Als zu Beginn der Karwoche – ausgerechnet! – die Cathédrale Notre-Dame de Paris auf der Île de la Cité in Flammen aufging, haben alle üblichen Verdächtigen ihre üblichen verdächtigen Rollen gespielt. Die Medien haben Live-Bilder gesendet (wenn auch nicht das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen), man redete stundenlang über Dinge, über die man noch nichts wusste, Solidaritätsadressen wurden verlesen, der französische Staatspräsident definierte einen nationalen Notstand, und alle möglichen politischen Akteure verarbeiteten das Ereignis mit ihren je eigenen Bordmitteln: für die einen war es ein Weckruf an die verschütteten Gemeinsamkeiten Europas, für andere war es Anlass, sich mit dem Angebot von Hilfe in Szene zu setzen, und für die semantisch erstarkte Neue Rechte war es ein Zeichen für den Niedergang Europas. Wie in einem Brennglas konnten all diese Reaktionen auf den sozialen Netzwerken nachverfolgt werden – von großer Betroffenheit, oftmals mit kleinen Hinweisen auf die letzte eigene Reise zu dem vielbesuchten Gotteshaus, bis hin zu den allzu erwartbaren Stimmen, die in dem Ereignis ein Menetekel sahen: für den Niedergang Europas, die Umwandlung Europas in „Eurabien“ und was solchen Leuten sonst so einfällt. Auf einer der einschlägigen Webseiten der Neuen Rechten hat ein bekannter Autor mit nachgerade katholisch verfremdetem Nachnamen gemeint: Der Verlust (sic!) von Notre-Dame „gleicht einem Verlust eines Stücks unserer Seele, ja unseres kollektiven kulturellen Körpers“ – und selbst wenn der Brand nicht von Islamisten entzündet worden sei, sei er doch mehr als nur ein symbolisches Zeichen für den Selbstmord Europas. Wie glücklich dürfte diese Szene sein, dass man im Netz auch ein paar Muslime finden konnte, die angesichts des Brandes Smileys getwittert haben.
Ein anderer Autor postete auf Facebook: „Die Mutter Gottes erträgt die Untreue Ihres Volkes nicht mehr, und Sie liess eine feurige Träne hinabfallen… das ist das EINZIGE, was zur Brandursache zu sagen ist.“
Dass ich den Namen dieses Facebook-Mitglieds nicht nenne, liegt daran, dass ich den Autor, mit dem ich sehr selten einer Meinung bin, durchaus persönlich schätze. Dieses Schweigen ist mein barmherziger Beitrag zum Ende der österlichen Bußzeit.
Also – im Westen nichts Neues. Alle spielen ihre Rollen, und der Brand und die Reaktionen, die er ausgelöst hat, hätte ein veritables Kapitel in dem von Peter Felixberger und mir dargestellten Drehbuch über öffentliche Debatten abgegeben, ein Beispiel dafür, dass die so schnell getaktete, so beschleunigte, angeblich so unübersichtliche und überraschungsstarke Form der öffentlichen Kommunikation kaum Überraschungen parat hält, sondern die meisten Sprecher an ihren Skripten kleben lässt, die zu verlassen allenfalls im Skript selbst vorkommt.
Und doch: Der Brand scheint einen doch überraschenden Nerv getroffen zu haben – und ich gestehe zu: bei mir selbst auch. Wer je diese wundervolle Kathedrale besucht hat, wer je die bewegende Inschrift zum Gedenken an Kardinal Jean-Marie Lustiger gesehen hat, die dort auf seine Herkunft als Kind polnischer Juden hinweist, wird das nicht vergessen. Eine deutlicheres Abwehrsymbol gegen den dem modernen Antisemitismus vorangehenden religiös-kirchlichen Antijudaismus findet sich kaum – auch angesichts der Tatsache, dass seit 2007 unter Papst Benedikt XVI. die alte antijüdische Formel der Missionierung des Judentums in den Karfreitagsfürbitten wieder möglich wurde, nachdem der Vatikan nach dem Holocaust diesen Passus gestrichen hatte und das Judentum auf Augenhöhe anerkannte. Insofern brannte mit Notre-Dame auch ein katholischer Gegenpart zu Rom, zumindest in dieser Hinsicht. Aber das sollte nicht symbolisch aufgeladen werden. Der Brand war eine Verkettung unglücklicher Umstände – nicht mehr, nicht weniger. Aber er gebar Bilder – innere und äußere.
