Gratis-Beitrag: Sibylle Lewitscharoff – Drei Tannen

Sibylle Lewitscharoff

Drei Tannen

Es waren einmal drei kleine Tannen, die in einer leicht abschüssigen Schonung nahe der Staatsstraße 2368 wuchsen, die nach Bad Tölz führt. Sie waren dazu bestimmt, im Dezember abgeholzt zu werden, um als Weihnachtsbäume verkauft zu werden. Die zarten Tännchen standen nah beieinander und hatten so etwas wie Freundschaft geschlossen, obwohl die

Bäume gemünzt ist. Es handelte sich aber durchaus um eine innige Beziehung, denn die drei vermochten es, sich untereinander zu verständigen. Botschaften witschten zwischen ihnen geschmeidig hin und her. In Ermangelung einer fundierten wissenschaftlichen Bezeichnung nennen wir die Art ihrer Verständigung einfachheitshalber Tannensprache (wobei wir allerdings zugeben müssen, dass wir nicht allzu viel von ihr verstehen). Wie dem auch sei – die Tannen tauschten sich untereinander aus, und vielleicht machte sie genau dieses Vermögen, das sie von anderen Tannen unterschied, schlau.

Schlau waren die Bäumchen auch in anderer Hinsicht. Als sie Waldarbeiter auf Lastwagen heranfahren sahen, wussten sie, was die Stunde geschlagen hatte. Und bevor die Männer damit fertig geworden waren, ihre Äxte und Motorsägen herunterzuladen, machten sie sich davon.

Jawohl, Sie haben recht verstanden – stante pede auf und davon!

Man wird jetzt einwenden: Das geht nicht. Bäume können alles Mögliche, aber laufen können sie bestimmt nicht. Da täuschen Sie sich allerdings gewaltig. Zugegeben, nur sehr wenige sind dazu in der Lage, und sie tun es im Verborgenen, damit die Menschen davon nichts mitbekommen. Aber die drei kleinen Tannen konnten es, und andere Bäume können es auch, von denen hier jedoch nicht die Rede ist. Es sei dazu noch angemerkt, dass die wenigen Bäume, die diese überraschende Fortbewegung beherrschen, nur in jungen Jahren dazu fähig sind. Als ältere, gediegene Bäume mit entwickeltem Blätterdach oder opulent auskragenden und anmutig wippenden Nadelfingern vermögen sie es nicht mehr, weil sich unter ihnen ein riesiges Wurzelwerk ausgebreitet hat, das sich nicht mehr so leicht vom Boden lösen lässt. Unsere schlauen Tannen konnten ihre Würzelchen jedoch ohne Mühe, und ohne dass sie nennenswerten Schaden genommen hätten, an die Oberfläche ziehen.

Für diese erstaunliche Eigenschaft, die sie in den Rang von herausragenden Persönlichkeiten erhebt, würden wir sie gern mit ihren Eigennamen ansprechen, sie zum Beispiel Tatara, Kaukasa, Suchuma

nennen. Doch das geht leider nicht. Wir kennen ihre Namen nicht, wissen nicht einmal, ob man ihnen überhaupt welche verliehen hat. Aber wir kennen die genaue Bezeichnung ihrer Art. Es handelte sich um Nordmanntannen, die als beliebteste Weihnachtsbäume gehandelt werden, weil sie sich auch im unteren Bereich buschig ausprägen und ihre Zweige ziemlich kräftig sind, deshalb kann man an ihnen Schmuck anbringen, ohne dass sie sich allzu sehr biegen. Außerdem sind ihre Nadeln eher weich, jedenfalls nicht stechend spitz. An ihnen kann man sich kaum verletzen.

Mit der Tannenfachhuberei sollten wir jetzt aber aufhören.

