LongRead: Cordula Kropp: Urban Gardening

Grüne Nischen als Strukturwandel von unten

Keine der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um zukünftige Heraus­forderungen kommt ohne den Hinweis auf die rasch voranschreitende Verstädterung und die Diagnose aus, dass schon heute mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt und es 2050 sogar mehr als zwei Drittel sein werden. Weltweit dehnen sich die Städte in ihr Umland aus, nach innen werden sie weiter verdichtet und wachsen in die Höhe. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Wertschätzung von grünem Freiraum bei Stadtbevölkerung und auch Stadtplanung steigt. Interessant ist jedoch, dass gerade urbane Gärten und weitere Formen der Lebensmittelproduktion inmitten von Städten auf große Resonanz stoßen. Immerhin stellen sie die alte Selbstverständlichkeit auf den Kopf, dass städtische Räume Orte des Konsums sind, die Lebensmittelproduktion aber immer weiter in die Peripherie abwandert. Dieser Umstand trug zuletzt zur Befürchtung sogenannter food deserts bei, also der Ent­stehung solcher urbanen Gebiete, in denen eine Versorgung mit frischem Obst und Gemüse für große Teile der Bevölkerung kaum mehr möglich ist. Auch Katastrophen wie 9/11 und Fukushima haben die Wahrnehmung für riskante Versorgungsengpässe in Städten wie New York und Tokio geschärft, in deren Umfeld die Lebensmittelproduktion erst Hunderte Kilometer außerhalb ökonomisch rentabel ist. Die sozialis­tische Regierung von Kuba ordnete schon 1991 angesichts der schwieri­gen Versorgungslage die selbst verwaltete, landwirtschaftliche Nutzung von 50 000 Hektar in der Hauptstadt Havanna an: Heute stammen zwei Drittel des konsumierten Gemüses aus 25 000 dort bewirtschafteten ur­banen Gärten.

Was aber war es, das die Berlinerinnen und Berliner im Mai 2014 be­­wog, die Bebauungspläne des 380 Hektar großen Tempelhofer Feldes im Rahmen der Flughafen-Nachnutzung per Volksentscheid zu kippen? Sie lehnten nicht nur die Schaffung von Wohnraum, sondern auch die In­ternationale Gartenausstellung ab, um den Gemeinschaftsgarten »All­mende-­Kontor« und selbst kuratierte Experimentierflächen zu erhalten – nicht staatlich geschaffenes »Begleitgrün«. Dabei ging es nicht um die Sicherung der Lebensmittelversorgung. Vielmehr erfüllen die dort installierten, eigenwilligen Bewässerungs- und Erholungsbauten des Ge­meinschaftsgartens und die über 300 in wieder genutzten Pflanz­be­hält­nissen angelegten Hochbeete einen neuen Anspruch an den öffent­lichen Raum: Im Mittelpunkt steht die gemeinsame Entwicklung von lokalen Antworten auf Herausforderungen, die durch die zunehmend glo­balen Waren-, Kapital- und Menschenströme entstanden sind. Wäh­rend die Baurechtsnovelle von 2017 für Kommunen und Investoren mit der neuen Kategorie »Urbanes Gebiet« weitere Möglichkeiten eröffnet, um »dichter, höher und moderner« zu planen, streben die unter den Etiketten »Urban Gardening«, »Gemeinschaftsgarten«, »Selbsterntegar­ten« oder »urbane Landwirtschaft« engagierten Gruppen eine Stadtent­wicklung nach dem Prinzip »vielfältiger, grüner und zukunftsfähiger« an.

Mit dem Anbau von Salat und Gemüse mitten in der Stadt zielen sie auf grüne Oasen, lebendige Nachbarschaften und eine radikale Kritik an der als zerstörerisch beurteilten Wachstumsordnung. Diese Kritik erschöpft sich nicht länger in politischen Forderungen und Ankündigungen, sondern hat mit dem Umbau schon mal begonnen. Was an dem einen Ort wie ein verspielter Treffpunkt junger Mittelschicht­angehöriger wirkt, am nächsten wie eine biotechnische Innovation für die urbane Lebensmittelproduktion und am dritten wie eine sozialpädagogische Maßnahme in schrumpfenden Quartieren, wird getragen durch den über­greifenden Willen, die städtische Raumproduktion aus einem in­dus­triellen Selbstverständnis zu reißen. Sie soll stattdessen zur Bühne einer Verräumlichung zukunftstauglicher Natur-, Sozial- und Er­näh­rungs­verhältnisse werden, zum offenen Labor, um sichtbar und zentral Antworten auf die gegenwärtigen Umwelt-, Klima- und Strukturkrisen zu erproben und in Szene zu setzen.

