Peter Felixberger – Sachbücher des Jahres 2021

Viele Bücher gibt es, die unser Wissen mehren und unser Denken weiten wollen – aber nur wenige sind sehr empfehlenswert. Der Sachbuchlektor, Kritiker, Herausgeber des Kursbuchs und Autor Peter Felixberger wühlt sich von berufswegen durch viele Neuerscheinungen. Hier stellt er die aus seiner Sicht interessantesten Sachbücher des Jahres vor – ideale Geschenktipps für weihnachtsgeplagte Menschen.

  1. Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. 55 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde. Mare

Dieses wunderbare Buch lege ich allen ans Herz, die poetisch-absurde und makabre Geschichten lieben. Eine Reise zu 55 Inseln, auf die man niemals reisen wird. Der Schriftsteller Clemens Setz hat das Buch wie folgt kommentiert: „Dieses Buch hat mir Stunden allerglücklichster Desorientierung beschert und meinem Papierkorb einen ganzen Stoß unnütz gewordener, lebloser Reiseführer.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

  1. Silvia Ferrara: Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften. C.H.Beck

Wenigstens viermal in der Weltgeschichte wurde die Schrift neu erfunden. Silvia Ferrara ist Professorin für Ägäische Kultur und hat sich in ihrem Buch nicht weniger als ein globales Panoptikum der Schriftgeschichte zum Ziel gesetzt. Ein Buch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Leserinnen und Leser, die sich gerne von globalen, historischen Erkenntnisreisen überraschen lassen – und darüber hinaus ein schön gestaltetes Reisebuch durch die Welt der Schriften.

  1. Horst Bredekamp: Michelangelo. Wagenbach

Mein Lieblingsbuch des Jahres 2021 – ein leinenfarben geheftetes Werk mit Garamond-Schrift und so überbordend altmodisch, dass sich kein Algorithmus, keine Künstliche Intelligenz und keine Datenbank so ein außergewöhnliches Buch hätte ausdenken können. Horst Bredekamp ist Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler, er hat den Versuch gewagt, das monumentale Werk Michelangelos zu bändigen und jedes einzelne Werk von ihm deutend auf einer Perlenschnur aufgefädelt – so skizziert er die künstlerische Geschichte dieses Ausnahmekünstlers auf bunt-schillernde Weise nach. Ich empfehle eine Schritt-für-Schritt-Lektüre: Jeweils zwei bis vier Seiten der reichlich bebilderten Deutung mit einem Glas Rotwein.

  1. Kursbuch 208: Koalitionen. Kursbuch Kulturstiftung

Kleiner Werbeblock – das Kursbuch 208 im wunderschönen Himmelblau beschäftigt sich mit Koalitionen. Mit dabei ist unsere neue Herausgeberin Sibylle Anderl, Wissenschaftsjournalistin bei der FAZ, die in jedem Kursbuch naturwissenschaftliche Perspektiven aufspürt. In „Koalitionen“ haben wir unter anderem Beiträge von Wolfgang Schmidbauer, Viola Priesemann, Berit Glanz und ein Interview mit Georg von Wallwitz versammelt. Ein Zitat von Ovid aus dem Essay von Wolfgang Schmidbauer »Warum schlechte Beziehungen halten« möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: „Ich sehe das Bessere, billige es, und folge dem Schlechteren.“ Ein Motto, das einigen unter uns sicherlich nicht unbekannt ist.

  1. Judith Brückmann, Cord Neubersch: Immer funktionieren funktioniert halt nicht. Kiepenheuer&Witsch

In meinen jährlichen Buchvorstellungen darf kein Ratgeber fehlen – die sich meist dadurch auszeichnen, dass sie dünne Nudelsuppe sind und das, was wir ohnehin schon wissen, in noch einfachere Bouillonrezepte verpacken. Das ist hier anders. Judith Brückmann und Cord Neubersch sind Coach und Psychotherapeut – und außerdem Geschwister. Ein Reigen an Studienergebnissen, Gesprächen und Beispielen, bei dem man sich selbst immer wieder in den eigenen, alltäglichen Überforderungen ertappt fühlt. Kein Ratgeber, sondern eine Beschreibung von Wirklichkeiten. Deshalb eine klare Leseempfehlung für alle, die wie ich zu glauben meinen, dass sie jede Überforderung aushalten können.

