einen Machtzuwachs der Arbeitnehmer und führen zur Krise der Unternehmen. Die schlechten Zeiten verschieben die Macht zu den Unternehmen und lösen unzählige private Krisen unter den Mitarbeitern aus.

Ja,es gibt ein Auf und Ab, aber beim Niedergang in eine Krise stirbt vieles ganz endgültig und kehrt deshalb im nächsten Aufschwung nicht mehr zurück. Unter oft großen Innovationen erblüht das Neue auf den Trümmern des Alten. Wir sehen heute eine Krise der Banken, Versicherungen, Energieversorger, Automobilfirmen, der Telefonunternehmen und Medien. Das Internet, die weltweite Vernetzung und der Eintritt der globalen Welt in die Wirtschaft sowie der allgemeine und freie Zugang zu Wissen leiten ein großes Sterben und eine noch größere Geburtswelle ein.

Einstige Bank-, Versicherungs- oder im weitesten Sinne Verwaltungsleistungenwerden von Computern erbracht oder erfolgen durch den Kunden selbst. Die Energieversorgung erlebt einen Umbruch zu erneuerbaren Formen, die Automobilbranche steht vor den Erschütterungen, die durch Elektroautos ausgelöst werden. Das Internet geht durch LTE in den Äther oder ins  Glasfiberkabel. Papier stirbt am Tablet Computer, das Buch in physikalischer Form verschwindet, die Zeitschriften auch – das Fernsehen könnte zu einem sprachgesteuerten Streaming-Service mutieren. »Moderne Zeiten!«, rufen wir dem Wunsch-Bildschirm zu, und sofort macht Charlie Chaplin grässliche Scherze über die mordende Zeit in der Zukunft. Doch Achtung! Das meiste ist Wandel, nicht Auf und Ab! Der Wandel ist internetbedingt mindestens noch für die nächsten zwei Jahrzehnte Dauerzustand. Und wenn man das drohende Sterben alles Etablierten als Krise sehen will, dann haben wir eine Dauerkrise dadurch, dass wir dem Wandel in allen Facetten widerstreben. Wir könnten auch in Deutschland Googles, Amazons, Facebooks oder Wikipedias gründen, aber wir leisten hinhaltenden Widerstand gegen die befürchteten Krisen, die sie für uns auslösen könnten. Wir stemmen uns gegen das Sterben und verbrauchen dabei alle Kraft. Dadurch sind wir beim Gebären nicht dabei.

Oder kurz ausgedrückt: Die Krise sind wir. Und wir lieben uns noch zu sehr im Rückblick. Ich nicht! Ich mache nicht mit! Die Krise seid ihr! Too big to (profitably!) change Was im Wandel stirbt, ist bereits lange gewachsen und groß geworden. Was geboren wird, dagegen klitzeklein.Menschen wissen das und zeugen ihren Nachwuchs so zeitig, dass er sie später pflegen kann. Wenn ich altersschwach werde, sind meine Kinder voller Kraft und können mir helfen. Es wäre töricht, meine Kinder erst zu zeugen, wenn ich schon erste Anzeichen von Demenz zeige. So aber handeln die meisten großen Unternehmen – töricht. Sie haben in den letzten Jahrzehnten das Unmaß (das letztlich die Krisen auslöst) zum Prinzip erhoben. Dieser in Managergehirnen eingebrannte Grundsatz lautet: »Profitable Growth«, also das Anstreben von Wachstum unter Gewinnzuwachs. Wie geht das? Man kauft profitable Firmen auf oder man verkauft die eigenen Produkte in Ländern, in deren Markt man bisher nicht vertreten war. So werden die großen Konzerne weltweit groß und größer, sie wachsen und wachsen. Und vergessen im Erfolgsrausch, »für Nachwuchs zu sorgen«. Und irgendwann ist es merkwürdig zu spät, eine Veränderung einzuleiten. Das ist die ganz große Krise in einem Unternehmen.