In den vielfältigen Projekten der urbanen Ernährungsbewegung wer­­den städtische Räume bewusst und »kollaborativ« umgestaltet und neu definiert, um bislang ausgeblendeten Belangen im Nahraum unmittelbar Geltung zu verschaffen. Gehandelt wird dort, wo sich soziale Wirklich­keit als »Ensemble unsichtbarer Beziehungen« in sichtbare Positionen übersetzt.[1] Dabei geht es in den »alternativen Ernährungsnetzwerken« (alternative food networks), wie die weltweite Bewegung in der Wissenschaft heißt, um vieles zugleich: um grüne Infrastrukturen, gesunde Le­­­bensmittel, regionale Produktions- und Konsumptionsprozesse, sinn­volle Beschäftigungsmöglichkeiten, die Gemeinschaft mit Gleichgesinn­ten, die Verbindung zur Natur und ihren Kräften sowie die Wiederaneignung von offenen Begegnungsräumen gegenüber einer fortschreitenden Ver­markt­lichung und Enteignung des öffentlichen Raums.[2]

Auch in unserer Untersuchung [3] nennen die Beteiligten all diese Aspekte und bündeln sie in ihrer Kritik am globalen Agrar- und Lebensmittelsystem. In ihm kämen die wirtschaftlichen, politischen und räumlichen Verwerfungen ausbeuterischer Natur-, Arbeits- und Sozial­verhältnisse besonders deut­lich zum Ausdruck. Während die boomenden Gärten in den Wachstums­metropolen Berlin, München, New York und Paris viel Aufmerksamkeit erfahren, erkunde ich die Bewegung im Folgenden in den beiden Städten Leipzig und Nantes, die auch die dunkle Seite des Strukturwandels kennen, nämlich Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgren­zung. An beiden Orten stehen die urbanen Gärten für den Aufbruch in eine andere Zukunft.

Leipzig: Grün als Signatur der Postwachstumsgesellschaft

Das im Osten Deutschlands gelegene Leipzig spielte in früheren Zeiten als Zentrum des internationalen Pelzhandels eine Rolle, zudem als ei­ne der ersten Universitätsstädte Deutschlands. Zu DDR-Zeiten war die Stadt ein wichtiger Industrie-, Gewerbe- und Messestandort, auch Gegenstand sozialistischer Stadterneuerungsprojekte, und schließlich ab Sep­­tember 1989 Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen, die maß­geblich zum Fall der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland beigetragen haben.

Mit der Wende kamen für die Bürgerinnen und Bürger jedoch nicht nur neue Reise- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, son­­­­dern auch Er­fahrungen eines harten Strukturwandels mit hoher Ar­beits­­­losigkeit, der Entwertung bisheriger Lebensmodelle und enormen Bevölkerungs- und Funktionsverlusten. Die dramatische Deindustria­li­sierung und die mas­senhafte Abwanderung verursachten neben noch be­stehenden Kriegsbrachen einen weiteren sichtbaren Verfall sowie Woh­­nungs- und Ge­bäudeleerstand, der zu Beginn des neuen Jahrtausends 20 Prozent des Bestands erfasst hatte. Leipzig galt als »Metropole des Leerstands« und Paradebeispiel für sogenannte shrinking cities. Wäh­rend die Medien vor allem die Verluste und Probleme schrumpfender Städte thematisierten und den meisten politischen Akteuren Konzepte für den notwendigen Stadtumbau fehlten, erkannten manche Autoren darin auch Chancen für urbane Lebensqualität durch mehr Grün, viel Platz und gute Bedingun­gen für subkulturelle Milieus.[4]

Heute ist Leipzig mit knapp 600 000 Einwohnern nicht nur eine wach­sende und weltoffene Stadt, sondern auch Zen­trum der deutschen Post­wachstumsdebatte und ein gern zitiertes Beispiel für die Entwick­lungs­kräfte der Krea­tiv­szene und einer aktiven Zivilgesellschaft. Mit schö­­nen Parkanlagen und Flussufern, traditionellen Schrebergartenver­einen, 35 Prozent land­wirt­schaftlich genutzter Fläche im Stadtgebiet und urbanen Waldflächen ist es zudem eine der grünsten Städte Deutschlands, in der man sich flexi­bel und experimentell auf die bewusste Nutzung der Spielräume eingelassen hat. Sie beheimatet eine besonders breite und aktive Szene alternativer Ernährungsnetzwerke. Es gibt dort neben einer Transition-Town-, Recht-auf-Stadt- und Regionalgeld-Ini­tiative mehrere Organisationen solidarischer Landwirtschaft mit überregionaler Bekanntheit, viele Ge­meinschaftsgärten, Food-Coops und Stadt­imker, zudem Selbsternte­gär­ten, »Stadtpflanzer« und »essbare Wie­sen« sowie eine Stadtfarm für die Großstadtkinder. Betrachten wir die Szene genauer.[5]