Viel wichtiger ist, dass die kleinen Bäume nicht nur besonders intelligent waren, sondern ihnen auch so etwas wie – das mag jetzt seltsam klingen – eine gewisse religiöse Fühlungnahme zu eigen war, die man allerdings nicht überbewerten darf, weil sie ein wenig mit Humor gepaart war. Humorvoll zu sein, gehört ja nicht unbedingt zum Kerngeschäft des Religiösen, und von Bäumen ist auch nicht bekannt, dass sie Witzbolde sind, doch davon später.

Nun aber bitte voran mit der Geschichte!

Unsere drei kleinen Tannen liefen weg, ja, sie rannten sogar, denn es pressierte. Und die Waldarbeiter, die zu sehr mit ihren schweren Gerätschaften befasst waren, als dass sie hinter ihren Schutzbrillen hätten Umschau halten können, bekamen davon nichts mit, wiewohl es helllichter Tag war, allerdings ein grauer, kein sonnenbeschienener. Gottlob waren auch keine Spaziergänger unterwegs, nur ein alter, kurzsichtiger Rentner in einiger Entfernung, der seinen Rauhaardackel ausführte. Der Hund bekam tatsächlich etwas mit von der ungewöhnlichen Rennerei. Instinktiv merkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Ein Stück weit lief er den Tannen hinterher, wurde von seinem Herrn jedoch zurückgepfiffen und trottete wieder brav an dessen Seite.

Vielleicht wird der geneigte Leser nun gerade diese Behauptung anzweifeln, denn von Rauhaardackeln ist nicht bekannt, dass sie ihren Herren oder Damen aufs Wort folgen, erst recht nicht die bayrischen,

und ganz gewiss nicht, wenn sie eine interessante Witterung aufgenommen haben. Vielleicht lag es daran, dass Schnacks in einer Hochhaussiedlung von Kassel zur Welt gekommen und damit seiner Natur von vornherein entfremdet war, aber das ist nun wahrlich ziemlich haltlos dahinspekuliert.

Bitte mehr Disziplin und zurück zum Thema!

Sie wollen jetzt bestimmt wissen, wie es Tannen schaffen können, einfach mal so davonzulaufen, schließlich haben sie keine zwei Beine, sondern bloß einen Stamm. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Tannen haben Wurzeln, und wenn sie geschickt genug sind, diese unbeschädigt aus dem Erdreich zu ziehen, können sie auf ihnen davonwuseln, gerade so, als befände sich unter dem Stamm eine Schar Tausendfüßler, die sich zunächst kreiselnd bewegen, dann aber ein bestimmtes Ziel anvisieren. Aus dem Kreis wird dann so etwas wie eine lang gezogene Ellipse, wobei sich die Würzelchen in einem Wimmelaufruhr befinden, der eben nicht planlos nach allen Seiten strebt, sondern in der Lage ist, sich auf eine Richtung zu verständigen und den Stamm mit sich davonzutragen. Natürlich kann das nur gelingen, solange der Stamm noch kurz und schmal ist und seine Äste nicht viel wiegen. Der Kronenwille des Baums behält in diesem sehr besonderen Fall die Oberhand und steuert das emsige Gewimmel zu seinen Füßen auf dem von ihm bevorzugten Pfad.

Dass außer dem Hund kein Zeuge imstande war, die Tannen beim Wegrennen zu beobachten, lag im Übrigen auch daran, weil über den feuchten Wiesen Nebelschleier waberten, die nicht nur flach über dem Grund hingen, sondern mitunter Zipfel ausbildeten, die eine Fühlungnahme mit dem Himmel aufzunehmen schienen, der sie mit seinen Regengüssen zuvor gespeist hatte.