Wie gesagt, es ist erstaunlich, wie sehr dieser Brand, bei dem glücklicherweise kein einzelner Mensch zu Schaden kam (sogar die drei Bienenvölker auf der Sakristei sollen den Brand überlebt haben), Emotionen und Betroffenheit ausgelöst hat, auch bei mir. Aber die Reaktionen zeigen noch mehr.
Ohne das unmittelbare Gefühl abzuwerten: Es scheint ein Bedürfnis nach kollektiven Adressen zu geben, denen man sich irgendwie zurechnen und zuordnen kann – ohne dass das irgendwelche Konsequenzen hat. Es war offensichtlich eine kollektive Zugehörigkeit zu einem wie auch immer gearteten Europa, zu einer moralisch bedeutsamen, religiös codierten Form, zu einer Gemeinschaft der Betroffenen, zu einem Kollektiv, dem etwas widerfährt. Um dabei zu sein, brauchte es sehr wenig: den Ausdruck eines Gefühls, ein Post oder auch nur ein Like auf einem sozialen Netzwerk, die betroffen zustimmende Reaktion auf Kommentare usw. Die Reaktionsform, ob aktiv oder passiv, war sehr einfach zu haben – und sie wurde durch wirklich beeindruckende Bilder unterstützt und geradezu befördert. Das brennende Dach, der stürzende Turm, das bange Warten, ob das Feuer auf die beiden Portaltürme übergreift, vor allem aber das allegorische Bild vom nächsten Tag aus dem Inneren der Kathedrale, auf dem das goldene Kreuz vor dunklem Hintergrund erstrahlte und offensichtlich das einzige unversehrte Element war, hat eine enorme Anziehungskraft erzeugt. Und doch reiht sich dieses Gefühl einer vergleichsweise niedrigschwelligen Form des Gemeinsinns in ähnliche Gruppenbildungen ein, von denen die derzeitige Kultur durchzogen ist.
Am Beispiel der Reaktionen auf den Brand in Paris könnte man durchspielen, ob es sich nicht um ein popkulturelles Phänomen handelt. Ich habe schon an anderer Stelle die These entwickelt, dass sich Protest mit dem Ende dessen, was man „1968“ genannt hat, eher in eine popkulturelle Pose verwandelt hat. Ich habe das mit Diedrich Diederichsens Pop-Theorie zu begründen versucht. Für Diedrich Diederichsen hat Pop „als kleinste Einheit weder den Song noch die kulturindustriellen und zuweilen auch künstlerisch geprägten und intendierten Produkt¬-Einheiten (Album, CD, Live-Show), sondern die immaterielle und mobile, vor allem performativ zu verstehende Einheit Pose“, in der sich eine „Haltung“ manifestiert.* Popkulturelles, so Diederichsen, ist keineswegs bedeutungslos oder gar unbedeutend, aber er nennt als den entscheidenden Unterschied etwa zur Kunst oder auch zur Argumentation ihre „Konsequenzlosigkeit“.**
So etwas Ähnliches findet statt, wenn sich Betroffenheit wie nach dem Pariser Brand in eine Form der Solidarität ergießt, die letztlich konsequenzlos ist. Es manifestiert sich darin eine Haltung, die gewissermaßen popkulturell funktioniert – gegenwartsorientiert, serienfähig, wiederholbar und mit geringen Zugangsbarrieren. So ähnlich funktioniert auch die derzeit stärkste Form serieller Protestbewegungen, nämlich die Friday for Future-Bewegung. Auch hier gibt es für Jugendliche ziemlich niedrige Zugangsbarrieren, die Inhalte sind vor allem emotionalisierbar und kommen mit einer starken Pose daher: In geradezu eschatologischem Ton wird die Zukunft der Menschheit in Frage gestellt. Der relativ kleine Regelbruch, nämlich das Schuleschwänzen, gibt der Pose noch einen besonderen Drive, am Ende aber ist es vor allem ein symbolischer Protest, der wie eine popkulturelle Form aussieht.