Der Gemeinschaftsgarten Annalinde (annalinde-leipzig.de) entstand 2011 auf einem städtischen Grundstück im Leipziger Westen als »Ini­tia­tive für zeitgenössische Stadtentwicklung«. Die Betreiber sind keine Stadt­planer, wollen aber dennoch den urbanen Raum mitgestalten und be­­tonen die zentrale Rolle, die gemeinschaftlich bewirtschaftete Ge­mü­­se­­gärten für eine partizipative Stadtentwicklung spielten. In Pio­nier­­­arbeit schufen sie nach einer Saison in mobilen Kisten einen sichtbaren und öffentlich begehbaren Ort urbaner und gemeinschaftlicher Nahrungsmittelproduktion auf dem 1700 Quadratmeter großen Gelände ei­­­ner ehe­­maligen Brauerei. In auffälligen Mensch-Ding-Pflanze-Kom­po­­si­tio­­nen lassen sie im Garten zwischen, neben und auf den gebrauch­ten und gefundenen Behältnissen Mais, Kartoffeln, Tomaten, Bohnen, Grün­­kohl, Salate, Karotten, Zwiebeln und vieles mehr wachsen. Durch »verräumlichte« Aktivitäten, darunter öffentliche Dinner mit mobilen Kü­chen, kollektive Ernteaktionen und Transporte von Gemüsekisten und Kom­posttoiletten auf Lastenrädern quer durch die Stadt, wollen die Ge­mein­schaftsgärtner die Ausblendung von Landwirtschaft und Er­­näh­­rung im urbanen Raum hinterfragen. Mit der Namensgebung und den wirtschaftlichen Strategien greifen die Gründer eine durch In­dustrialisierung und Deindustrialisierung entwertete Tradition wieder auf: Bei Annalinde handelt sich um den Stadtteil Lindenau, zu dessen frü­he­­ren Selbstverständnissen die Begegnung unter der Linde gehörte. Heute, nach­­dem weder nach sozialistischem noch kapitalistischem Mus­­­ter in­­­dustrieller Effizienzsteigerung Siege in der Konkurrenz der Me­tro­polen erwartbar sind, setzen sie bewusst wieder bei der »Urproduktion« an und machen deren urbane Verortung in Direktvermarktung und auf Spei­se­karten der gastronomischen Kooperationspartner vor Ort als »Anna­linde Greens« sichtbar.

Die Gemüsekooperative Rote Beete (rotebeete.org) ist eine solidari­sche Landwirtschaft (community supported agriculture) im Nordosten Leipzigs, die neuartige Möglichkeiten der Stadt-Land-Kooperation durch die vertraglich geregelt Zusammenarbeit von Stadtbürgern und öko­­lo­gisch wirtschaftender Gärtnerei schafft: Die Mitglieder geben eine soli­­­dari­sche Abnahmegarantie für einen bestimmten Ernteanteil und erhalten im Gegenzug Einblick und Einfluss auf die Lebensmittelproduktion in ihrem lokalen Umfeld. Ironisch sprechen die Gründer davon, »blühende Landschaften zur Realität« werden zu lassen, und weisen das uneingelöste Versprechen aus Wendetagen zurück, mit den Mitteln westlicher Markt­wirtschaft nun auch im Osten schleunigst Wohlstand zu gene­rie­ren. Ihnen geht es demgegenüber darum, eine konsequent ökologische Ge­müseproduktion ohne marktwirtschaftlichen Ertragsdruck zu er­mög­­­lichen, die zudem besondere Prozess- und Produktqualität durch Vertrauen und Transparenz garantiert, nicht durch Siegel und Kontrolle. Seit 2017 sind die rund 350 Mitglieder in einer Genossenschaft orga­nisiert, ar­beiten in einem Mindestumfang organisatorisch oder land­wirt­schaft­lich mit und wissen viel über die regionalen und saisonalen Anbau­be­din­gungen, über europäische Agrarpolitik, die Entwicklung der Boden­preise und -qualitäten, über alte und neue Gemüsesorten und ihre nachhaltige Verarbeitung. Politisch geht es explizit darum, eine »Alterna­tive zum herrschenden Kapitalismus« aufzubauen, sich zu engagieren und mit weiteren Postwachstumsnetzwerken zu verbinden. Die Beteiligten wollen kein »Wohlfühl-Projekt« für LOHAS sein, sondern eine zu­kunftstaugliche Form der Lebensmittelversorgung aufbauen, die auch denkbare Krisen überdauern können soll: Die Rede ist von »Postkollaps­landwirtschaft«.