Die Tannen rannten, erst schnell, dann immer langsamer, denn inzwischen waren sie dem Verhängnis ja bereits entkommen. Einmal hielten sie abrupt inne und standen wie die Soldaten stramm, denn in der Ferne war ein Traktor aufgetaucht, und der Mann, der darauf saß, hätte sie bei ihrem spektakulären Treiben beobachten können. Danach

marschierten sie vorsichtig Umschau haltend weiter, denn es galt, einen Platz zu finden, der keine Neugier weckte, wenn an ihm urplötzlich drei neue, wie von Zauberhand dahinpraktizierte Bäumchen standen. Mitten auf einer Wiese oder einem Acker haltzumachen, um sich frisch einzuwurzeln, empfahl sich selbstverständlich nicht. Auch scheuten die Tannen Gehöfte und kleine Hausansammlungen, weil deren Bewohnern neue Bäume, von denen niemand wusste, wer sie angepflanzt hatte, äußerst merkwürdig vorgekommen wären. Wir behaupten jetzt nicht, die Tannen hätten sich im Sinne einer komplizierten menschlichen Sprach- und Denkoperation mit diesem Problem befasst. Sie handelten instinktiv. Nach längerem Hin und Her und einigen Richtungswechseln im Zickzack war endlich ein passender Ort gefunden, der ihnen zusagte.

Inzwischen waren sie am Rand eines Mischwaldes angelangt, der sich anmutig hügelan, hügelab ausgebreitet hatte. Ein Spazierweg führte an dessen Saum entlang, auf dem sich derzeit jedoch kein Mensch befand. Und da stand es! Ein Wegkreuz, auch genannt Marterl, mit seinem spitzen Dächlein, das den gekreuzigten Jesus behütete, dessen Körper auf den ersten Blick weniger schlimm der Pein preisgegeben zu sein schien, weil er sich fast anmutig an das Kreuz schmiegte und seine gefolterten Arme nicht allzu lang durchhingen. Natürlich waren trotz alledem die Köpfe der Nägel zu sehen, die die Hände und Füße durchbohrten, und der zur Seite geneigte Kopf des Erlösers mit der Dornenkrone strahlte nun nicht gerade Freude aus. Sein hölzerner Körper war inzwischen grau geworden, obwohl er unter dem ziemlich weit vorgewölbten Dach weniger der Witterung ausgesetzt war als sonst bei Wegkreuzen üblich.

Wem auch immer dieses Kreuz zu verdanken war, es musste ein besonnener Mensch gewesen sein, denn er hatte sich darum gekümmert, dass Jesus nicht auch noch unter der Nässe litt. Auch hatte er den vorderen Rand des Daches mit einem feinen Holzornament geziert, welches die Jesus zugeordneten Blumen zu einem Reigen verschränkte – Röslein, die stechen, und Lilien, die im Paradies

wachsen –, wodurch das gesamte Gebilde recht schmuck wirkte.

Die Tannen, die inzwischen gemächlich auf ihren wimmelnden Wurzeln dahinglitten, nahmen sich zwar vor weiteren Menschen in Acht, die hätten auftauchen können, aber als sie vor dem Marterl zu stehen gekommen waren, vergaßen sie jede Vorsicht. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, dass sie davon fasziniert waren, ob nun von Jesus selbst oder dem ungewöhnlichen Standgebilde, lässt sich nicht entscheiden. Von außen hätte man es daran erkennen können, dass sich ihre Wipfel ein wenig nach vorn neigten, um das ihnen bisher unbekannte Phänomen näher zu betrachten. Gottlob blieben sie unbeobachtet, denn kein Mensch kam den Weg entlang, nur einige Nebelkrähen hüpften auf der nahe gelegenen Wiese herum, die längst abgemäht war. Es liegt nun mal nicht in der Natur von Nebelkrähen, sich für Weihnachtsbäumchen zu interessieren, die neugierig vor einem Wegkreuz stehen.

Was genau sich in diesen Momenten zwischen dem Dreierbund abspielte, lässt sich nicht genau sagen. Dass die Tannen in einem intensiven Austausch begriffen waren, hätte ein geschulter Beobachter jedoch an ihren Zweigen erkennen können, die ein Zittern überrann, das nicht vom Wind herrührte. Wie sich die Tannenarme bisweilen mit Vorbedacht untereinander berührten, ließ auf eine intensive Kommunikation schließen, die man – das allzu menschelnde Wort sei bitte verziehen – als Fingerspitzengespräch bezeichnen könnte.