Ein Topmanager eines Unternehmens mit 100 Milliarden Euro Jahresumsatz sieht es so: »Ich bin verpflichtet, jedes Jahr um fünf bis zehn Prozent profitabel zu wachsen. Dafür sind vielleicht sieben Milliarden Euro Zusatzumsatz erforderlich. Leider veralten viele Produkte meines Unternehmens, sodass wir vielleicht fünf bis zehn Milliarden jährlich an Umsatz verlieren. Ich muss also jährlich für etwa 15 Milliarden Euro Mehrumsatz sorgen, damit ich profitabel wachse. Aber wie? Das ganze Unternehmen Facebook hat im Jahr 2010 mickrige 1,5 Milliarden Euro Umsatz erzielt. Ich muss also zehn Facebooks pro  Jahr dazubekommen – jedes Jahr! Wie mache ich das?« Diese Frage hat Folgen. Für ein großes Unternehmen ist »nur ein Facebook« ein zu kleines Kind. Das große Unternehmen ist so riesig, dass das normale Gebären von kleinen Neuunternehmen nicht mehr ausreicht, um den Traum unendlichen profitablen Wachstums aufrechtzuerhalten. Im  Klartext: Es ist jetzt zu spät für kleine Innovationen und damit für wirkliche Innovationen überhaupt, weil Innovationen wie auch die Babys des Menschen nun einmal klein sind.

Wie kann sich eine große Bank profitabel wachsend in eine Internetbank wandeln? Wie ein Autoweltkonzern in einen Batteriemarktführer? Wie ein Atomenergieerzeuger profitabel wachsend in einen Saharasonne-Verstromer? Das wäre im Prinzip möglich, wenn ein großes Unternehmen mitten im Wachstum schon größere Kinder hätte und sich bereits heute um Enkel und Urenkel kümmern würde. Es hat aber wie besprochen  vergessen, überhaupt an Kinder zu denken – und in dem Moment, wo es daran zu denken beginnt, sind die Babys zu klein, um den Bestand zu sichern. Nun kann sich das Unternehmen trotzdem noch verändern, aber nicht mehr unter Gewinnzuwachs. Das aber will es unumstößlich! Da es etwas will, was nicht geht, gerät es in eine große Krise. »Es hat das Kinderkriegen verschlafen.« Unter kurzfristigem Wachstumsdenken wurde nie an Nachhaltigkeit gedacht. Die großen Unternehmen sind wie Winzer, denen plötzlich die Rebstöcke zu alt werden. Sie können nun nicht mehr profitabel wachsen, indem sie neue Reben pflanzen – denn die benötigen unprofitable Anfangsjahre. Ich bitte Sie, brauchen wir solche Krisen? Von Leuten, die das Säen und Neupflanzen vergessen? Die es auch dann nicht tun, wenn sie ihr Versagen erkennen – weil sie die Krise zwar überleben könnten, aber nicht unter Gewinnsteigerung? Sind solche Krisen nicht schrecklich, weil sie letztlich durch Lehren der Wissenschaft oder mindestens der Beratungshäuser ausgelöst werden?