Mundraub (mundraub.org) ist eine gemeinschaftsbasierte Plattform, die deutschlandweit frei zugängliche Obstbäume und -sträucher im In­ter­net kartiert. Sie wurde 2009 gegründet, als sich zwei junge Menschen auf einer Paddeltour der Absurdität bewusst wurden, von weither importierte und in viel Kunststoff verpackte Supermarktfrüchte als Proviant mitzuführen, während um sie herum heimisches Obst an Baum und Strauch verdarb. Über einen eigenen Blog begannen sie, Fundorte von nicht genutztem Obst einzutragen. Heute haben sich über die Platt­­form mehr als 60 000 Personen mit Obstbäumen vernetzt. Als teils phy­­sische, teils virtuelle Allmende organisiert mundraub damit eine be­sondere Form der »essbaren Stadt«, um Vergemeinschaftung und die bewusste Gestaltung lokaler Naturverhältnisse zu fördern und so ein »fruchtiges Grundauskommen« für alle zu schaffen. Mit 3495 eingetragenen Fundorten in und um Leipzig wird das Netzwerk hier besonders stark genutzt (zum Vergleich: 750 Einträge in München, 78 in Frankfurt, 10 500 in Berlin); hinzu kommen fünf eingetragene Mos­tereien und eine eigene Gruppe »Leipziger Mundräuber«, die weitere Aktionen des Foodsharing, lokale mundräuber-Fahrradtouren und Bil­dungsprojekte organisiert.

Diese und viele weitere Unternehmungen bündeln lokal Engagierte der Leipziger Agenda 21 und der Transition-Town-Gemeinschaft in Leip­­zig unter dem Namen »Leipzig im Wandel« (nachhaltiges-leipzig.de). Für eine nachhaltige Umgestaltung der Stadt wollen sie eine klimaverträgliche Regionalisierung von Nahrungsmittelproduktion, Wirtschaft und Energieversorgung bewirken und sich von den nicht nachhaltigen und ungerechten Routinen einer im Überfluss lebenden Wegwerfgesellschaft trennen. Den negativen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und der Verschlechterung der Umweltqualität treten sie mit alternativen Visionen, zivilgesellschaftlicher Kreativität, eingebetteten (Garten-)Tech­­niken, Musik und Wissen entgegen. Anlässlich der Degrowth-Kon­ferenz 2016 wurde ein Stadtplan zur räumlichen Positionierung der Al­ter­nativen in Leipzig entworfen, der die Vielfalt der Projekte und ihren Beitrag zur Stadt im nachhaltigen Wandel auch im konzeptionellen Raumbild verankert.

Nantes: Grün, aber sozial gerecht

Nantes liegt im Westen Frankreichs und hatte als Hafenstadt an der Loire-Mündung lange Zeit eine Vormachtstellung im internationalen Skla­venhandel. Während des 19. Jahrhunderts war die Entwicklung vor allem durch den industriellen Schiffsbau mit großen Werfthallen sowie eine starke Agrar- und Lebensmittelindustrie mit bekannter Keksmanufaktur bestimmt. Seit Beginn des industriellen Niedergangs Ende der 1980er-Jahre führten die Erfahrungen von Armut und Exklusion wie auch verwahrlosten Industriebrachen, insbesondere auf der Île de Nantes im Zentrum der heutigen Stadt, zur Entstehung einer stark für so­­ziale und ökologische Zwecke engagierten Zivilgesellschaft. Die Wen­de auf dem Weg zur Dienstleistungsmetropole kam mit einer aktiven In­fra­strukturentwicklung und der Aufwertung des öffentlichen Raums. Heute ist Nantes vor allem für sein reichhaltiges Kulturangebot bekannt und wurde 2013 zur Umwelthauptstadt Europas gekürt. Politisch sieht man sich auf einem »nachhaltigen Transformationspfad«, für den par­ti­­­zipative Ansätze der Stadtentwicklung und eine ­­lokale Lebens­mittel­ver­­sorgung unter dem Stichwort autonomie alimen­taire (Ernährungsautonomie) eine wichtige Rolle spielen.

