Mit diesem letzten Montagsblock des Jahres möchte ich eine kleine Trilogie beenden, die so nicht geplant war, sich aber irgendwie aufgedrängt hat. Im Montagsblock /299 habe ich eher optimistisch betont, wie trotz der Regierungskrise mit dem Zerfall der am Ende sehr unglücklichen Ampelkoalition ein Räderwerk von Regeln, Institutionen und Verfahren dafür sorgt, dass es fast automatisch weitergeht. Im Montagsblock /302 dann habe ich darauf hingewiesen, wie vulnerabel die Verfahren der Demokratie sind, wenn man an Manipulationsversuche etwa durch intelligente Strategien in den Sozialen Netzwerken denkt – und damit meinte ich nicht die Banalität, dass Elon Musk auf X die AfD anpreist und zur Belohnung in einer opportunistischen deutschen Sonntagszeitung gleich einen Wahlaufruf lozieren darf. Das ist zwar politisch fragwürdig, weil es trotz inhaltlichem Widerspruch durch den Chefredakteur direkt auf die AfD einzahlt, die sich auch sogleich die schönsten Zitate eines geradezu primitiven Textes auf die Fahnen schreibt. Die Einwirkungsmöglichkeiten sind im Vergleich dazu technisch erheblich subtiler – und lassen Zweifel daran aufkommen, ob man sich auf die republikanischen Potentiale eines „Volkswillens“, einer sich im politischen Diskurs bildenden „volonté general“ verlassen kann.
In diesem dritten Schritt will ich darauf hinweisen, wie romantisch man sich den Vorgang der Wahl dann doch vorstellt. Störungen und Manipulationen, Unregelmäßigkeiten und Ungleichgewichte durch Medienmacht usw. kann man ja nur diagnostizieren, wenn man so etwas wie einen Idealfall kennt – und der speist sich tatsächlich aus Idealvorstellungen. Würde man die Funktion der Demokratie bestimmen und sich nicht in der Naivität ergehen, durch Wahlen könne so etwas wie ein Volkswille extrahiert werden, käme man wohl auf die Formulierung, die Demokratie löse das Problem, dass zwischen unterschiedlichen politischen Konzepten und Programmen gewählt werden kann und deren Legitimation durch Mehrheiten hergestellt wird. Der diskriminierende Faktor sind Mehrheiten, zu deren Legitimation auch gehört, dass man von der Minderheit, den Verlierern der Wahl, nicht Zustimmung, aber Loyalität erwartet. In einer demokratischen Wahl geht es nicht um Ehre, nicht um zu vermeidenden Gesichtsverlust, nicht um Statussicherung, nicht um ein Nullsummenspiel von Gewinnern und Verlierern – zumindest würde das eine funktionierende Demokratie ausmachen. In einer postfeudalen Gesellschaft verliert jemand, der eine Wahl verliert, nicht seine Ehre – wie auch ein Unternehmer, der bankrott geht, sich nicht mehr entleiben muss, sondern allenfalls an Kreditwürdigkeit verliert. Das zutiefst Undemokratische, geradezu Antidemokratische an Donald Trump ist, dass eine Wahlniederlage für ihn eine Frage der Ehre gewesen wäre und die angemessene Reaktion für ihn Rache ist. Ein ungezügelter Liberalismus kann darin nichts Ehrenrühriges (sic!) sehen, weil es nur um das Prinzip geht, die Mehrheit der Individuen hinter sich zu bringen, eine eher republikanische Denkungsart wird dagegen an die prinzipielle Idee einer demokratischen Solidarität glauben, die auch einen Sinn für die Unterlegenen hat – wenn auch kontrafaktisch.
Ich will hier kein Seminar zur politischen Theorie eröffnen, sondern wenigstens andeutungsweise vorführen, von welch kontrafaktischen Annahmen Wahlkämpfe geprägt sind. Ein nüchterner Blick auf Wahlen und das Mehrheitsprinzip zeigt, dass der diskriminierende Faktor keineswegs die Sachangemessenheit von Äußerungen ist, sondern ihre Mehrheitsfähigkeit. In einer pluralistischen Welt, die keineswegs nur unterschiedliche Interessen kennt, sondern auch sehr unterschiedliche Perspektiven auf Sachfragen, Entscheidungsgründe, Programme und Lösungsperspektiven. Die Skepsis einer rein auf das Mehrheitsprinzip setzenden Idee der Demokratie gab es bereits in klassischen Texten, etwa bei Aristoteles, der in seinem Konzept der Politie darauf hingewiesen hat, dass neben dem Prinzip der Mehrheit mit seinen womöglich zufälligen, bisweilen eben nicht sachkundigen Ergebnissen ein anderes Prinzip berücksichtigt werden muss: das der Sachkenntnis und der eher weniger volatilen Form von Expertise, wie man heute sagen würde. Der Republikanismus ist unter anderem in dieser Spannung zu verorten: eine Perspektive über die jeweilige individuelle Perspektive hinaus zu entwickeln.