Krisen durch Utopiesyndrome – Krise und Schizophrenie

»Wir müssen uns viel vornehmen. Wer sich viel vornimmt, erreicht auch viel. Schlappe Leute nehmen sich zu wenig vor, sie erreichen dann nur das wenige, das ist zuwenig. Ich hasse Schlappschwänze. Ich will, dass wir uns überaus ehrgeizige Ziele vornehmen, die wir auch erreichen. Jeder von uns muss darauf brennen, ehrgeizig zu sein.« Ansprachen dieser Art sind heute im Management gängige Praxis. Es gibt zweifellos anders gestrickte Menschen, die sich bewusst zu niedrige Ziele setzen, weil sie bei Nichterreichen mit ihrem Versagen nicht gut leben können. Es gibt immer diese zwei Arten des Unmäßigen, die des zu tiefen und des zu hohen Stapelns. Tiefstapeln kann bei Unternehmen zum Untergang im Wettbewerb führen. Aber das brennende Erstrebenwollen zu hoher Ziele kann leicht im Verbrennen enden. Ich will das kurz mit dem Wort »Utopiesyndrom« umschreiben. DasWort scheint ursprünglich von Paul Watzlawick zu stammen, ich habe als früheste Quelle das Buch Lösungen gefunden. Darin gibt es ein Kapitel über Utopiesyndrome. Watzlawick wurde weltweit durch seine Anleitung zum Unglücklichsein bekannt. Eine Strategie besteht darin, sich der Lösung eines unlösbaren Problems zu widmen. Zwei Ehepartner könnten sich die ideale, ewig liebende Partnerschaft vornehmen, eine Gesellschaft die Verwirklichung eines idealen Kommunismus, oder ein Vater verlangt vom Schüler, der gerade sitzengeblieben ist, ein 1,0-Abitur. Dadurch ist eine sichere Krise vorprogrammiert. Sie kommt vor allem dadurch zustande, dass eine Utopie von einer Macht vorgegeben wird, die gleichzeitig das Infragestellen der Erreichbarkeit ihrer Ziele unter ein absolutes Tabu stellt. Niemand darf sich fragen oder zur Diskussion stellen, ob es überhaupt ideale Ehen, den Kommunismus oder das ewige Wachstum durch Extrameilengehen geben könne. Die Obrigkeit ist sehr sensibel für Versuche Untergebener, das Tabu zu brechen. Jeder muss begeistert für das Ziel sein, dem alle gläubig und unbeirrt folgen. Da das Ziel aber zu hochgesteckt ist, müssen die  Zielverfolger sich mit fortdauernder Zeit immer öfter fragen, warum sie das Ziel nicht erreichen. Da die Zielerreichung an sich nicht in – frage gestellt werden darf, kommen immer folgende Antworten (s. Watzlawick) in die engere Auswahl:

»Ich selbst bin unfähig und schuld – ich schäme mich, es nicht zu schaffen.«

»Was ich mir vornahm, ist ungeheuerlich schwer, es dauert einfach nur etwas länger, als ich dachte.«

»Andere blockieren meinen Erfolg oder helfen mir nicht. Ich zerbreche wegen der anderen.«

Ich bin schuld. Mein Ehepartner ist schuld. Der Kommunismus ist erst durch die Zwischenstufe des realen Sozialismus zu erreichen. Die anderen Unternehmensabteilungen reklamieren zu Unrecht alle Erfolge für sich – sie müssen als Feinde gesehen werden. Noch schlimmer: Wer eine Utopie verfolgt, darf sich nicht irgendwelchen gut funktionierenden Problemlösungen widmen. Ein Ehepaar kann sich doch selbstvergessen lieb haben, kein Problem. Aber unter der Utopie müssen sie nach jedem Sexakt debattieren, warum es nicht perfekt war. Ein Manager unter Utopie darf nicht vernünftig wirtschaften, weil eine gute Lösung von vornherein die Utopie nicht verwirklichen kann. Beispiel: Als am 11. September 2001 die Flugzeuge ins World Trade Center einschlugen,war jedem Manager klar, dass die Jahresziele nicht erreichbar sein würden. Jedem! Es war allerdings fast überall tabu, dieser Erkenntnis klar in die Augen zu schauen. Alle fürchteten sichvor dem (schon sicheren)  Wegfall der Boni. Sie arbeiteten weiter wie bisher, mit täglichen Durchhalteparolen.