Es dauerte nicht lang, da waren sie offenkundig zu einem Entschluss gekommen. In einer sanften Wellenbewegung schwankten die Zweigspitzen hin und her, lösten sich wieder voneinander, und wie auf ein Kommando scharten sich die Tannen im Halbrund um die Rückwand des Kreuzes und standen nun so selbstverständlich da, als hätten sie in ihrem noch jungen Leben immer schon da Posto gefasst. Der Platz war ausgezeichnet gewählt. Wenige Meter hinter ihnen standen hohe Fichten und Lärchen, die ihnen Schutz vor dem Wind gewährten, ohne ihnen das Sonnenlicht zu rauben. Und am Boden wuchsen zwei Pfaffenhütchen und ein Kreuzdorn.

Schön und gut, hier könnte die Geschichte enden, indem wir behaupteten, die Bäume stünden immer noch dort, seien inzwischen gewachsen, jedoch auf rücksichtsvolle, einen Kranz bildende Weise, die den Pfahl stützte und festhielt, ohne das Marterl zu untergraben und sein Umfallen herbeizuführen. In der Zukunft mag es sich so zutragen, jetzt muss allerdings davon erzählt werden, welche Personen vorbeikamen und ob Jesus unter seinem Dachschutz bei ihnen Beachtung fand.

Während der nächsten Woche hellten sich die kürzer werdenden Tage auf, Spaziergänger benutzten den Weg, und einige Turnschuhleute sprinteten am Wegkreuz vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken. An den Bäumen störte sich ohnehin keiner, offenkundig fiel niemandem auf, wie sich der Ort durch das Trio der Neulinge verändert hatte. Einzig Schnacks, der hin und wieder mit seinem Herrchen auftauchte, schien etwas zu bemerken, denn er drehte einige Male den Kopf in Richtung Tannenkronen, schnüffelte dann hinter dem Marterl herum, hob das Bein, pinkelte an einen der Bäume, ließ von ihm ab und rannte seinem Besitzer hinterher. Die meisten Gewächse schätzen es nicht, wenn Hunde sie anpinkeln, doch sie können nichts dagegen unternehmen. Anders unsere Tannen. Die mittlere von ihnen, die um wenige Zentimeter größer war als ihrer Schwestern, entschloss sich zur Selbstverteidigung, indem sie beim nächsten Besuch des Hundes eine ihrer Wurzeln aus dem Boden schnellen ließ, womit sie den Dackel an seiner empfindlichen Nase traf. Von nun an machte Schnacks einen weiten Bogen um die Bäume, indem er auf die Wiese rannte und erst nach etlichen Metern auf den Weg und zu seinem Herrn zurückkehrte.

Schnee fiel. Er fiel zunächst in dick zusammengepatzten Flocken, die am Boden schnell wegtauten. Doch allmählich wurde es kälter, nach und nach verdichteten sich die kleinen Schneeinseln, die bereits tapfer der Auflösung widerstanden hatten, zu zusammenhängenden Flächen, bis vom grünbraunen Grund der Wiesen und Äcker nichts mehr zu sehen war. Das Dach des Wegkreuzes war inzwischen von einer

Schneehaube überwölbt, eine weiße Decke hatte sich am Boden in der Wohnstatt des Erlösers gebildet, sogar in den elegant gekurvten Falten seines Lendenschurzes hatten sich einige Flocken niedergelassen. Die Zweige der drei Tannen waren ebenfalls schneebepackt. Sobald sie ein wenig in Bewegung gerieten oder sich selbst mit einem Ruck von der Last befreien wollten, lösten sich kleine Portionen davon ab und stäubten zu Boden. Auch auf dem Weg lag Schnee, nur an Stellen, wo die Spaziergänger häufig in derselben Spur gegangen waren, zeigten sich hin und wieder Flecken vom dunklen Grund.

