Montagsblock /299

Peter Felixberger hat schon letzte Woche im Montagsblock /298 darauf hingewiesen, dass Anfang Dezember unser 50. Heft erscheint – eigentlich das 51., aber da wir unser erstes, die Nummer 170, als 0 führen, ist die Nummer 220 tatsächlich das 50. Das Thema lautet: Wie geht’s weiter? Wir haben dafür 13 Gespräche geführt – mit Menschen ganz unterschiedlicher Provenienz.

Mit der „Ampel“ genannten Bundesregierung geht es nicht weiter. Mitte Dezember wird der Bundeskanzler im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, um sie zu verlieren, daraufhin wird der Bundespräsident den Bundestag auflösen, und am 23. Februar wird, wenn alles so geschieht, wie sich die beteiligten Akteure beraten haben, ein neuer Bundestag gewählt. Mit einer neuen Bundesregierung dürfte dann einige Wochen später gerechnet werden, je nach dem, wie schnell die Koalitionsverhandlungen laufen und welche politischen Konstellationen möglich sind.

Ich will hier nicht über die politischen Fragen nachdenken, mich auch nicht an der Frage beteiligen, wer die Schuld für den Bruch der Koalition trägt und für wen die jeweilige Strategie politisch nützlich oder schädlich ist. Und ich will mich auch nicht darüber wundern, dass der Bruch der Koalition nicht nur sachliche, also inhaltliche Gründe hat, sondern auch politische: Politische Akteure müssen nicht nur Sachprobleme lösen, sondern auch genuin politische – also scharfgestellt an den Wahl- und Loyalitätschancen in bestimmten Gruppen, an taktischen und strategischen Überlegungen usw. Die großen Enthüllungen, dass der eine Akteur nicht immer mit offenen Karten gespielt habe, der andere sich hintergangen fühlt und der dritte wie die Unschuld vom Lande wirkt, sind ebenso erwartbar wie informationsfrei. Als könne man im Kampf um Macht stets mit offenen Karten spielen oder als sei nicht jede politische Handlung auch von strategischen und taktischen Erwägungen abhängig – und wenn nicht faktisch, dann wird sie zumindest so beobachtet.

Viel interessanter ist die Bedingung, unter der es weiter geht. Es fällt kaum richtig auf, aber es ist doch bemerkenswert,  dass trotz der starken Sätze der einen über die anderen und trotz der zum Teil weinerlichen Betroffenheitsattitüden fast nichts zusammenbricht. In dieser Situation politischer Unsicherheit und eines Machtvakuums bricht keineswegs Chaos aus. Es bricht nichts zusammen, und es werden trotz aller Krisen der Macht immer noch Entscheidungen getroffen.

Vor allem aber sorgt ein ausgeklügeltes System institutionalisierter Routinen, verfahrensförmiger Handlungsketten, generalisierter Erwartungen an beteiligte Akteure und nicht zuletzt routinisierter Praktiken dafür, dass es weiter geht. Mit dem Bruch der Regierungskoalition bleibt eine Regierung ohne Mehrheit im Amt, es werden Posten besetzt, es gibt einen deutlichen Fahrplan dafür, wie man mit der Situation umzugehen hat – einen Fahrplan, dessen Geltung sich den handelnden Instanzen entzieht.

Die deutsche Verfassungstradition ist von besonders vielen Ebenen geprägt und vor allem davon, dass sich Parlamente nicht zu einfach auflösen lassen, dass fast nichts auf individueller Willkür beruht und dass auch in Zeiten des Umbruchs mehr Kontinuität eingebaut wird als in anderen Ländern. Wir pflegen das auf unsere Verfassungsgeschichte zurückzuführen, darauf, aufgrund historischer Erfahrungen besonders viele Rückversicherungen und Trägheiten in das System einzubauen. So kann man einen Kanzler nicht einfach abwählen oder ein Parlament einfach auflösen – es gibt dafür diffizile Konditionalprogramme und Verfahren.

