Morgen ist Weihnachten. Ein Münchner Postkartler wusste einst zu grüßen: „Fröhliche Arschnachten, Ihr Weinlöcher!“ Kein Respekt, dieser Mann. Auch nicht vor der großen Leere, auf die der Weihnachtsbaum nach der Bescherung blickt. Leere Schachteln, zerrissenes Geschenkpapier, zerknülltes Billigplastik. Die verheißungsvolle Fülle des Vorweihnachtlichen, in wenigen Minuten vermüllt. Arschnachten, Verlusterfahrung. Her mit dem Wein. Die Abwärtsspiralen drängen wieder herein. Draußen wird alles schlechter. Gletscher schmelzen, Arbeitsplätze verschwinden, Wohlstand bröckelt. Alles fürn Arsch, oder? Nichts ist wie früher. Aus, Ende, Feierabend.
Und schon sind wir bei Andreas Reckwitz und seinem neuen Buch „Verlust“*. Er ordnet wie ein Schadensmelder die gegenwärtigen Narrativschnipsel des Abstiegs, Verlustes und Abwärts. Skeptiker, Zweifler und Verzweifelte verstopfen Medien- und Kulturkanäle. Alles werde immer weniger – so laute die gesellschaftliche Inszenierung. Gleichzeitig steigt die Zahl der Populisten. Sie leben vom „Weniger“, wie das Feuer von der Luft. Reckwitz, einer der wichtigsten Soziologen des Landes, schreibt: „Die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwartsgesellschaft drehen sich häufig weniger um den Anteil der einzelnen Gruppen am gesellschaftlichen Fortschritt, sondern darum, wer verliert und wessen Verlustängste stärker die politische Agenda prägen.“
In seinem Buch versucht er, hellere Lichtkegel in die Gegenwart zu bringen. In acht Episoden legt er ein Verzeichnis von Verlusten an. „Dieses Buch will eine nüchterne Analyse der modernen Gesellschaft vornehmen, in welcher Relation sie sich zu Verlusterfahrungen befindet.“ Und es stimmt: Verluste werden zuallererst als Verlusterfahrungen empfunden. Etwas verschwindet. Verlust bezieht sich immer auf etwas, was vorher wertvoll war.
Und so ist die Hauptthese des Buches plausibel. „In die Moderne ist ein grundlegender Widerspruch zwischen Fortschritt und Verlust, zwischen dem Glauben an den Fortschritt und der Realität von Verlusterfahrungen eingebaut. Dieser Widerspruch lässt den Status von Verlusten prekär werden.“ Blick zurück: Kindheit. November 1973. Zu wenig Erdöl im Angebot. Autofreier Sonntag. Rollschuhfahren auf der leeren Autobahn. Brotzeit auf der Fahrbahn. Keiner dachte da an Verlust, am Montag ging es wieder weiter und vor allen Dingen voran. Zukunftsglaube. Alles wird mehr. Kein Untergang. Nirgends.
Fortschritt war damals in der Wahrnehmung des modernen Menschen gesetzt. Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Selbstbestimmung. Wirtschaftswunder nannte man das. Der Fortschrittsglaube wirkte als emotionale Superkraft. Verlusterfahrungen wurden, falls nötig, vermieden. Es ging um die Verlustreduktion im quirligen Wohlstandsaufstiegsspiel. Allzeit versichert gegen mögliche Verluste. Der Staat als Versicherungsgeneralagentur.
Doch der Traum hat sich gewandelt. Das Spiel hat sich gedreht. Verlust und Fortschritt sind in ihrer Eigenlogik widersprüchlich, paradox. Mehr oder weniger! Ein verlustfreier Prozess der Modernisierung als ewiger Fortschrittstraum ist nicht mehr möglich. Die Folge: Wir müssen wieder lernen, schreibt Reckwitz, mit Paradoxien und Widersprüchen zu leben. In der Verlustparadoxie liege das Lernerlebnis und der Impact: einerseits Verlusterfahrungen reduzieren, sie aber gleichzeitig potenzieren. Diese Balance ist das Zielgeschäft der politischen Macht geworden. Was allerdings zur Folge hätte, den AfD/BSW-Politikern das Handwerk der kindlich-einseitigen Verlustideologisierung zu legen. Nach dem Sandkastenprinzip: Der/die da hat mir die Schaufel weggenommen.
Leider beherrscht diese infantile Weltsicht heute Teile des öffentlichen Erörterungsgeschäfts. Mit steigenden Umfrageergebnissen für rechts. Deshalb darf ich uns zu Weihnachten wünschen: lassen Sie uns das Mehr vor allem erzählerisch stärken. Nicht nur, weil es Gift für die Rechten ist, sondern auch, weil wir dann mögliche Verlusterfahrungen besser aushalten können. Reckwitz schreibt: „Die Moderne war von Anfang an von einem mitreißenden Ideal der Jugendlichkeit geprägt, das sich aus ihrer Orientierung am Neubeginn und an der Zukunft speiste. Nach 250 Jahren wird es Zeit, dass diese erwachsen wird und lernt, klug mit den Verlusten umzugehen.“
Uns so dürfen wir zum Abschluss allen Kursbuch-Montagsblock-Lesern und -Leserinnen ein bereicherndes Weihnachtsfest wünschen. Fragen Sie ruhig Ihre Nahestehenden nach Erfahrungen und Erinnerungen, die gewinnbringend und chancenreich waren. Und lächeln Sie den Weihnachtsbaum an. Wird schon, Alter!
Wir bedanken uns für die freundliche Beachtung unserer Montagstexte und würden uns freuen, wenn sie im nächsten Jahr weiterlesen wollen und werden.
Peter Felixberger, Montagsblock /304
23. Dezember 2024
*Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. 464 Seiten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
Selfie with Political Causes (2018), Grayson Perry, 1960 Chelmsford. Holzschnitt, fotografiert in der Eccentrieausstellung in der Pinakothek der Moderne, München.