Um den Schmerzensmann kümmerten sich die wenigsten Leute, den meisten war er allbekannt, diente ihnen allenfalls als Wegmarke, wie weit sie schon vorangekommen waren. Nur ein kleines Mädchen, das an der Hand der Mutter ging, war von ihm fasziniert, es drehte sich mehrmals nach Jesus um, bis die in einen roten Schal gehüllte Frau es so weit fortgezogen hatte, dass er außer Sichtweite gelangt war.

Am dritten Sonntag vor Weihnachten kam eine Frau in fellgefütterten Schuhen den Weg entlanggewandert, kein verhutzeltes altes Weiblein, sondern eine sehr schicke alte Dame, gehüllt in einen aufregend gefleckten Kunstpelzmantel und mit einem eleganten Hut auf dem Kopf, unter dem das graue Lockenhaar hervorquoll.

Es war spät am Nachmittag, windstill und kalt, die Dunkelheit hatte sich bereits über die Landschaft gebreitet, aus der Ferne sah man die Lichter einer Straßenbeleuchtung herüberscheinen, aufgereiht wie eine Perlenschnur. Die Frau stellte sich vor Jesus hin, murmelte ein Gebet, bekreuzigte sich routiniert und entnahm ihrer Handtasche drei kleine rote Glasbehälter, die sie auf den Boden vor das Wegkreuz stellte. Sie sahen ein bisschen aus wie die ewigen Lichter, die in Kirchen und Synagogen brennen, nur kleiner. Sie zündete die darin geborgenen Kerzen an, bekreuzigte sich ein zweites Mal, drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Bis zum nächsten Morgen kam sonst kein Mensch mehr vorbei. Kurz vor Mitternacht begannen die Kerzen noch ein bisschen zu flackern, dann ging eine nach der anderen aus und entsandte ein winziges Rauchfähnchen gen Himmel,

das in zwei, drei Sekunden auf Nimmerwiedersehen verweht wurde.

Tags zuvor war der volle Mond aufgegangen und hatte mit seinem kalten Schein das gleißende Schneefeld der Wiesen beleuchtet. Inzwischen war er wieder ein klein wenig schmaler geworden. Da kam es zu einem überraschenden Besuch. Ein Riesenvogel flog aus dem Waldstück heran und landete auf dem Dach des Wegkreuzes, wo er kurz mit dem Kopf hin und her ruckte, seine Schwingen an den Körper legte und dann unbeweglich hocken blieb. Die Tannen betrachteten ihn aufmerksam, sie kannten zwar kleinere Vögel, insbesondere Saat- und Nebelkrähen, aber ein derart riesiges Exemplar war noch nie in ihre Nähe geraten. Leider zeigte sich ihnen der Vogel nur von hinten. Nur zu gern hätten sie ihn auch von der Vorderseite betrachtet. Allein die Rückseite war beeindruckend, ein graugelbbraunschwarz gemustertes Kleid umhüllte den Körper bis zu den herabhängenden Schwanzfedern, am Kopf ragten zwei pinselig befranste Ohren halb in die Höhe und halb zu den Seiten hinaus. Es handelte sich um einen Uhu mit mächtig gebogenem Schnabel, der das Feld überwachte. Den Schnabel und den mit etwas feineren und helleren Daunen gefiederten Bauch des Vogels, gesprenkelt mit dunklen Flecken, sahen die Bäumchen nicht, aber inzwischen waren sie sehr, wirklich sehr neugierig geworden.

Die Tanne, die auf der linken Seite stand, wagte sich ein bisschen vor und tupfte den Uhurücken mit einem weit nach vorn gestreckten Zweig an. Da drehte sich der Kopf des Vogels zu ihr herum und starrte sie aus zwei orangeroten Augen an, in denen große schwarze Pupillen saßen. Die kleine Tanne nahm ihren Zweigfinger sofort zurück. Es schien, als habe der Uhu ihr mit seinem starren Blick einen strengen Verweis erteilt. Dann drehte er seinen Kopf wieder nach vorn, hob die Schwingen und flog in niederem Abstand über dem Schneefeld davon.

