MONTAGSBLOCK /80

Kennen Sie den? Ein Dobermann wird in der Früh immer von seinem Herrn in den Garten hinausgelassen, läuft zu einem Baum, verrichtet dort sein Geschäft und kehrt wieder ins Haus zurück. Zwischenzeitlich hat das Herrchen eine Schüssel Milch vorbereitet, die der Dobermann dann gierig ausschlürft. Eines Tages ist keine Milch mehr da. Der Hund kommt herein, steht völlig verdattert vor der Schüssel. Was tun? Ganz einfach. Er läuft wieder in den Garten hinaus, hebt das Bein wie tausendmal zuvor, obwohl nichts mehr tröpfeln will, und kehrt daraufhin in der Annahme zurück, das Ganze müsse sich wie gehabt abspielen.

Wir haben es hier mit einer symbolischen Krisen- und Veränderungsstrategie zu tun. Der unflexible Dobermann mag nicht glauben, dass sich etwas verändert hat. Er wiederholt sein Geschäft, und hofft auf die Rückkehr der Normalität. Es soll alles beim Alten bleiben, alles so sein, wie es war. Das Prinzip ist bis heute wirksam. Wer sich umhört, hört oft das Gleiche: Wenn sich die Stürme erst gelegt haben, wird die Sonne wieder scheinen. Interessanterweise können wir aktuell noch zwei weitere Reaktionsmuster des Dobermanns beobachten. Erstens: Der Dobermann wird durch die neue Situation weiter verängstigt und dadurch passiv. Mit der Folge: Er belässt die Verantwortung bei seinem Herrn und harrt der Dinge. Siehe Scheuer, Andi & Co. Zweitens: Der Dobermann beginnt darüber nachzudenken, wie er wieder zu Milch kommt. Mit der Folge: Er wird hyperaktiv und nimmt sein Schicksal ganz vehement selbst in die Hand. Siehe Diess, Herbert & Co.

Ein Blick zurück nach vorne: In der alten Bundesrepublik fand jeder Dobermann analog ein stabiles Rollenkorsett vor. Klassische Konditionierung, auf erwünschtes Verhalten folgt die Belohnung! Egal ob als Mitarbeiter eines Unternehmens, als Kunde, als Politiker oder als Privatmensch. Man kannte seinen Platz im Garten. Alle fanden sich mehr oder weniger gut zurecht. Ein lebenslanger Arbeitsplatz, lebenslang verheiratet, lebenslang im Eigenheim, lebenslang versichert und lebenslang über Bürokratie und Regulierung fest im Blick und Griff des Staates.

Die jungen Dobermänner können darüber auf den ersten Blick nur schmunzeln. Sie sind Kinder der Freiheit, top ausgebildet, höflich, in der Welt zuhause, lieben ihre Eltern und haben viele Freunde. Alles scheint ihnen offenzustehen. Ein Leben in Saus und Milch. Denkste! Denn die Quarterlife Crisis schlägt neuerdings verstärkt zu. Die Flut der Möglichkeiten und die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit schnüren ihnen die Luft ab. Überfordert, verunsichert und zweifelnd ziehen sich manche zurück. Die ökonomische Ungewissheit macht ihre Selbstentfaltungslinien brüchig. Ein Praktikum nach dem anderen, bizarre Ausbeutungsstrukturen in Start-ups und frauenfeindliche Erwerbsbiografien, wohin man blickt. So haben sie nicht gewettet! Sie wollen weiter ausprobieren, noch mehr Optionen, sich nur nicht entscheiden müssen. Nur nicht klassisch konditioniert werden. Bitte keine Routine und Wiederholung. Probieren über probieren, sich nur nicht festlegen müssen. Gleichzeitig harren sie der Dinge. Stecken die Kinder der Freiheit deshalb gleich in der Dobermannfalle?

Ich würde sagen: gemach! Erwachsenwerden ist das gleichzeitige Aushalten von Enttäuschungen und Desillusionierung, von Ungewissheit und Hybris, von Milch und Honig. Man nennt es Ambiguitätstoleranz, das Aushalten von Widersprüchen, Mehrdeutigkeiten und Antinomien. Man muss sie ertragen können. Die Menschen waren und sind Darwiportunisten. Auf der einen Seite arbeiten sie etwa in Unternehmen, die sich weiterhin nach dem Prinzip des Stärkeren (Facebook, Amazon, Microsoft, Apple) am Markt durchsetzen wollen (= Darwinismus). Andererseits stellen sie ihren eigenen Vorteil in den Mittelpunkt ihrer Lebenswege. Eine Bindung ans Unternehmen erfolgt nur noch unter erschwerten Bedingungen (= Opportunismus). Und genau da liegt der Geist des Dobermanns heute begraben! Auf das Schüsselchen Konditionierungsmilch sollte er getrost verzichten.

Peter Felixberger

MONTAGSBLOCK / 80, 08. April 2019