MONTAGSBLOCK /96

Neulich waren wir im Naturhistorischen Museum in Lissabon. Ein verregneter Sonntagnachmittag, graue Schleier hatten die Stadt eingehüllt. Der neue botanische Garten nebenan hatte sich in ein dunkles, undurchdringliches Grün verwandelt. Das Museum selbst wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen. Kein digitaler Ausstellungsbudenzauber oder postanaloger Präsentationschic. Stattdessen eine unendliche Fülle von Tierpräparaten aus Portugal und den früheren Kolonien, chemische Labornachbauten bis hin zu gruseligen Wachsmasken schlimmster Hautkrankheiten. Beinahe hätten wir uns als neugierige Boandlkramer im naturhistorischen Kleinklein verloren, bis wir zu einer kleinen Spezialausstellung über traditionelle Häuser in Guinea-Bissau gelangten.

Hintergrund: Zwei Architekten und ein Soziologe wurden 1959 und 1960 im Auftrag des portugiesischen Übersee-Forschungsinstituts dorthin geschickt, um zu erkunden, wie die Menschen im Alltag lebten, vor allem, wie sie wohnten. Man könnte jetzt einwenden, das interessiert mich heute ungefähr so, wie wenn in Chicago ein Fahrrad umfällt. Doch gemach! Die sogenannten „Moranças“, in denen die indigene Bevölkerung lebte, sind nämlich große, miteinander verbundene Hütten, eine Art von Wohn- und Lebensgemeinschaft für alle. Inklusive aller dafür notwendigen Gesprächs- und Meetingformate. Reale Chats und Face-to-Face-Infobörsen.

Hier beginnt die Geschichte anschaulich zu werden. Die portugiesischen Wissenschaftler zeigten den Einheimischen gleichzeitig Bilder von Menschen und Häusern aus aller Welt. Die Eingeborenen (darf man dieses Wort politisch korrekt überhaupt noch verwenden?) lachten herzhaft und klopften sich auf die Schenkel, als sie gewürfelte Großstadtarchitekturen, geschminkte Frauen und bunt schillernde Kaufhäuser aus der westlichen Welt sahen. Ein bisschen Mitleid war ebenfalls herauszuhören. Die armen Menschen, die in abgeschlossenen Käfigen leben müssen. Einander so fremd!

Zur gleichen Zeit, als die portugiesischen Wissenschaftler mit Leica und Rollei in einem kleinen, westafrikanischen Tropenland herumfotografierten, veröffentlichte der englische Sozialphilosoph Peter Winch, Professor am King’s College in London, ein kleines Büchlein zur Idee der Sozialwissenschaft. Darin thematisierte er die Frage, wie ein Verstehen des menschlichen Lebens überhaupt möglich sei. Oder auf unsere kleine Geschichte gemünzt, wie etwa ein Guinea-Bissauer unser modernes Leben interpretieren und verstehen könnte. Eigentlich gar nicht, und umgekehrt auch! Die Welt, so Winch in Anlehnung an Wittgenstein, könne nämlich nur aus der eigenen Realitätskonstruktion verstanden werden. Aus der Regelhaftigkeit seiner selbst. Kein Wunder also, dass die Eingesessenen lachen und Mitleid empfinden, wenn sie auf uns blicken. Es ist ein Lachen, das sich aus genau dieser Unsicherheit und einem tiefen Gefühl des Nichtverstehens speist.

Wir Europäer hingegen wähnen uns erkenntnistheoretisch mehrheitlich immer noch in der Sicherheit, den anderen so verstehen zu können, wie er sich selbst. Wir nicken und umarmen das Fremde klammheimlich als Teil unseres Wirklichkeitshorizonts. Paradox ist allerdings: Der Schritt zur Ausgrenzung ist von da an nur ein kleiner. Im totalen Verständnis des Anderen liegt nämlich der Keim des Ausgrenzens. Was eine zentrale Erkenntnis moderner Sozialwissenschaft geworden ist, die mit ihren klebrigen Tentakeln unsere mediale Hyperwelt fixiert hat: In der Selbstgewissheit eigener Wirklichkeitskonstruktion wird das Fremde weggefräst. Der Fremde wird zum einschichtigen Merkmalsträger unserer Weltinterpretation statt zum konkreten, vielfältigen Individuum, als das er sich selbst erlebt. Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat diesen Kontext in seinem Manifest ohne Grenzen wunderbar auf den Punkt gebracht: „Zuerst wird der Mitmensch als Außenseiter dargestellt, als etwas Irreguläres. Von da ist es ein kurzer Schritt, ihn als eine Gefahr wahrzunehmen, als eine Bedrohung für die anderen, die vermeintlich Normalen.“

Kühe beäugen sich in der Mittagssonne. In der Mitte wartet eine Gimme-Shelter-Hütte vergeblich auf Kundschaft. Hirten wenden sich ab. Im Dschungel lauern gefährliche Raubtiere.

Kühe in Guinea-Bissau, um 1960. Aus der Ausstellung „Moranças“ im Naturhistorischen Museum, Lissabon.

 

Peter Felixberger

MONTAGSBLOCK /96, 02. Dezember 2019