Das Treiben und Trudeln der Flocken hatten inzwischen ganz aufgehört, aber es war kalt geworden, sehr kalt sogar. Die Schneepartikel offenbarten ihre Verwandtschaft mit der kristallinen Struktur so mancher Juwelen und glitzerten an der Oberfläche, was das Zeug hielt. Aus Sicht der Natur war der Abend des 24. Dezember ein

Abend wie viele andere auch, vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass die Sterne am nächtlichen Himmel sich ausnahmen wie blitzende Stecknadelköpfe. Der Mond war inzwischen wieder etwas schmaler geworden, dafür trat das Licht der Sterne stärker in Erscheinung. Auf dem Weg vor dem Kreuz hatten sich am Vormittag und frühen Nachmittag Spaziergänger mit ihren Hunden sehen lassen, sobald es dunkel geworden war, kam niemand mehr vorüber. Nur einige Rehe, deren Silhouetten sich von der gleißenden Fläche abhoben, liefen in weiter Entfernung über die weiß gedeckte Fläche.

Um die drei Tannen herum war es sehr still geworden. Kein Wind wehte, deshalb verharrten die Äste der Bäume in vollkommener Reglosigkeit. Doch immer wieder flogen Schneestäubchen von ihnen herab, lautlos. Da geschah etwas Seltsames. Auf das Dach des Wegkreuzes war jemand geklettert, nicht irgendwer, sondern ein Wesen von Bedeutung: Jesus höchstpersönlich! Der Leser mag sich jetzt wundern, gar den Kopf über diesen Unsinn schütteln, was wir ihm nicht verdenken können. Wir sind aber gehalten, den Pfad der Wahrheit nicht zu verlassen. Es war Jesus. Definitiv.

Die drei Tannen waren überrascht, als das ziemlich nackte Männlein, notdürftig bekleidet mit seinem Schurz, der den Körper nicht wärmen konnte, auf dem Dach seiner Behausung zum Vorschein kam und sich fröstelnd die Arme rieb. Bald darauf hockte es da wie ein Häuflein Elend oder wie ein Kind, das nicht mehr ein noch aus weiß. Ihm klapperten die Zähne, und sein kleiner Leib, der inzwischen anders aussah als zuvor, zitterte. Während der vielen Jahre, die er bewegungslos in seinem Gehäus verbracht hatte, war eindeutig zu erkennen gewesen, dass Jesus aus hartem Holz bestand. Als er sich allmählich grau verfärbte, konnte man die Materie, aus der er geschaffen worden war, sogar für Eisen halten.

Jetzt aber hockte da ein Wesen aus Fleisch und Blut, sehr bleich, sogar leichenblass, und zitterte. Dass in seinen winzigen Adern das Blut zirkulierte, war von außen natürlich nicht zu erkennen, aber es war gar nicht anders möglich, denn die Bewegungen wirkten vollkommen

natürlich, wenn auch durch die Kälteschauer, die ihn überliefen, abgehackt und krampfig.

Obwohl für eine Tanne der Unterschied, ob ein Mensch aus Fleisch und Blut besteht oder aus Holz, nicht sonderlich groß ist, waren die Bäumchen doch höchlich erstaunt, das kleine Wesen so unverhofft vor sich zu sehen, noch dazu zitternd. Was sich nun zwischen ihnen entspann, davon haben wir natürlich keine genaue Kunde. Es wäre vermessen, zu behaupten, wir verstünden uns auf die Tannensprache oder auf das Aramäische, in dem Jesus vermutlich ursprünglich gesprochen hat. Nur die bayrischen Worte, die in seiner Rede vereinzelt auftauchten, waren einigermaßen verständlich. Aus dem hin und her schwankenden Redefluss – selbstverständlich ohne jede Gewähr – seien nun einzelne Worte herausgefischt, mit denen sich der Inhalt des Gesprächs, das wir als eine besondere Art der sacra conversazione bezeichnen wollen, notdürftig wiedergeben lässt (wobei wir den Begriff mit Absicht kleingeschrieben haben, weil es sich eben nicht um ein weltwirksames Gespräch unter lauter bedeutenden Teilnehmern der jesuanischen Wirkungsgeschichte handelte, sondern um das Schwatzschwatz eines winzigen Jesus mit drei noch sehr kindlichen Tannen).