Stellen wir uns deshalb eine Servicefirma vor, die pro Mitarbeiter einen bestimmten Umsatz erzielt und im Jahr 2001 um zehn Prozent wachsen soll. Das kann sie nur, wenn sie zehn Prozent mehr Mitarbeiter einstellt. Wenn sie ihre unerreichbaren Ziele anpeilt, muss sie also nach dem 11. September weitere Mitarbeiter einstellen. Da aber  die Auftragseingänge wegbrechen und das Unternehmen gleichzeitig mehr Leute holt, kann die Firma unter Umständen ein paar Monate später Konkurs anmelden. Sinnvoll wäre es gewesen, die Einstellungen sofort zu stoppen. Dann aber hätte der zuständige Manager klar Flagge gezeigt, dass er die Ziele nicht mehr erreichen will. Damit hätte er aber das Utopietabu gebrochen. Ein Topmanager sagte einmal zu mir: »Entweder ich versuche, das Unerreichbare zu erreichen, obwohl ich weiß, dass es nicht erreichbar ist. Dann handle ich ohne ein richtiges Selbst und verrate mich selbst, weil ich sinnlos auf etwas Unmögliches hinarbeite. Oder ich sehe der Sache ins Gesicht, stehe zu meinem Selbst und stelle das Ziel infrage. Dann werde ich auf der Stelle aus dem Job genommen. Was ist mir lieber? Mein Selbst oder mein Job? Fast alle wählen den Job. Ich auch.« Der grottenschlechte Schüler sagt: »Entweder tue ich für meine Eltern so, als würde ich gut werden – da lüge ich und gebe mein Selbst auf, weil ich weiß, dass ich es nicht kann. Oder ich sage ihnen klar, dass ich nur die Hauptschule schaffen werde, dann killen sie mich. Ich gebe lieber mein Selbst auf, weil ich nicht sofort gekillt werden will.«

Vielleicht ist es zu hoch gegriffen, gleich vom Verrat des Selbst zu sprechen. Es ist aber faktisch so etwas wie ein Burn-out, der unter einem Utopiesyndrom in der Luft liegt. Der Einzelne wird angesichts der Frustrationserfahrungen unter der Utopie langsam zerfressen, die Organisation müde. Am Kaffeeautomaten häuft sich die verdeckte Verbitterung über die Unerreichbarkeit, die nicht offen angesprochen werden darf. Die Krise hat hier schizophrene Merkmale, also solche der inneren Zerrissenheit. Lässt man sich als Verräter hinrichten oder jubelt man unter Selbstaufgabe dem System zu? Die Persönlichkeit wird in zwei Tendenzen gespalten, beide sind des Teufels.

Krise dank unhinterfragter Unprofessionalität

Im Fernsehen werden genüsslich Unprofessionelle zum Esel gemacht. In Beauty-Shows sehen wir Menschen, welche die Utopie des eigenen Supermodelseins verfolgen. Übergewichtige proben in anderen Sendungen die hundertste Diät, die ganz sicher helfen wird. In den Castings stellen sich atemberaubend unprofessionelle »Künstler« vor. Die Kochprofis treten in Restaurants auf, die ihren Niedergang fühlen und nur noch nach einem Trick dürsten, wie sie im Handumdrehen gerettet werden können. Manager in Unternehmen suchen Zuflucht in Brainstorming-Sessions, um die schnelle Idee zu finden, die sofort aus der Krise führt. Die beste Idee ist es, das Problem durch Begeisterung und mehr Engagement zu lösen. Eltern lösen die Schulkrise mit Investitionen in Nachhilfestunden. Politiker klagen, dass ihre Erfolge beim Wähler nicht gut angekommen sind, da sie ungenügend kommuniziert haben.

Sie alle sind in der Selbsttäuschungstrance einer Utopie gefangen. Bei Misserfolgen schwören sie, mehr zu tun, was aber nicht geschieht. Sie sehen, dass andere ihren Erfolg hintertreiben. Und sie hoffen, dass es beim nächsten Mal klappt: bei der nächsten Wahl, im nächsten Quartal oder beim nächsten Casting. Fast alle haben sehr hohe Ziele, die aber nicht zu ihnen passen. Sie wollen Topmodel, Minister oder Superstar sein. Sie wollen ein tolles Restaurant betreiben. Sie holen meist als Erziehungsstümper die Super Nanny, damit diese in ein paar Tagen ihre Kinder geradebiegt.