Dass es Popkultur ist, kann auch an der Reaktionsweise der Adressaten abgelesen werden. Außer von den üblichen Verdächtigen, die die Frage des Klimawandels ohnehin für Fake-News halten und für eine Ausgeburt der „Lügenpresse“, wird die Bewegung umarmt und eingemeindet. Parteien, Minister und die Bildungspresse überschlagen sich in Begeisterung für die Protesthaltung (sic!) und das Engagement. Es erinnert ein bisschen daran, wie aus Protestmusik in den 1970er Jahren, die den braven Bürger noch erschrecken konnte, der sinnlose Klangteppich späterer Jahrzehnte werden konnte, der alles, was tönte, irgendwie popkulturell zur Konsequenzlosigkeit degradierte. Ähnliches passiert mit den Protesten, die sich inzwischen kritisieren lassen müssen, sie seien zu weiß, zu bildungsnah und zu mittelschichtig – auch hier die üblichen Drehbücher aller Debatten.
Ich habe bei meiner Diagnose der Nach-68er-Kultur von „identitären Posen“ gesprochen – nicht in dem Sinne, dass alle (rechte) Identitäre würden, sondern dass kontingente, medial inszenierbare, ästhetisch gewinnende Formen in der Lage sind, Identitäten, Kollektive, Gruppen, Zusammengehörigkeiten zu stiften, denen man vergleichsweise konsequenzlos beitreten kann. Es scheint tatsächlich diese Lust an der kollektiven Erfahrung mit niedrigschwelligen Möglichkeiten der Partizipation zu geben, die aber letztlich keine wirklichen Konsequenzen für den einzelnen haben, aber seine Haltung in einer Pose ausdrücken. Vielleicht kann man sich das nur so erklären, wie auch intellektuell niedrigschwellig die Zugangsvoraussetzungen sind. Wie intellektuell niedrigschwellig sie sind, kommt vielleicht in den Statements von Kirchenleuten am besten zum Ausdruck, die medial grandios inszenierte und inszenierbare Greta Thunberg mit dem Messias zu vergleichen – auch das offensichtlich konsequenzlos in einer Gesellschaft, in der auch religiöse Inhalte längst zu einer Pose erstarrt sind, die dem popkulturellen Code folgt. Eschatologie als Pose!
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Mein Argument behauptet nicht, dass die Sache selbst konsequenzlos ist. Wer einen Sensus dafür hat, dass Kathedralen einmal ein zentrales Symbol mit kaum mehr verstehbaren Sinnüberschüssen in seinen Details waren, Gebäude übrigens, die zu ihrer Zeit geradezu antikapitalistisch waren, weil sie die technische und ökonomische Entwicklung der Zeit gebunden haben, wird Verständnis haben, dass ausgerechnet der Brand der Notre-Dame aufwühlt. Und die Proteste Jugendlicher zum Klimawandel sind vielleicht sogar klüger, als sie es wissen. Sie generieren eine Form der Zugehörigkeit, aber sie scheinen damit zu rechnen, dass sich das Problem des Klimawandels nicht mit ein paar Parolen lösen lässt. Deshalb adressieren sie den Protest an die Zentralinstanzen der Gesellschaft, an ihre Abläufe. Was das angeht, sind sie geradezu affirmativ. In diesem Sinne könnte man ein Fan von Greta Thunberg werden, auch wenn ihre Sätze oder die, die sie sagt, natürlich protestkompatible Formen sind. Ein bisschen Textkritik wird man selbst in heutigen Schulen gelernt haben. Und man muss Greta nicht auf der Augenhöhe von Johann Sebastian Bach positionieren, um sie gegen ihre Liebhaber zu verteidigen.
Der Brand jedenfalls hat in seinen Reaktionen eine Gesellschaft offenbart, die mit ihrer Komplexität nicht zurande kommt und die gerade deshalb so niedrigschwellig emotionalisierbar ist und nach Möglichkeiten der Vergemeinschaftungen ganz unterschiedlicher Natur geradezu lechzt. Der reale Brand der Pariser Kirche und der imaginierte Weltenbrand durch den Klimawandel sind schöne Bilder, zu denen man posenhaft eine Haltung annehmen kann. Hoffen wir, dass wir uns auch andere Bilder der Welt machen können – nicht um uns zu beruhigen, sondern eine angemessene Form der Beunruhigung zu finden.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK / 81, 22. April 2019
* Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. XXVIII.
** Ebd., S. 225.