MONTAGSBLOCK /43

Vor einer Woche hat das Wintersemester begonnen. Ich halte da immer eine Vorlesung mit dem Titel „Einführung in die Soziologie“ – im Audi Max im Hauptgebäude der LMU, von 10 bis 12 Uhr. Ich habe mit einigem Schrecken festgestellt, dass ich diese Vorlesung nun im 20. Jahr halte – die erste fand im Wintersemester 1997/98 an gleicher Stelle statt, und ich habe die Vorlesung aufgrund von Abwesenheit im Wintersemester nur zweimal in dieser Zeit nicht gehalten. Was ist daran interessant? Sicher nicht, dass ich darüber 20 Jahre älter geworden bin und die Studentinnen und Studenten nochmals um 20 Jahre jünger als ich sind, als sie es ohnehin schon immer waren. Das ist der normale Lauf der Dinge.

Interessant an dem Anlass könnte sein, ob sich die Studentinnen und Studenten in dieser Zeit verändert haben. Die Zeitreihenuntersuchung, die meine Vorlesung darstellt, ist insofern einigermaßen valide, als ich diese Vorlesung stets relativ ähnlich halte (eine kleine Ungenauigkeit wird dadurch erzeugt, dass das Messgerät, also ich, inzwischen 20 Jahre älter ist, aber das versuche ich rauszurechnen). Ich erzähle über das Semester eine Geschichte, in der jemand einiges in beruflichen und Beziehungsdingen erlebt. Daran erkläre ich den jungen Leuten soziologische Grundbegriffe. Das ist nicht wirklich schwierig. Sie sollen daran nur an sich selbst wahrnehmen, dass es einen Unterschied macht, sich die Dinge mit alltagsweltlichen Typisierungen und Routinen anzusehen oder eben mit Hilfe des Instrumentariums soziologischer Grundbegriffe. Das gelingt, unbescheiden gesagt, ganz gut und erzeugt eine recht lockere Atmosphäre, in der es den 18- bis 20-Jährigen gelingt, im Hörsaal vor etwa 800 anderen am Mikrofon mitzureden.*

Ich habe mir aber, aus Anlass des 20. Jubiläums und um den Schrecken etwas zu mildern, die Frage gestellt, ob sich die Situation grundlegend geändert hat. Was sich wirklich nicht geändert hat, das ist die Begeisterungsfähigkeit und das Engagement der jungen Leute. Ich bin immer wieder sehr beeindruckt davon, wie sehr es ihnen gelingt, sich aufs Denken einzulassen, Ernsthaftigkeit mit Spaß an der Sache zu verbinden und nicht zuletzt sich überraschen zu lassen.

Anders freilich sind die Zeitverhältnisse geworden. Das Studium scheint weniger Lebensform zu sein als ein Durchgangsstadium, inzwischen übrigens ein ziemlich durchgeplantes Durchgangsstadium. Die Autorität eines Kanons verschwindet. Das Leseverhalten ist anders. Geschätzt werden eher kurze Stücke. Zugleich aber gibt es auch eine sehr sympathische Bereitschaft, die Dinge nicht einfach zu wiederholen, weil sie die Autorität einer Tradition hinter sich haben. Ein Eindruck, den ich gewonnen habe, ist aber, dass nur das Aufmerksamkeit erzeugt, was irgendwie mit der eigenen Lebenslage und Lebenspraxis in Einklang zu bringen ist. Aus Strukturproblemen der Gesellschaft werden dann Verhaltensfragen des persönlichen Alltags. Das erzeugt eine große Bereitschaft für moralische Positionen und ihre authentische Kraft. Und es erzeugt wenig Bereitschaft, solches moralische Engagement aus methodischen Gründen einzuklammern, um Strukturen zu verstehen. Das hat sicher etwas mit unübersichtlichen Welten zu tun, denen man mit der Übersichtlichkeit eines moralisch konsistenten Alltags gut begegnen kann – leider erschöpfen sich Teile des Faches in ihren methodologischen und theoretischen Überlegungen darin, exakt dieses Bedürfnis zu bedienen.

Ich ziehe daraus aber nicht den Schluss, dass den jungen Leuten nichts beizubringen wäre. Im Gegenteil: Ich lerne sie stets kennen als Menschen, die dann begeisterungsfähig sind, wenn sie einen Anschluss finden, wenn die Formate passen. Die für akademische Bildung nach wie vor notwendige Auseinandersetzung mit klassischem Textbestand gehört nicht dazu. Da muss man sich etwas einfallen lassen – etwa die Arbeit mit/am Text gemeinsam in der Vorlesung an kurzen Stücken auszuprobieren.

Wir denken in der Kursbuchwerkstatt derzeit über Formate nach, wie man das Interesse für Texte und Autoren der Sozialwissenschaften, der Sozialphilosophie, aber auch darüber hinaus, so präsentieren kann, dass sowohl die Frage der Anschlussfähigkeit an die eigenen Fragen und Lagen als auch die Bedeutung mancher gedruckter Maßgeblichkeiten zusammenkommen können. Dass das nicht mehr über die Autorität des Autorennamens geschieht, könnte ja auch eine positive Nachricht sein. Vielleicht gelingt es, dafür Formen, eher kleine Formen zu finden, die solche Anschlüsse herstellen. Und wir denken dabei keineswegs nur an Studierende als potenzielle Leser.

Wir machen uns dazu jedenfalls derzeit Gedanken, und bei diesen Überlegungen habe ich stets die Studierenden meiner Einführungsvorlesung und meiner Theorievorlesung im Sommersemester im Sinn, denen man Unrecht täte, sie für desinteressiert zu halten, nur weil sie die Formate, die für eine Generation noch stilbildend waren, nicht in selber Weise teilen. Wir werden davon berichten, wie unsere Überlegungen weitergehen.

* Man kann das übrigens in Buchform nachlesen: Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, 2. Aufl., Wiesbaden 2008.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /43, 23. Oktober 2017