Ich gestehe: Ich lasse öfter solche Sendungen neben mir im Fernseher dudeln,weil mich die Kandidaten zum Teil wirklich faszinieren. Ich bin oft tief bestürzt über die unfassbare  Unprofessionalität angesichts  eines höchsten Zieles.Da ist eine Köchin, die seit über 25 Jahren niemals probiert hat, was sie kocht! Sie wendete nur Rezepte an und wundert sich jetzt verärgert über ein vernichtendes Geschmacksurteil der Kochprofis. Da sind Möchtegerngesangsstars, die sich gegen Tausende andere durchsetzen wollen und dann den Text vergessen oder kaum eine Woche singen übten. Da zicken an sich schicke Mädchen so sehr, dass es eine Agentur grausen muss, sie je unter Vertrag zu nehmen. Sie haben keine konkrete Vorstellung von dem Ziel, das sie erreichen wollen. Was zeichnet einen Star, einen Sternekoch oder einen Topmanager aus? Wer ist ein guter Politiker? Das fragen sie sich nie und wissen es auch nicht. Sie vergleichen immer nur die Anzahl von Punkten oder Wählerstimmen, die Anzahl von Umsatzzahlen oder Internetklicks. Sie fragen nicht,welche Fähigkeiten konkret den Meister, das Model, gute Eltern oder den Leader ausmachen. Sie fragen nicht, ob sie wirklich mit allen Konsequenzen dahin wollen, ob sie dahin können und ob sie die nötige Beharrlichkeit mitbringen.

Sie tun alle das nur nächstbeste Beliebige, um ein Ziel zu erreichen. Sie studieren nicht die Natur des Ziels. Sie fragen nicht bei Erfolgreichen um Rat. Wenn sie je solchen Rat bekommen, tun sie ihn ab oder verteidigen sich hartnäckig gegen die aus den Ratschlägen heraus gefühlten Vorwürfe. Dieselben Phänomene treffen wir bei Unternehmen an. Da gibt es berüchtigte Callcenter, die normale Kunden zur Weißglut treiben. Die wieder unfassbare Unprofessionalität findet sich haarklein dokumentiert in vielen Internetforen, überall hagelt es »dislikes«. Es passiert aber nichts. Eine liberale Volkspartei atomisiert sich in wenigen Monaten – vollkommen beratungsresistent. Wie die gesangsuntüchtigen Stars bei Dieter Bohlen bekennen sich die Unternehmen, Parteien und Zukunftskünstler zu ihrem Anspruch, die Nummer eins zu sein und den Kunden immer in den Mittelpunkt zu stellen. Sie sind aber erstaunlich unprofessionell! Solche Unternehmen,  Institutionen oder Menschen taumeln dem Ende entgegen, wenn sie nicht einen schrillen Weckruf erhalten. Solche Krisen der unhinterfragten Unprofessionalität begleite ich im Fernsehen mit ratloser Faszination. Welcher Retter wird sich derer annehmen, die sich im Grunde ganz in Ordnung finden und taub gegen jede andere Auffassung sind? Wie würde der TV-Schuldnerberater Peter Zwegat mit Griechenland umgehen?

