Der Montagsblock soll schon auch praktisch sein. Und was könnte praktischer sein in diesen Zeiten als ein Tipp für ein schönes Weihnachtsgeschenk für die Lieben? Es wäre ein Geschenk für den aufgeweckten Google-Sucher und natürlich auch die mindestens so aufgeweckte Google-Sucherin von 9 bis 90. Es ist ein wundervolles Geschenk für alle Computernutzer, die dem Rechner nicht recht trauen. Und, Hand aufs Herz, das sind wir letztlich alle. Ich muss gestehen: Ich habe das Werk, das ich gleich empfehlen werde, erst gerade entdeckt, obwohl ich seit Jahrzehnten passionierter Nutzer dieses Internets bin und das anzuzeigende Werk bereits seit über 20 Jahren, seit 1998, in jährlich überarbeiteter Form erscheint.
Ich gebe weiters zu: Es ist mir nicht nur um eine Serviceleistung für Weihnachten zu tun, sondern zugleich kann man an dem schönen Werk auch beobachten, wie unsere Gesellschaft letztlich funktioniert, wie träge sie ist, welche Persistenzen zu beobachten sind und wie sehr sie sich bei gleichzeitigem epochalem und disruptivem Wandlungsdruck gegen das Neue wendet – und es damit eigentlich noch leistungsfähiger macht. Ich meine das „Web-Adressbuch für Deutschland 2020“, das vor einigen Wochen erschienen ist, in 23., völlig neu bearbeiteter Auflage, 600 Seiten stark und zu einem wirklich angemessenen Preis. Es verspricht: „Ausgewählt: Die 5.000 besten Web-Seiten aus dem Internet.“ Auf der Verlagswebsite wird das Buch als „Standardwerk für das deutschsprachige Internet“ annonciert. Der Verkaufsrang bei internetbasierten Online-Buchhändlern im deutschsprachigen Internet weist aus, dass sich das Werk tatsächlich nicht schlecht verkauft. Besagte Verlagsseite zitiert übrigens aus der Fachpresse – und platziert das Zitat werbewirksam auf dem Cover der neuesten Ausgabe: „An die Vorauswahl der Redaktion kommen die Algorithmen von Google & Co nicht ran.“
Man wird wohl niemandem zu nahe treten, wenn man das bezweifelt, weil es eben die echtzeitliche Form des Internets mit jener Buchdrucktechnik unterläuft, die Informationen und Kommunikation gerade zeitfest machen will, physisch festlegt und das Verhältnis von Information und Mitteilung zeitunabhängig machen möchte. All das zu vermeiden, ist die Funktion jener Algorithmen, die in Suchmaschinen immer neue Rekombinationen von Datenpartikeln zu informationsfähigen Zeichen verdichten und gegenwartsbasiert verarbeiten. Schon in der nächsten Suche kann das Ergebnis ganz anders aussehen – der Preis niedriger, das Angebot besser, die Information aktueller oder die Meldung noch besser begründet. Darin hat das „Web-Adress-Buch“ tatsächlich etwas geradezu Ironisches – und verweist darauf, wie sehr sich Gesellschaften an eigene Routinen gewöhnen und wie schwer es am Ende doch ist, sich auf das Neue einzustellen. Wäre das Buch eine Satire, hätte es zumindest die Pointe auf seiner Seite, auf das neue Medium hingewiesen zu haben. Es scheint aber keine Satire zu sein und verweist damit auf die Persistenz von Formen.
Und genau darin hat es eine ganz eigene Ironie. Man assoziiert mit der Digitalisierung und dem Internet nicht zu Unrecht Disruption, Veränderung, Wandel, Neues. Aber das Material der Digitalisierung ist die persistierende Struktur der Gesellschaft und ihrer Routinen und Praktiken, die Regelmäßigkeit und Musterhaftigkeit unseres Verhaltens und nicht zuletzt die merkwürdige Stabilität hinter den so veränderlich anmutenden Lebensformen der digitalisierten Welt. Die Ironie besteht also darin, dass das „Web-Adress-Buch“ einerseits die Segnungen des Internet in Anspruch nehmen möchte und ausweislich der Verlagswebsite genau das besser kann als die technische Basis von Internet-Anbietern selbst, andererseits will es so aussehen wie ein Internet-Brockhaus oder Meyers Großes Internet-Lexikon, international vielleicht wie eine Internetcyclopedia Britannica – massiv im Erscheinungsbild, stabil im Abgang.
Doch vielleicht tut man den Machern dieses Werks Unrecht. Tun sie nicht letztlich das, was man den Machern der großen Algorithmen vorwirft, nämlich gerade nicht die möglichen Potentiale des Suchens, des Findens, des Rekombinierens usw. technisch zu ermöglichen, sondern allzu erwartbare (und vor allem: vermarktbare) Ergebnisse durch die Algorithmen zu produzieren? Letztlich ist das „Web-Adress-Buch“ fast ehrlicher, weil es genau das sichtbar tut, was an den Algorithmen von Google & Co unsichtbar bleibt: Eine Benutzeroberfläche herzustellen, die plausibler aussieht als das, was plausibel möglich wäre. Denn der Algorithmus des Buches – wahrscheinlich in Form einer Redaktion mit Entscheidungskompetenz – macht gar nicht den Anschein, so etwas wie ein objektives Suchbild zu erzeugen, sondern ein besonders praktikables und kundenorientiertes. Wahrscheinlich wird dieser Redaktionsalgorithmus sogar kundenorientierter sein als Google & Co, weil er den gesuchten Websites gar nichts wird anbieten können, auch keine Suchoptimierung, die ja aus Kundensicht eine Gefunden-werden-können-Optimierung ist.
Womöglich ist das „Web-Adress-Buch“ das bessere Internet-Tool, was nun zugegebenermaßen eine weitere Ironieschleife wäre. Nur an die echtzeitliche Dimension der Konkurrenz kommt das Buch nicht heran. Aber alles hat seinen Preis.
Ich habe darauf verzichtet, die genauen bibliografischen Angaben zu nennen – ich will ja keine Schleichwerbung machen. Aber man wird die Sache schnell bei Google & Co finden – und wenn nicht, könnte man ja einen Blick in das „Web-Adress-Buch“ werfen, Vielleicht kommt es in sich selbst vor. Zusatztipp für den schnellen Weihnachtseinkauf: Das Werk ist auch als E-Book erhältlich, dann bestimmt auch mit Verlinkungen, was auf Papier nur schwer gelingt.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK/ 97, 16.12.2019