Doch prinzipiell ist das Problem nicht zu lösen – weder per Verordnung, weil sich eine solche Eistellung nicht verordnen lässt, noch durch konkrete politische Programme, weil diese am Ende eben politische Programme sind und nicht ausgeschlossene Dritte des politischen Streits selbst. In Wahlkämpfen lässt sich besonders gut beobachten, wie kaum ein Satz, der eine Sachaussage macht, nicht auch politisch, d.h. im Hinblick auf seine Wahlchancen hin beobachtet wird – und nicht nur beobachtet, sondern auch gesprochen. Wenn der Generalsekretär der derzeit umfragenstärksten Partei fast alle für Underperformer hält, der Bundeskanzler die eigene Besonnenheit in den Vordergrund stellt, der Vorsitzende einer existenzgefährdeten ehemaligen Regierungspartei sich an Elon Musk heranwanzt, der dann doch lieber die Rechtsradikalen mit Aufmerksamkeit versorgt, wenn ein Kanzlerkandidat einer ökologischen Partei die lebensweltlichen Räume seiner Stammklientel aufsucht und stark auf diskursive Formen setzt, wenn eine neue Retortenpartei mit gestrenger Chefin alle ressentimentfähigen Topoi abruft, und wenn die Rechtsradikalen demonstrieren, dass sie eine Klientel ansprechen, die sie nicht trotz, sondern wegen dieser Einstellung wählen sollen – wenn das alles geschieht, ist es genau genommen die demokratische Normalform. Denn was sollen diese Akteure sonst tun? Sie müssen gerade keine Sachthemen bearbeiten, sondern Wahlen gewinnen oder wenigstens so groß werden, dass sie relevante Spieler im neuen Parlament sein werden. Dass das zwei so radikal unterschiedliche Kategorien sind, fällt besonders in Wahlkämpfen auf. Wahlen sind nicht nur die Voraussetzung für legitime und legitimierbare Mehrheiten und Mehrheitskonstellationen, sondern selbst politische Veranstaltungen, in denen das gilt, wofür sie legitime Positionen erzeugen wollen.
Eva Menasse hat in einer Diskussion, die ich kürzlich anlässlich einer Radiosendung mit ihr führen durfte, zutreffenderweise gesagt, das Beste an diesem Bundestagswahlkampf sei, dass er so kurz sei. Da hat sie Recht. Aber vielleicht verdichtet sich dabei noch mehr, wie schwierig es ist, Sachfragen zu diskutieren. In Wahlkämpfen wird die Spannung nur besonders sichtbar. Es könnte für die Zukunft der Demokratie eine entscheidende Frage sein, wie angesichts komplexer Fragen und Herausforderungen auch kollektiv bindende Entscheidungen mit besseren Gründen als ihrer unmittelbare Mehrheitsfähigkeit ausgestattet werden können.
In diesem letzten Satz ist die gesamte Spannung, der eklatante Widerspruch, vielleicht sogar die grundlegende Misere auf den Begriff gebracht: Wie bringt man Sachthemen in eine Form, die politisch verarbeitbar ist? Es sieht so aus, als sei das kaum möglich. Und es sieht so aus, dass manche Sachfrage wohl erst geklärt werden kann, wenn sie dem unmittelbaren politischen Prozess entzogen ist oder nicht jene Aufmerksamkeit bekommt, die sie sogleich aus politischen Gründen verunmöglicht – schon als Frage.
Demokratietheoretisch führt dieser Gedanke in unauslotbare Abgründe, in die man aber sehen muss. Wahrscheinlicher ist aber, dass sich politische Ideologien weiterhin an ihrer eigenen Folklore berauschen, um genügend semantische Resonanz bei Wählerinnen und Wählern zu finden – oder dass man kontrafaktisch auf die republikanische Vernunft jener Adressaten setzt, die vielleicht klüger sind als eine bloße Mange von Individuen. Das scheint gerade ebenso unrealistisch zu sein.
Was wäre die Alternative? Vielleicht den Mut zu ungewöhnlichen Sätzen nicht nur jenen Schwätzern zu überlassen, die von Disruptionen reden, von Revolutionen, von Radikalitäten oder gar von Kettensägen. So mutig müsste man gar nicht sein, sondern die Spannung von Sachfragen und politischen Fragen wenigstens zum Thema zu machen – zu einem Sachthema und zu einem politischen Thema. Ja, das ist auch naiv, aber vielleicht klüger naiv. Das steht jedenfalls zu hoffen – in diesem Sinne allen Leserinnen und Lesern, auch im Namen des gesamten Kursbuch-Teams, ein gutes, ein gesundes, ein hoffnungsvolles Jahr 2025.
Armin Nassehi, Montagsblock /305
30. Dezember 2024