Bei unhinterfragter unprofessioneller Haltung ist die Krise ganz sicher keine Chance, wie immer so gerne gehofft wird. Unprofessionelle werden nur entnervt abgehakt. Krisen und ihre  Bewältigung durch kindliche Regression Auf höherer Ebene werden Krisen ebenso wenig wahrgenommen wie bei Unprofessionellen. Manchmal hat dieses entschlossen aussehende Ignorieren von aufkommenden Krisenzeichen schon wieder etwas Professionelles! »Es strömt Gas aus. Da noch nicht bekannt ist, um welches Gas es sich handelt, ist es wahrscheinlich ungefährlich.Bitte schließen Sie die Fenster. Eine Gefahr besteht nicht.« – »Es ist ausgeschlossen, dass es zu einer Kernschmelze kommen kann. Die Radioaktivität wird vom Winde verweht.« – »Die  Finanzwirtschaft hat so wenig mit der tatsächlichen Wirklichkeit zu tun, dass es nicht vorstellbar ist, dass eine Krise im Finanzsektor einen Einfluss auf die Realwirtschaft haben kann.« – »Der Chefvolkswirt einer Großbank hat in unverantwortlicher Weise eine wahrscheinlich korrekte Prognose für das Krisenszenario gegeben. Wir empfinden Abscheu. In der Krise ist Optimismus Pflicht, sonst kommt alles noch schlimmer. In einer Krise hat die Realität nichts verloren. Sonst kommt es zu einer Panik.« – »Die Krise der anderen ist nicht unsere. Wir können uns ganz sicher von der Immobilienentwicklung in den USA abkoppeln.«

Selbst mitten im Tornado werden Krisen oft verharmlost, »damit der Schaden nicht noch größer wird«. Langfristige Zeichen von Krisen, die durch Überalterung der Bevölkerung, zunehmende Schuldenlast, Erderwärmung oder durch den Verfall des Bildungssystems überall zu sehen sind, werden sogar ganz ignoriert. »Die Renten sind sicher.« – »Wir haben relativ weniger Schulden als die schon bankrotten Länder.« – »Unser Bildungssystem war vor 100 Jahren führend.« – »Es ist nicht sicher, dass sich die Erde erwärmt.Heute ist ja ein Schneesturm.«

Heraufziehende Krisen werden geleugnet, konkrete Krisen verniedlicht. Im Grunde verhält sich das Kollektiv wie ein Kind, das alles abstreitet, solange es nur geht. Wenn aber die Krisen offenbar geworden sind, wird mit wildem Aktionismus reagiert. »Die Rettungskräfte waren schlecht koordiniert.« – »Es haperte an der Zusammenarbeit der Länder, es dauerte zu lange, bis die letzten Egoismusblockaden fielen.« – »Es konnte nicht damit gerechnet werden, dass die Flut so hoch stieg.« Das konkrete Befassen mit einer Krise wird bis auf den letztmöglichen Moment  hinausgeschoben. Der bei Schwierigkeiten allgemein geforderte Optimismus, dass sich alles wahrscheinlich schon regeln werde, verhindert zuverlässig alles noch zeitige Handeln vor der Endkatastrophe. Dann aber herrscht Kopflosigkeit.

Zocken mit Krisen

Der naive Umgang mit Krisen beruht auf einem entsetzlich rudimentären Bildungsstand, was die Höhe von Risiken angeht. Kaum jemand kann Versicherungen beurteilen, schon gar nicht die ausufernde Vielfalt der Finanzinstrumente, die in den letzten Jahren kreiert worden ist. Der rationale Umgang mit Risiken ist noch nicht so alt. Finanz institute begannen in den 1990er-Jahren mit Risikomanagement. 1990 erhielt Harry Markowitz den Nobelpreis für ein Risikoszenarienmodell, das er schon in den 1950er-Jahren vorstellte. 1997 wurde das Black-Scholes-Modell für die Bewertung von Optionen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet (die wichtigen Arbeiten dazu stammen aus den 1970er-Jahren und wurden damals nicht wirklich beachtet).

Vielleicht waren es diese Nobelpreise, die zu den explodierenden Entwicklungen im Finanzderivatesektor wesentliche Impulse beitrugen. Stellen wir uns vor, dass manche Marktteilnehmer im Finanzsektor mitten in einem Meer von ahnungslosen und unprofessionell regredierten  Krisenaussitzern wirklich und wahrhaftig die Krisen mathematisch sauber einschätzen können! Dann gibt es ein Wissensgefälle zwischen denen, welche die Krisen verstehen, und denen, die sich nie damit befassten. Früher hatten die, die mehr von Krisen verstanden als andere, die Ahnungslosen  gewarnt. »Pass auf!« – »Gib acht!« – »Sei vorsichtig!« Jetzt aber, an der Börse, wurde es möglich, dass die Krisenversteher das bestehende Wissensgefälle zu Geld machen konnten.