Während sich die Stadtplanung der Herausforderung stellt, aus den kontaminierten Flächen einer ehemaligen Industriestadt einen gartengerechten Ort zu ent­wickeln und dafür neben eigenen Projekten auch zivilgesellschaft­­liches Engagement fördert, bietet der 2016 gegründete Bürgerverein Con­seil Nantais de la Nature en Ville konkrete Beratungs- und Unterstützungs­angebote für die Mandatsträger und die interessierte Öffentlichkeit an. Der Verbund fran­zösischer Metropolen und Städte, France urbaine, präsentierte Nantes 2018 entsprechend als ein »Experi­men­tier­gebiet im Bereich nachhaltiger Stadtentwicklung und urbaner Land­­wirt­schaft«. Die engagierte Bürger­meisterin und ihre Stadtplaner kön­nen auf eine Zivilgesellschaft bauen, die unter dem Stichwort agriculture urbaine nicht nur eine alternative Nahrungsmittelbereitstellung verfolgt, sondern vor allem eine veränderte Raumerfahrung und einen starken Zusammenhalt erreichen will. Auch an dieser Stelle lohnt ein genauerer Blick.

Die Petite Ferme Urbaine de Bellevue ist eine Stadtfarm auf einer Fläche von 3000 Quadratmetern, die in engem Bezug zum Quartier mit mobilen Hochbeetkulturen und Gewächshäusern zur Nahversorgung beitragen möchte. Es geht um die strategische Nutzung nachwachsender Ressourcen für eine postfossile Stadtgesellschaft durch den Aufbau städtischer Ökosysteme. So werden beispielsweise in nicht mehr genutzten unterirdischen Räumen Champignons in recycelten Behältern für den erntefrischen Verbrauch vor Ort kultiviert. Der Initiator ver­bin­­det seit jeher ökologisches und soziales Engagement und griff für die urbane Farm von Bewohnern aus Sozialbauten die Wünsche auf. Ausgehend von bereits geschaffenen lokalen Kreisläufen der »Abfall-Neubewertung«, den Aquaponik-Systemen und der Hühnerhaltung geht es um die grundsätzliche Schaffung von Möglichkeiten, mit geringen Mit­teln gemein­same Pflanz- und Ernteerlebnisse wie auch den Wandel des Ernährungs­systems partizipativ und entlang der Bedürfnisse von Zuge­wanderten zu gestalten.

Gemeinsame Planung und Entwicklung geben den beteiligten und interessierten Nachbarn Gelegenheit für Treffen und Erfahrungsaustausch. Im Gespräch betonen sie, dass sie das Projekt als ei­nen Ort er­le­ben, an dem exemplarisch deutlich wird, wie sich Menschen überall den Stadtraum wieder aneignen und ihn selbst gestalten können. Die Stadtfarm zwischen den Wohnblöcken diene nicht nur der Begegnung, sondern schaffe auch Räume und Zeitfenster für gemeinsame Un­ter­neh­mungen der Familien, die ihnen den Alltag erleichterten.

Der Nachbarschaftsgarten Prairie d’Amont (prairie-amont.fr) verstetigte sich im Anschluss an die Feierlichkeiten zur Auszeichnung von Nantes als Umwelthauptstadt Europas im Jahr 2013. Die grünen Begegnungsräume mussten nicht, wie sonst oft üblich, mühsam der Büro­kratie abgetrotzt werden, sondern die Konversionsfläche am Ende der Île de Nantes wurde im Rahmen einer kommunalen Ausschreibung der be­nachbarten Stadtbevölkerung für die Umsetzung ihres ­Gartenkonzepts überlassen. Den Beteiligten geht es explizit um einen Beitrag zur Stadtentwicklung: Sie wollen sich über Nantes hinaus an der Entwicklung ur­­baner Visionen beteiligen, Städte stärker durch gemeinsame Tätigkeiten als durch private Investitionen gestalten und sie auf zukünftige Heraus­forderungen vorbereiten. So sollten alle Stadtviertel mit Obstbäumen anstelle dekorativer Bäume bepflanzt werden und Mikroörtlichkeiten für eine Praxis alternativer Naturbeziehungen bereithalten anstelle von Konsumflächen. Neben dem Willen, sich mit Ernährungsfragen aus­ein­­an­derzusetzen, die Natur in die Stadt zu holen und ein Leben in der nachhaltigen Stadt vorzudenken, geht es vor allem darum, dies alles nicht alleine zu tun, sondern unter Ausschöpfung der vielfältigen Erfahrungen einer sozial sehr heterogenen Nachbarschaft. Der Garten ist für die Aktiven ein multifunktionaler Ort der Vernetzung, zum Beispiel für Kinderbetreuung, und soll dafür zusätzlich noch eine Hütte mit Küche und eine Werkstatt erhalten.

