Montagsblock /301

Gestern erster Advent. Ui, Weihnachten, Familie, Freunde und Verwandtschaft stehen fast vor der Tür. Besinnliche Zeit, lass dich umarmen. Zeit für grundlegende Gerechtigkeitsfragen. Zur Besinnung kommen? Bitte schön! Der US-Philosoph Ronald Dworkin kennt unsere Sehnsucht und stellt uns eine knifflige Aufgabe im Advent: „Nehmen wir an, dass ein einigermaßen wohlhabender Mann mehrere Kinder hat, von denen eines blind ist, ein anderes ein Playboy mit kostspieligen Vorhaben, ein drittes ein angehender Politiker mit teuren Ambitionen, ein weiteres ein Dichter mit bescheidenen Bedürfnissen, ein fünftes ein Bildhauer, der mit teuren Materialien arbeitet. Wie soll er sein Testament gestalten?“

Wie er sein Vermögen vererbt, hängt von verschiedenen Spielregeln ab. Wenn es nur um Geld und Gesetzgebung ginge, würde er sein Vermögen zu gleichen Teilen aufteilen. Fünf Kinder à 20 Prozent. Wenn er aber einen Schritt weiterginge und das Wohlergehen als Maßstab nähme, würde er es wahrscheinlich unterschiedlich verteilen. Je nachdem, wie er Wohlergehen definiert. Dahinter verbirgt sich zudem die Ressourcenfrage, besser gesagt die Ressourcenausstattung, wie die je besonderen Lebenspläne der Kinder verwirklicht werden können.

Würde der Vater etwa zu dem Ergebnis kommen, dass er dem behinderten Kind zum Ausgleich mehr vom Erbe zukommen lässt, würde er gleichzeitig dem Kind mit den teuren Ansprüchen Ressourcen vorenthalten, um dessen kostenintensiveres Leben besser zu finanzieren. Was aber ist gerechter?

Oder anders gefragt: Welches Kind verdient, was es verdient? Ganz ressourcensubjektiv würde ich folgenden Vorschlag unterbreiten, Achtung 1: schwammiger Boden. Spielen Sie ruhig einmal diese fiktive Vererbung für sich durch. Achtung 2: es könnte lohnenswert sein.

Betrachtungswinkel 1: 70 Prozent des Erbes erhält das blinde Kind. Es verfügt über die geringste Ressourcenausstattung, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ihm wird gegeben, damit es einen Ausgleich für die Ressourcenungleichheit erhält und sein Streben nach Wohlergehen materiell abgesichert ist. Das blinde Kind braucht die Geldmittel für ein lebenswertes Dasein mehr als seine Geschwister. Und es braucht diese Ressourcen übers ganze Leben hinweg, weil es voraussichtlich blind bleiben wird.

Betrachtungswinkel 2: Der Playboy mit dem teuren Lebensstil erhält nichts. Ihm werden weitere Ressourcen vorenthalten, weil er sie ohne tieferen Sinn verjubeln würde. Sein Lebensunterhalt ist eigentlich gesichert, er bräuchte keine weiteren Ressourcen dafür. Doch der Playboy protestiert, weil er sein Leben nur als lebenswert erachtet (Wohlergehen), wenn er ein luxuriöses Leben führen darf. Daran würde er gehindert werden. Allerdings, meine Replik, hat er die Chance, sein Luxusleben aufzugeben und im Laufe seines Lebens die Frage der Ressourcengleichheit wieder aufs Tablett zu bringen.

Betrachtungswinkel 3: Der Politiker mit den teuren Wahlkampfambitionen bekommt auch nichts. Das hat nichts mit dem aktuellen Image von Politikern zu tun. Weitere Ressourcen würde er nur in die temporäre Erhöhung seines Bekanntheits- und Beliebtheitsgrades stecken. Die Substanz seines politischen Denkens und Tuns bliebe davon unberührt. Der Politiker wird voraussichtlich auch anderer Meinung sein, da sein Wohlergehen primär mit seiner öffentlichen Anerkennung einhergeht. Für einen gerechtfertigten Erbanspruch reicht das aber nicht aus, außer, er verlässt das Politikerleben und kehrt in die Arena der Ressourcengleichheit zurück.

Betrachtungswinkel 4: Der Dichter mit den bescheidenen Bedürfnissen erhält zehn Prozent des Erbes. Er braucht nicht viele materielle Ressourcen für Lebensunterhalt und Wohlergehen. Als Künstler geht es ihm eher um geistige, intellektuelle Unabhängigkeit und Authentizität. Zur Sicherung der Grundbedürfnisse wie Wohnen, Ernährung oder Kleidung wäre womöglich ein kleiner Kapitalstock ausreichend. Er würde zumindest die Ressourcengleichheit herstellen. Das Wohlergehen des Dichters hängt eher vom künstlerischen Gelingen ab.

Betrachtungswinkel 5: Der Bildhauer, der mit teuren Materialien arbeitet, erhält 20 Prozent des Erbes. Bei ihm trifft zwar auch die Argumentation Nr. 4 zu (inklusive künstlerisches Gelingen), aber der Wareneinsatz ist hier ein anderer. Er ist vor allem nicht geistiger Natur und dadurch benötigt er Geldmittel. Als Bildhauer stellt man materialisierte Kunst in den Raum, für das man vorher Geld investieren muss. Deshalb erhält er zehn Prozent mehr.

Mein Vorschlag nochmal in aller Kürze: 70 Prozent für das blinde Kind, 20 Prozent für den Bildhauer und zehn Prozent für den Dichter. Playboy und Politiker bekommen nichts.

Und jetzt sind Sie dran. Es gibt viele weitere Rechtfertigungen. Politiker kriegen mehr, weil sie für die Allgemeinheit arbeiten. Dichter und Bildhauer bekommen mehr, damit sie sorgenfrei dichten und bildhauern können. Playboys brauchen mehr, um viel zu konsumieren, sie unterstützen die Wirtschaft und sorgen indirekt für mehr Innovationen. Und braucht das blinde Kind eigentlich so viel? Es könnte bescheidener sein und alle Geschwister profitieren lassen.

Entscheiden Sie jetzt!

Peter Felixberger, Montagsblock /301

02.12.2024

Lesetipp: Ronald Dworkin: Was ist Gleichheit? Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2011.