Sie gingen hochrisikoreiche Geschäfte ein und »verkauften« das Risiko an naive »Gimpel« oder Unerfahrene, welche die Risiken nicht einschätzen konnten. Die lange anhaltenden Unruhen an den Finanzmärkten und die extremen Ausschläge beruhen zu einem guten Teil darauf, dass noch immer nur eine Minderheit die Risikolage überhaupt versteht. Dabei müsste doch die Mehrheit professionell in der Krise handeln können! Es besteht kein Zweifel: Die wenigen, die sich auf Krisen und Risiken verstehen, lieben die Krise! Krisenmanager lassen sich bei zu rettenden  Unternehmen gegen Optionen anheuern und zeigen für einige Zeit sensationellen Eifer – die Optionen steigen im Wert. Wer Krisen versteht, gewinnt gegen die, die davon keine Ahnung haben! Und durch nichts wird so viel Geld verdient wie mit Krisen! Es ist deshalb schlau, dass die, die mehr von Krisen verstehen als andere und dadurch viel Geld verdienen, immer auch ein bisschen beim Zündeln helfen, damit ihnen die Krisen nicht ausgehen. Stellen wir uns vor, die Welt ginge in einen stabilen nachhaltigen Zustand über, in dem das profitable Wissensgefälle über Risiken nicht mehr bestünde!

Die Börsen würden langweilig. Aktienkurse öde stabil! Kein Run mehr auf Banken und Gold! Natürlich darf man nicht zündeln. Natürlich sagt kein Krisenhändler, dass er Krisen liebt. Er sagt: »Krisen sind oft heilsam [für mich], weil sie die Märkte schneller bereinigen und Neuanfänge einleiten.«

Die Über-Krise des Turbo-Darwinismus

 

Nicht nur die Risikoexperten zündeln, auch die Innovatoren. Mit stetigen simplen Weiterentwicklungen immer ein wenig besserer Produkte lässt sich zwar gutes Geld verdienen, aber man kommt nicht zu sofortigem Blitzreichtum.Den gewinnt man durch eine grundlegende Veränderung des wirtschaftlichen Umfeldes zu den eigenen Gunsten, am besten so, dass sich andere  Marktteilnehmer nur schwer auf die neuen Verhältnisse einstellen können. Damit wird Wirtschaft zum Spiel der innovativen Durchbrüche. Sie entfernt sich von ihrem Ziel der Wohlstandssicherung und der stetigen Weiterentwicklung, wenn sie in einen Kampf von Kräften ausartet. Ich will diesen Gedanken mit Darwin erklären. Auf der Erde gibt es Dürreperioden, Eiszeiten, große Brände, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche nebst Klimaveränderungen. Tiere und Pflanzen passen sich besonders bei Katastrophen neu an ihre Umwelt an. Die wirklich großen Anpassungen sind immer dann erforderlich, wenn die Erde den Lebewesen eine Krise beschert. Diese Krisen beschleunigen die Entwicklung der Arten, weil sich die Auslesekriterien beziehungsweise Überlebensregeln plötzlich ändern. Einmal überleben die Kälteresistenten, ein anderes Mal die Hitzebeständigen – am Ende die anspruchslosen Schildkröten und immer die besten Anpassungskünstler an alles, zum Beispiel Menschen oder Bakterien.

 

Die heutige Innovationswut der Märkte besonders rund um Internet und Computer versucht, absichtlich Krisen in den Märkten zu erzeugen, um zu Blitzreichtum zu gelangen. NeueTechnologien schlagen wie Meteoriten in den Märkten ein und überschwemmen sie mit nie  da gewesenen Produkten. Die »alten« Hersteller müssen sich anpassenund meist weichen, weil sie sich so schnell nicht anpassen können. Besonders die etablierten Großen – wir sahen es ja – sind »too big to change«, Dinosaurier eben. Die wirtschaftliche Entwicklung wird zum Zwecke des Reichwerdens der Angreifer vorangetrieben, und nicht so sehr zum Erzielen von Wohlstand.