  1. Armin Nassehi: Unbehagen. C.H.Beck

Das neue Buch meines Herausgeberkollegen des Kursbuchs – die systemische Betrachtungsweise der Überforderung. Armin Nassehi zeigt, warum der Versuch eines Summum bonum, also einer Bündelung von kleinteiligen und kleinräumigen Lösungen auf ein gemeinsames Gesamtziel in unseren komplexen Gesellschaften zum Scheitern verurteilt ist – was Unbehagen erzeugt. Ein anspruchsvolles und forderndes Buch sowie ein Plädoyer für die problemzermalmende Kleinteiligkeit gesellschaftlicher Konflikte.

  1. Georg Diez, Emanuel Heisenberg: Power to the people. Hanser

Journalist Georg Diez und Startup-Gründer Emanuel Heisenberg befassen sich mit der Frage, wie Technologien unsere demokratischen Prozesse besser machen können. Dabei kommen die beiden Autoren zu einem ähnlichen Schluss wie Armin Nassehi: Wir müssen dezentraler, kleinteiliger, lokaler werden, statt die großen politischen Routinen weiter hochzuhalten. Das Ende der großen Pläne. Power to the People strotz vor Beispielen, die versuchen, diese Dezentralität auf technologischer Ebene greifbar zu machen.

  1. Georg von Wallwitz: Die große Inflation. Berenberg

Georg von Wallwitz hat zwei Berufe. Bis Mittag ist er Schriftsteller, dann geht er seinem Erwerbsjob nach – er ist Vermögensverwalter. In seinem neuen Buch beschäftigt er sich mit einem der prominentesten Themen dieser Tage, der Inflation, und beschreibt die Wirkmechanismen von Inflation und Deflation. Dabei seziert er das kulturelle Gedächtnis des Umgangs mit Geld. Absolute Leseempfehlung für Alle, die ein Faible für Wirtschaftsgeschichte haben.

  1. Steven Pinker: Mehr Rationalität. S. Fischer

Kritiker von Steven Pinker halten seine Bücher für endlose Laberei. Stimmt auch. Ist aber gleichzeitig auch der unschlagbare Vorteil der Bücher des Psychologieprofessors. Wer sich mit Pinker auf die Reise macht, begegnet absurden wie erkenntnisreichen Abzweigungen, die sich am Ende des Bucher kohärent auflösen. Ein großartiges Lockdown-Buch, denn es plädiert erstens für Rationalität und zeigt zweitens die ausgesprochene Differenzierungsleistung, die heutzutage für Problemlösungen vonnöten ist. Außerdem ist Pinker ein gnadenloser Optimist. Eine Buchlektüre wie guter Portwein mit reifem Ziegenkäse.

  1. Levi Israel Ufferfilge: Nicht ohne meine Kippa! Klett-Cotta

Levi Israel Ufferfilge ist Schulleiter einer jüdischen Grundschule in Berlin und hat vor einigen Jahren bereits im Kursbuch einen Beitrag über jüdische Heimat geschrieben. Sein neues Buch ist gleichzeitig wunderbar unterhaltend, gleichzeitig bleibt einem das Lachen bei vielen Geschichten im Halse stecken. Ein mutiges Buch von einem mutigen Mann – mit Chuzpe gegen den Hass.

  1. Juri Schnöller: Public Arena Playbook. Murmann Publishers

Das Büchermachen hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert – und dieses Buch zeigt, wie. Entstanden ist dieses Buch mit einer Gruppe junger Menschen rund um Juri Schnöller aus Berlin, die sich mit digitaler Kommunikation beschäftigen – wir haben gemeinsam Co-Kreativ bei Null angefangen und gemeinsam die Buchidee entwickelt. Ein wahnsinnig intensiver Prozess. Das Ergebnis ist ein in Deutschland einzigartiges Buch – es zeigt, dass Verlage heutzutage nicht mehr nur Inhalt zwischen zwei Buchdeckel bringen, sondern ihre verlegerische Expertise als Entwickler einbringen müssen.

  1. Mountain Girls. Prestel Verlag

Ein Buch über Frauen, die gerne auf Berge steigen. Der geneigte Leser mag sich fragen, warum dieses Buch auch nicht-bergsteigende Männer fasziniert. Nun, es hat geschafft, über eine Kampagne in den sozialen Medien und im digitalen Raum eine Gesprächskultur rund um das Thema zu schaffen, dessen Ausgangspunkt das Buch ist. Auch hier scheint die Zukunft des Verlagswesens durch: Peer-to-Peer-Kommunikation statt Buchbesprechung, Communities statt Pressegespräche. Es ist nicht mehr entscheidend, dass das Buch das Königswerkzeug ist, sondern in eine Vielzahl von Gesprächsanlässen eingebunden ist. Und das Beispiel von »Mountain Girls« bietet diese Gesprächskulturen – nicht mehr primär in Buchhandlungen, sondern über digitale und analoge Gesprächsformate.