MONTAGSBLOCK /45

Vor zwei Wochen hat das German Historical Institute Washington, D.C., eine Dependance an der UC Berkeley eröffnet. Mir wurde die Ehre zuteil, den Festvortrag zur Eröffnung in der Magnes Collection of Jewish Art and Life zu halten. Das Thema der GHI-Dependance in Kalifornien sollte auf Migration and Knowledge liegen, also auf dem Verhältnis von Migrationsprozessen und den divergierenden Wissensformen, die über Migration, zwischen migrantischen Gruppen untereinander, aber auch zwischen Einwanderern und der Aufnahmegesellschaft herrschen. Für uns Deutsche ist das Thema insofern interessant, als wir in den USA etwas studieren wollen, was uns noch bevorsteht: nämlich explizit anzuerkennen, ein Einwanderungsland zu sein. Wir erhoffen uns in Deutschland davon zu Recht einen Neustart der Debatte um Immigration und Integration – und das mit dem Ziel einer berechenbaren, mit Ressourcen und politischen Zielen ausgestatteten Migrationspolitik. Nicht wenige hoffen derzeit, dass die Debatte um ein Einwanderungsgesetz denjenigen den Wind aus den Segeln nimmt, die eine unkontrollierte und angeblich geradezu wilde Immigration ausschlachten und den Untergang des Abendlandes voraussehen, aber auch denjenigen, die mit weltfremden und naiven Vorstellungen jeglichen Diskurs über Zahlen, darüber, wer einen Aufenthaltsstatus erhalten kann und wer nicht, nicht ganz unähnlich als Ausdruck eines moralischen Untergangs des Westens beklagen.

Wer derzeit eine solche rationale, wenigstens kontrolliert kontroverse, öffentliche Debatte um Migration in den USA als eine Art Studienobjekt erwartet, wird sehr enttäuscht werden. Die bloße Anerkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, scheint jedenfalls nicht wirklich weiterzuhelfen. Denn obwohl man in den USA das Fantasma von Einwanderung als Ausnahmefall wirklich nicht aufrechterhalten kann, docken die gesellschaftlichen Konflikte um Sagbarkeiten, um Ressourcen, um Anerkennung und um Lebenschancen ebenso, wenn nicht stärker als in Europa, an jenen Kategorien an, die Migration geradezu zum Lackmustest für gesellschaftliche Stimmungen machen, nämlich an Sichtbarkeiten, oder besser hergestellten Sichtbarkeiten.

Die Diskussionen anlässlich meines Vortrages, mit Julie Weise, Professorin für Migrationsgeschichte an der University of Oregon, die einen wunderbaren Response auf meinen Vortrag beigesteuert hat, mit Teilnehmern zweier Workshops und in persönlichen Gesprächen waren allesamt davon geprägt, wie widerständig sich stabile Wissensformen, Vorurteile, Pauschalisierungen und nicht zuletzt Konfliktlinien halten, die an ethnischen Grenzen, an Grenzen der Hautfarbe, der „Kultur“ oder der Herkunft gezogen werden – hier können wir in den USA einen Spiegel unserer selbst vorfinden, wenn auch die Bilder oft ganz andere sind. Die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher und kulturindustrieller Dekonstruktion von eindeutigen Kategorien wird durch eine gesellschaftliche Praxis der radikalen Kondensierung von kontingenten Unterscheidungen geradezu unterlaufen und konterkariert. Die Delegitimierung wissenschaftlicher Perspektiven ist nicht einfach eine Wissenschaftsfeindlichkeit und hat nur wenig mit Trump zu tun. Trump ist mehr Symptom als Auslöser. Es hat etwas damit zu tun, wie sehr sich die Praktiken der Reflexion und des Wissens auf den unterschiedlichen Aggregationsebenen der Gesellschaft inzwischen voneinander unterscheiden.

Immer öfter liest man von den engagierten wissenschaftlichen Kritikern jener sichtbarkeitsgenerierten Zurechnungen, wie „falsch“ diese seien – in meinem akademischen Milieu ist das inzwischen der beliebteste Ausruf, wenn man mit solchen Praktiken konfrontiert wird. Ich halte diesen Nachweis für naiv, für geradezu insuffizient, sogar für kontraproduktiv, ja, hier gilt es, für falsch. Denn ob etwas wissenschaftlich richtig oder falsch ist, ist selten ein Kriterium für außerwissenschaftliche Praxis. Das könnte man sogar als Wissenschaftler und Wissenschaftlerin wissen – wenn einem die entsprechenden Erkenntnismittel zur Verfügung stehen. Wenn nicht, muss man im Kulturkampf mitkämpfen und bestätigt damit nur das eigene Milieu. Das scheint mir derzeit ohnehin die chronische Krankheit derer zu sein, die sich beruflich auf Reflexion verlegen und in ihrer Form der Reflexion weniger ein Mittel als vielmehr den Zweck sehen, der dann als gesellschaftliche Praxis verallgemeinert werden soll. Man muss mehr Bourdieu lesen!

Der Nachweis der Arbitrarität und historischen Kontingenz solcher Sichtbarkeiten greift noch lange nicht auf ihre Kontingentsetzung in gesellschaftlichen Praktiken durch. Man könnte sagen: Die gleichzeitigen Praktiken der Destabilisierung und Restabilisierung erzeugen ein stabiles Konfliktsystem, in dem auf beiden Seiten am Ende fast nichts anderes übrigbleibt als Moral und Empörung. Die Wahl, Migration und ihre Wissensformen miteinander zu konfrontieren, ist deshalb eine außerordentlich kluge Entscheidung des GHI gewesen, wie auch eine Außenstelle in Kalifornien zu gründen, wo sich übrigens Migrationsfragen in einer für uns Europäer ganz anderen Weise darstellen, insbesondere was Konflikte zwischen Einwanderergruppen angeht. Und klug ist es, weil es auch den Blick auf die wissenschaftliche Wissensproduktion über Migration lenkt. Der fehlt angesichts der engagierten Verve oftmals völlig. Man nannte dies einmal „Engagement und Distanzierung“ als die beiden gleichrangigen Tugenden des wissenschaftlichen Beobachtens.

Lernen sollte man daraus auch, dass der hoffentlich kommende Diskurs um ein Einwanderungsgesetz in der begonnenen Legislatur in Deutschland sich gewahr sein muss, dass die bloße Selbstdefinition als Einwanderungsland noch nicht weiterhilft. Die Million-Dollar-Question ist eher die nach der Veränderbarkeit von Praktiken und ihrer Bedingungen. Vielleicht hilft ein Blick in das Kursbuch 185 mit dem Titel Fremd Sein!

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /45, 20. November 2017