Wir spüren es: Wir werfen viele Dinge vorzeitig weg, weil die technologische Entwicklung es nahelegt. Wir nutzen Computer, Handys, PCs, Autos, Rekorder (für Bänder, Kassetten, CDs, DVDs, Blu-ray) oder Navis immer nur bis zur Ankunft einer neuen Technik. Die Konzerne bauen sündhaft teure Produktionsstätten für Geräte, die schnell unmodern werden. Ganze Fertigungsstraßen werden immer wieder stillgelegt zugunsten neuerer, die wiederum in noch niedrigeren Lohngebieten errichtet werden. Industriestätten werden vor der Zeit weggeworfen wie die Produkte von den Konsumenten. Der hektische Wandel, den Innovationswut und Krisenhandel an den Finanzmärkten erzeugen, kostet enorm viel Geld! Die Wirtschaft wächst viel zu schnell! Doch die Wirtschaft will es so,weil sie daran Geld verdient.Aber wir Menschen erschaffen und bezahlen die Welt alle paar Jahre neu, obwohl wir eigentlich alles länger nutzen könnten. Es steht außer Frage: Wir könnten bei einer etwas langsameren Entwicklung und ganz normaler stetiger Arbeit vollkommen langweiligen Wohlstand für viel mehr Menschen erzeugen als heute, denn viele  Menschen können sich bei dem angezettelten Turbo- Darwinismus ebenfalls schlecht anpassen (»too old to change«, »too established to change«). Wir Menschen leiden darunter, dass die Krisen durch Volatilität oder Innovation selbst zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden sind, der aber nicht mehr den primären Zielen der Wirtschaft  dient – eben die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Eine Welt 2.0, 3.0 und so weiter ist sicher wünschenswert für eine immer bessere Zukunft der Menschheit, aber wir haben kaum einen Nutzen vom Neuen, wenn wir es kaum  genießen und immer wieder Ressourcen für den nächsten Release-Wechsel ansparen müssen.

Sophrosyne

… ist eine der vier platonischen Kardinaltugenden, die der Besonnenheit. Eine wirklich genaue Definition gibt es bei Platon nicht – er will ja, dass wir selbst denken und nicht einfach auswendig lernen. Sophrosyne steht für die Tugend des Maßes, das Wissen um die gesunde Mitte, die Vorsicht, die Umsicht und die Ruhe. Dieses Ideal bezeichnet das ruhige Vorangehen in der Mitte des guten Weges. In der Mitte gehen – ganz ruhig in der Mitte des Weges! Das möchte ich lieber als das Springen über Gräben, Stapfen durch Sumpf, das Schrammen am Wegrandstacheldraht, als die gewaltsam angestrengten Abenteuer beim Abkürzungssuchen. Ja, ich weiß, es gibt auch heilsame Krisen und auferstehende Neuanfänge. Ja, es gibt die Rückkehr des verlorenen Sohnes und die immer kitschigeren Happy Ends plötzlicher Persönlichkeitswandlungen in der 119. Filmminute. Aber im Durchschnitt zerbrechen die Ehen, großen Lieben, Unternehmen, Kulturen, Machtblöcke und Diktaturen, die Marktführer und Weltmächte an den Krisen – und dann leider auch nicht schnell und schmerzlos, sondern in quälend langer ignoranter Agonie. Geht es nicht besser auf besonnene Art? In der Mitte des Weges? Klar geht das, aber ich sehe alles sicher zu idealistisch. Die Menschen erzeugen immerfort Krisen, eine nach der anderen, gegen jeden besonnenen Rat. Heraklit sagte einst: »Der Krieg ist der Vater aller  Dinge.«Aber der Frieden und Sophrosyne sind die Mutter aller Dinge. Für mich ist das so.