Es ist anzunehmen, dass die Bäumchen ihn fragten, wie es dazu kam, dass er auf das Dach geklettert sei, es musste ja einen Grund dafür gegeben haben, weshalb er aus seiner Behausung ausgebüxt war. Stockend erklärte Jesus, ihm sei urplötzlich bitterkalt geworden, da habe er sich bewegen müssen. Natürlich sagte er nicht nolens volens, sondern etwas in der Art von: wegen der Saukältn hob i halt furt miassn. Die Tannen wiegten daraufhin verständig ihre Köpfe. Dass man sich aus einer unerträglichen Lage befreien musste, indem man floh, wussten sie nur allzu gut.

Ob er schon immer da gehangen habe? – wollten sie von ihm wissen. War er ursprünglich vielleicht von einem ganz anderen Ort hierher gewandert, wie sie es selbst getan hatten? War er womöglich zur Flucht gezwungen worden

hatte er es geschafft, sich an das Kreuz zu schmiegen, ohne herunterzufallen? Hatte ihm jemand dabei geholfen?

Für lange Erklärungen war es natürlich viel zu kalt. Aber Jesus nahm seine letzten Kräfte zusammen und sprach von den Städten Nazareth und Jerusalem, von einer Flucht und der Krippe im Stall, von Ochs und Esel, die den Tannen allerdings Rätsel aufgaben, weil sie ihnen völlig unbekannt waren. Hätte Jesus Kuh gesagt, hätten sie sofort verstanden, dass es sich um Tiere handeln musste.

Als Jesus jedoch, weil ihm die Stimme versagte und seine Atemluft keine Wärme mehr erzeugte, mit etlichen Unterbrechungen auf seine lange Wanderschaft zu sprechen kam, nickten sie sofort mit ihren Köpfen, schließlich waren sie darin Profis. Auch das Wort, das in dem Zusammenhang fiel – Erlöser –, kam ihnen vertraut vor. Erst vor Kurzem hatten sie ja selbst das Kunststück fertiggebracht, ihre Wurzeln vom Boden zu lösen, und waren davongeeilt. Allerdings weckte das Wort Weihnachten in ihnen Gefühle der Abwehr und des Schmerzes, es hatte sich ihnen fest eingeprägt als etwas, wegen dessen man sie hatte töten wollen.

Kurzum, sie erkannten in dem zitternden Männchen einen Kameraden aus der Fremde, auch wenn es ein bisschen anders aussah als eine winzige Tanne und komischerweise bei einer Temperatur fror, die aus ihrer Sicht nicht besonders kalt war. Natürlich machten sie darüber diskret ihre Witze, deren genauen Wortlaut wir hier leider nicht wiedergeben können. Gottlob verstand der Erlöser ihre Scherze auch nicht.

Wieder ernst geworden, kamen die Tannen darin überein, dass Jerusalem vielleicht doch nicht im Kaukasus lag, vielleicht war es dort, wo er herkam, wärmer. Allerdings war es ihnen nicht möglich, herauszubekommen, ob Jesus geflohen war, weil er abgeholzt werden sollte. Aber irgendwas mit Holz tauchte aus seiner zwischen klappernden Zähnen hervorgepressten Rede auf, ein Holzkreuz mit Nägeln und mit so etwas Komischem wie INRI, das er ihnen vergeblich in einer völlig fremden Sprache zu erklären suchte als Iesus Nazarenus

Rex Iudaeorum – und immer wieder die Worte: Holz und Kreuz, Kreuz aus Holz.