Der Zweck der Initiative Bio-T-Full (bio-t-full.org) besteht darin, un­terschiedliche Formen urbaner Landwirtschaft zu entwickeln und mit Bil­­dungsprojekten zu deren Ausbreitung beizutragen. Der Begriff urbane Landwirtschaft bezeichnet zunächst alle Formen der Lebensmit­telpro­­­duk­­tion in urbanen Ballungsräumen, die der nahräumlichen Ver­sor­gung mit Lebensmitteln dienen. Während im globalen Süden landwirt­schaft­­­liche Betriebe in dicht besiedelten Stadtgebieten durchaus »rural« wirt­schaften, handelt es sich im globalen Norden meist um »urbane« Landwirtschaft auf nicht landwirtschaftlichen Flächen und in nicht landwirtschaftlicher Manier. Hauptsächlich werden dort die Produkte selbst konsumiert, gespendet oder im Direktvertrieb gehandelt.

Damit gewährleistet urbane Landwirtschaft vor allem eine Ver­sor­­gung von einzelnen Haushalten zu bestimmten Zeiten im Jahr mit ei­ner eingeschränkten Produktpalette. Allerdings erreicht sie oft nicht die­­je­ni­­­­gen, die von einer unzureichenden Nahrungsmittelversorgung betroffen sind. In Nantes hat die Initiative jedoch gezielt Bevölkerungs­gruppen im Blick, die sich von den typischen Konsumstilen der Mit­telschicht un­­terscheiden. Neben städtischen Formen des Gartenbaus umfasst Bio-T-Full auch Formen der Tierhaltung im Stadtgebiet (Geflügel, Ka­nin­chen, Aquakultur und Bienenhaltung) und ist nicht an bestimmte soziale, wirtschaftliche oder ökologische Zwecke, etwa der Selbstversorgung, der ökologischen Produktion oder des sozialen Tauschs, gebunden. Vielmehr stehen der Bildungsaspekt und die Entwicklung emanzipativer, zivilgesellschaftlicher Kapazitäten im Vordergrund. So finden sich auf der Fläche ein »Solilab« (ein gemeinsamer Arbeitsort für Initiativen der So­zial- und Solidarwirtschaft) und Elemente zur Demonstration urbaner Nahrungsmittelproduktion. Hier können Aquaponik-Anlagen besichtigt werden, in denen die in speziellen Behältern betriebene Aufzucht von Fischen (Aquakultur) mit dem Anbau von Nutzpflanzen in Growbeds (Hydrokultur) in einem geschlossenen Kreislauf gekoppelt ist. Diese Nachbildung des natürlichen Stickstoffkreislaufes, in der die Ausscheidungen der Fische als Nährstoffe für Tomaten und Kräuter genutzt wer­­den, soll deutlich machen, wie eine moderne Rückkehr der Natur in die Stadt aussehen kann und sich von Landwirtschaft im ländlichen Raum unterscheidet.

Auf Gründungsveranstaltungen für urbane Landwirtschaften finden sich in Nantes in der Regel zwischen 50 und 100 Personen ein, die aktiv an der Erschließung grüner Stadträume mitarbeiten wollen – eine Teilnahmebereitschaft, die in vielen anderen Bereichen nicht generiert werden kann. In Interviews betonen die Befragten, dass sie die Gestaltung nachhaltiger Quartiere in die eigenen Hände nehmen möchten, um auch eigene Vorstellungen umzusetzen und ein soziales Miteinander aufzubauen. Einige weisen explizit darauf hin, dass es auch darum gehe, den Bewohnerinteressen gegenüber der immer stärkeren Kommerzialisierung des öffentlichen Raums mehr Bedeutung zu verleihen. Dies spiele vor allem dort eine Rolle, wo nicht jeder jede Begegnung mit Konsum verbinden könne. Deshalb sieht sich Bio-T-Full dem zi­vil­gesellschaftlichen Auftrag verpflichtet, urbane Gemeinschaftsräume zu öffnen, in denen alternative Wege in eine postfossile Zukunft unter Berücksichtigung verschiedener Interessen ausgelotet werden.

Allen Projekten in Nantes ist gemeinsam, dass die Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren, auch sozial schwächerer, Teil der Agenda ist. Die urbane Ernährungsbewegung soll weder der Spielplatz arrivierter Mittelschichten sein noch in abgeschlossenen Gemeinschaften stattfinden, sondern in einer stadtöffentlichen Vernetzung geschehen, die weitere Interessierte zur Beteiligung einlädt und zwischen verschiedenen Lebens­vorstellungen vermittelt. Wie in Leipzig nehmen sich die unterschiedlichen Initiativen als komplementär und zusammengehörig wahr. Selbst wenn einzelne Projekte keine aktiven Gartentätigkeiten betreiben, wid­men sie sich der Aufgabe, Erfahrungsorte für die sozialökologischen Alternativen zu schaffen. In Nantes haben sich dazu mehrere Initiativen in Kooperation mit der Universität als »Stadtarchitekten« in dem Kollektiv LABAU (labau.eu) zusammengeschlossen, um im Haus urbaner Landwirtschaften die Demokratisierung vielfältiger urbaner Naturverhältnisse als Gegensatz zur fragmentierten »modernen« Stadt zu organisieren. Wie in Leipzig wurden auch hier einige Initiativen in einem Stadtplan positioniert, der zugleich eine hypothetische Visualisierung der daraus hervorgehenden räumlichen Ambitionen einer cité cultivée – einer kultivierten Stadt – darstellt.[6]