Wenn man etwas aus der gegenwärtigen Regierungskrise, die weit weg von einer Staatskrise ist, lernen kann, dann ist es dies: Es sind in einer rechtsstaatlichen Demokratie die Verfahren, die rechtsförmigen Konditionalprogramme, die Begrenzungen der Macht und die Institutionalisierung von Handlungsmustern, die dafür sorgen, dass es weiter geht, wenn es nicht mehr weiter geht. Die westlichen  Demokratien kranken derzeit daran, dass ihre politischen Programme, Lösungskonzepte und ihre Folklore bisweilen nicht zu den faktischen Problemen passen, dass sie sich nur für solche Problemkonstruktionen interessieren, die mit ihren Lösungsformeln korrespondieren, dass sie Teile der Bevölkerung nicht wirklich erreichen, dass die Loyalität gegenüber Eliten sinkt, dass die Konfliktformen unbedingter werden, dass die Sachkompetenzen der Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung hinterherhinken und dass antidemokratische Programme über den Weg demokratischer Verfahren an die Macht kommen wollen.

Die gegenwärtige Regierungskrise in Deutschland aber (und in Deutschland sind solche Regierungskrisen erheblich seltener als in vergleichbaren Ländern) zeigt sehr deutlich, welchen Wert die institutionalisierten Verfahren haben und wie sehr die Möglichkeit, dass es weiter geht, von ihrer Geltung abhängig sind, von ihrer Geltung über politische Differenzen hinweg. Man hat über den Wahltermin gestritten, man hat damit taktiert – in die eine wie in die andere Richtung –, man hat nach politischen Vorteilen Ausschau gehalten und dem Gegner Unlauteres unterstellt, aber es waren letztlich die Verfahren und ihre legitimatorische Kraft, die die antipodischen Akteure geradezu dazu gezwungen haben, eine Form zu finden, die ihrerseits keine Fragen offen lässt.

Die Regierungskrise bzw. der Zerfall der die Regierung tragenden Koalition ist deshalb Anlass dafür, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die demokratische Form des Wettbewerbs um die bessere Lösung und die demokratische Zuweisung von Macht von ihrer Legitimationsquelle abhängig ist: von einem Konsens (und wenn nicht Konsens, dann von sanktionsbewehrten Formen seiner rechtlichen Durchsetzung) darüber, wie es weiter geht, wenn es nicht mehr weiter geht.

Zwei Wochen nach der US-Wahl sollte besonders deutlich sein, was das bedeutet. Dass dort die Verfahren eingehalten werden, dass sie als legitim gelten, dass sich alle Beteiligten daran halten, dass die Umgangsformen zivilisiert bleiben, ist dort nur der Tatsache geschuldet, dass der eine und nicht die andere gewonnen hat. Diese Gefahr ist in Deutschland gerade nicht gegeben, was man auch daran sehen kann, wie sich die Kontextbedingungen der politischen Rede ändern, wenn nicht mehr von den üblichen politischen Unterstellungen eines taktischen Verhältnisses zu den Verfahren die Rede ist, sondern Einigung über das Verfahren erzielt wird und werden muss.

Das ist nicht selbstverständlich. Die Rechtsgeltung der Verfahren ist ein funktionales Äquivalent für die gewaltsame Durchsetzung des eigenen Vorteils, wie wir sie in den USA erlebt hätten, wäre die Sache knapp anders ausgegangen. Dass das nicht selbstverständlich ist, kann man auch daran sehen, dass in unseren Parlamenten Parteien vertreten sind, die weit weg davon sind, dass man ihnen trauen könnte, im Zweifelsfall die eigene politische Aspiration zugunsten der Geltung der Verfahren zu begrenzen.

Dass es weitergeht in einem Rechtsstaat, insbesondere in den staatlichen Instanzen selbst, hängt stärker von der Geltung solcher Kontinuitätsagenturen wie Verfahren, Machtteilung und Zuständigkeiten ab, als es im politischen Alltag ansonsten deutlich wird. Der naive Optimist nimmt die gegenwärtige Situation als Lernanlass. Ich bin ein naiver Optimist – und Optimist muss man gut dialektisch nur sein, wenn es nicht ausgemacht ist, dass das alles gut ausgeht.

Armin Nassehi, Montagsblock /299

18. November 2024