Auch wenn sie das ganze Drumherum nicht verstanden von wegen irgendeiner Maria, die weinte, und irgendwelchen Jüngern, mit denen er durchs Land gezogen war (sie dachten dabei an Tannen, die noch winziger waren als das kleine Wesen vor ihnen. An der Stelle kamen Zweifel auf, ob man ihnen eine Lügenstory auftischte, denn vier, fünf Zentimeter messende Kindertannen können noch nicht laufen, weil ihre Würzelchen für Märsche noch nicht kräftig genug sind), genügten den Tannen die Worte Erlöser und Holz, um restlos davon überzeugt zu sein, dass es sich um ein Geschöpf ihresgleichen handeln musste. Sie waren also dazu verpflichtet, ihm zu helfen.

Wenn Tannen einen Entschluss fassen, gibt es kein ewig langes Hin und Her aus Rede und Widerrede, außerdem war hier Gefahr im Verzug. Die Bäume erkannten: Das zitternde Männchen würde nicht mehr allzu lange durchhalten können. Und wie auf Kommando begannen sich die Zweige der beiden außenstehenden Tannen nach ihm auszustrecken und ihn vorsichtig zu umgreifen, während sich die Zweige der in der Mitte stehenden Tanne wie in einem Kranz ein wenig zur Seite bogen, um den Stamm freizulegen. Dort war ein schmaler lang gestreckter Hohlraum zu erkennen, in den die geschäftigen Zweigfinger der beiden seitlichen Tannen Jesus nun hineinbeförderten. Sie mussten ihn ein bisschen stopfen, denn die Öffnung war nicht allzu groß.

Wundersamerweise troff sogleich herrlich riechendes Baumharz herab und versiegelte die Höhlung, in der Jesus von nun an geborgen war. Außerdem verhüllten ihn die in ihre natürliche Lage zurückgekehrten Zweige gut. In diesem Augenblick begannen die ersten Flocken wieder herabzusegeln. Die drei Bäume standen nun still wie ehrenhafte Wachsoldaten in Habachtstellung. Langsam überzog sich ihr Geäst mit frischem weißem Pulver, das haften blieb und ihnen das Aussehen von perfekten Märchentannen verlieh.

In dieser Stellung verharrten sie während der ganzen Nacht. Am nächsten Morgen ging die Sonne auf und ließ das weiße Feld vor ihnen

erglitzern. Spaziergänger, die sich am späteren Vormittag zeigten und keine Sonnenbrillen trugen, mussten ihre Augen mit der Hand beschirmen, wenn sie darüber hinblickten. Zunächst bemerkte niemand, dass unter dem Dach des Marterls etwas fehlte. Doch als die Frau mit dem roten Schal wieder gemächlich vorbeikam, sprang ihre kleine Tochter aus einer Gruppe von Verwandten heraus und zeigte auf das leere Kreuz.

Es dauerte nicht lang, da versammelten sich noch mehr Leute vor dem Marterl. Schimpfend und fluchend bestätigten sie sich gegenseitig darin, dass es mit der Welt mehr und mehr bergab gehe. Ein Mann zückte sein Handy und wollte sogleich die Polizei vom Diebstahl in Kenntnis setzen, aber die anderen hielten ihn davon ab. In einer Welt wie dieser hatte es eh keinen Sinn, einen solchen Verlust zu melden. Nur das Mädchen stand stumm da und schaute auf die leere Stelle im Gehäus. Sie war es auch, die als Einzige bemerkte, dass im vorderen Bereich des Bodens drei ordentlich nebeneinander gereihte Nägel la-gen, über denen sich bereits tröstliche Schneehäubchen gebildet hat-ten.

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Die Idee mit den rennenden Bäumen verdanke ich dem argentinischen Autor Felisberto Hernández, sie stammt aus dessen Erzählband Die Frau, die mir gleicht.