Grüne Nischen als Raumpolitik

Wie in unzähligen weiteren Beispielen in anderen Städten verbinden die Aktiven Selbstversorgung in urbanen Gärten und Landwirtschaften nicht mit Rückständigkeit, Ausgrenzung und Armut, sondern mit postmaterieller Lebensqualität, Stadtökologie, wechselseitiger Weiter­bil­dung und der Wiedergewinnung von Zukunft. Anstelle einer fort­schrei­­tenden Vermarktlichung des öffentlichen Raums durch eine konsumorientierte, auch neoliberale Stadtentwicklungspolitik, in der sich die private Inwertsetzung mit der Enteignung öffentlicher Räume verbindet, verfolgen sie Strategien der gelebten Aneignung von Begegnungsräumen und ihrer Nutzbarmachung für gemeinwohlorientierte Zwecke. Dabei kommt der Lebensmittelproduktion eine erschließende Funktion zu, denn sie macht auf der ersten Ebene die Entfremdung von Nahrungsmitteln und ihrer Produktion bewusst, auch die im Grunde fehlende Ernährungssouveränität. Auf der zweiten Ebene macht sie erkennbar, dass sowohl der Zugang zu natürlichen Ressourcen, zu Freiflächen ohne Konsumption als auch zu öffentlichen Räumen für die verschiedenen Bewohnergruppen ungleich und beschränkt ist.

In den Sozialwissenschaften gelten Räume längst nicht mehr als neu­trale Container, sondern als ein heterogenes Ensemble von Relationen aus Menschen, Dingen und Topologien, die handelnd hervorgebracht und mehr oder weniger umkämpft produziert und reproduziert werden.[7] Sie sind, wie Pierre Bourdieu mehrfach herausgestellt hat, nicht neutral, sondern durchzogen von ungleichen Gestaltungsmöglichkeiten, Positionierungen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen.[8] Dabei setzen sich in der Raumproduktion vor allem jene Akteure durch, die im Kampf um symbolische Deutungsmacht ihre Sicht der sozialen Welt als legitime geltend machen und damit zugleich Trennungslinien und Klassifizierungen der Welterzeugung etablieren können. Räume sind al­lerdings mehr als der Ausdruck sozialer Verhältnisse, die sie spiegeln, reproduzieren und symbolisieren. Sie entstehen vielmehr als soziomaterielle Assemblagen, in denen sich neben den gesellschaftlichen Formen der Raumproduktion, inklusive jene des Kartierens und Klassi­fizierens, auch die physischen und natürlichen Kräfte niederschlagen: von Flüssen, die infolge der globalen Erwärmung regelmäßig über die Ufer treten, bis zu den Folgen der Ausbreitung eingeschleppter Neophyten.

Das Verhältnis von Stadt und Natur ist aus dieser Sicht eine historische Relation, in der bislang vor allem die Industrialisierung und der technische Fortschritt als Agenten des Wandels gesehen wurden. Für Henri Lefebvre hat die politische Ökonomie der industriellen Marktwirtschaft ein sozial programmiertes Alltagsleben mit entsprechend an­gepassten urbanen Lebensweisen und die Desintegration der tradi­tio­­­nellen Stadt zugunsten der Expansion eines industriellen Urbanismus hervorgebracht.[9] Während Städte in vorindustriellen Zeiten aus dem unmittelbaren Umfeld versorgt wurden und sie auch innerhalb der Stadt­mauern Le­bensmittel produziert haben, hat sich die Versorgung im Zuge der In­dus­­trialisierung in immer weiter entfernte ländliche Bereiche mit nied­rigeren Bodenpreisen verschoben. Heute produzieren die meisten Landwirte für den globalen Markt und nur wenige für die regionale Nach­frage. Mit den sozialräumlichen Positionierungen ist eine urbane Umwelt außerhalb der Stadt entstanden und ein Klassenkampf um Zen­­trum und Peripherie, Marginalisierung und Segregation.[10] Seit Lefebvre gilt der Raum in der kritischen Geografie daher sowohl als Ort als auch als Medium politischer Kämpfe.[11]

Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn inmitten von Städten und oftmals als Zwischennutzungen auf teurem Grund Orte der gemein­samen Lebensmittelproduktion und -verteilung entstehen? Es han­delt sich um Interventionen, mit denen zivilgesellschaftliche Akteure den Prozess der Raumproduktion und die Trennung in konsumptive Städte und produktives Land sowie in Angebot und Nachfrage irritieren. Sie stellen die Selbstverständlichkeiten der Lebensmittelwirtschaft und der Raumentwicklung infrage und eröffnen stattdessen Horizonte für andere Erfahrungs- und Handlungsräume. Sie tun dies zwar getrieben von der Suche nach Möglichkeiten der gemeinsamen Entfaltung alternativer Zukünfte, aber auch strategisch, unmittelbar und im Zentrum der moder­nen Welterfahrung, nämlich in den Innenstädten und in der urbanen Nachnutzung von Industriebrachen.

Ross Beveridge und Philippe Koch nehmen solcherlei kollektive, organisierte und auch strategische Praktiken mitsamt ihrem Ziel, alternative soziale und räumliche Rela­tio­­nen im urbanen Hier und Jetzt zu begründen, zum Anlass, die Kate­gorie der »urbanen Alltagspolitik« (ur­ban everyday politics) einzuführen.[12] Als »dezentrierte Wege« des Politisch-Seins lassen sie die institutionalisierte, staatlich gedachte Politik links liegen und nehmen stattdessen das Miteinander »menschlicher und nicht-menschlicher Kollektive« in den Blick.[13] Anstatt politische Ansprüche zu formulieren, wie Räume genutzt, Lebensmittel produziert oder Teilhabe organisiert werden soll, unterwandern sie die industriellen Grenzziehungen und scheinen Bruno Latours terrestrisches Manifest aufzugreifen, sich als Bürger neu zu erden, sich an einen Boden zu binden, Sorge für ein Stück Erde zu tragen, neue Bündnisse einzugehen und »darüber zu verhandeln, wie und wo wieder Bodenhaftung erzielt werden könnte«.[14]

 

Cordula Kropp, geb. 1966, ist Professorin für Umwelt- und Technik­so­ziologie an der Universität Stuttgart. Zuletzt erschien »Nachhaltige I­nnovationen« (In: Birgit Blättel-Mink et al.: Handbuch Innovationsforschung).

 

Der Text erschien in Kursbuch 197 »Das Grün«. Dieses und weitere Kursbücher finden Sie in unserem Webshop.

________________________________________

Anmerkungen

[1]        Pierre Bourdieu: »Sozialer Raum und symbolische Macht«, in: ders.: Rede und Antwort. Frank­furt am Main 1992, S. 135–154, hier S. 138.

[2]        Alison Hope Alkon: »The Socio-Nature of Local Organic Food«, in: Antipode 45/3 (2013), S. 663–680; Adanella Rossi: »Beyond Food Provisioning: The Transformative Potential of Grassroots Innovation around Food«, in: Agriculture 7/6 (2017); Christa Müller (Hrsg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011.

[3]        Ich möchte an dieser Stelle dem BMBF für seine Förderung des Projekts »Neue Chancen für eine nachhaltige Ernährungswirtschaft durch transformative Wirtschaftsformen« (www.nascent-transformativ.de) danken und den Kolleginnen und Kollegen in Wissenschaft und Praxis für die wertvolle Zusammenarbeit, aus der dieser Text hervorgeht. Die Fallstudie in Frankreich hat Clara da Ros in ihrer Masterarbeit erschlossen.

[4]        Vgl. Annegret Haase et al.: »The Concept of Urban Shrinkage«, in: Environment and Planning A, 46 (2014), S. 1519–1534.

[5]        Vgl. Cordula Kropp, Christa Müller: »Transformatives Wirtschaften in der urbanen Ernährungs­bewegung: zwei Fallbeispiele aus Leipzig und München«, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 62, 3–4 (2018), S. 187–200.

[6]        Arnaud Aubry: »Cultiver la ville«, in: Les Autres Possibles 6 (Mai 2017).

[7]        Vgl. Henri Lefebvre: The Production of Space. Oxford 1991 [1974].

[8]        Bourdieu 1992.

[9]        Henri Lefebvre: Writing on Cities. Oxford 1996.

[10]       Vgl. ebd.

[11]       Vgl. David Harvey: Spaces of Capital. Towards a Critical Geography. New York 2001.

[12]       Ross Beveridge, Philippe Koch: »Urban everyday politics: Politicising practices and the transformation of the here and now. Environment and Planning D«, in: Society and Space. Online first (2018).

[13]       Ebd., S. 4.

[14]       Bruno Latour: Das terrestrische Manifest. Berlin 2018, S. 65.