Vor einer knappen Woche wurde die belgische Hauptstadt von zwei Anschlägen erschüttert – die Erinnerungen an die Ereignisse im November in Paris, aber auch an die in Madrid und London, wurden mit einem Mal aufgefrischt. Es herrschte wieder ein Ausnahmezustand. Erschütterung, Angst, Unsicherheit, Wut, Trauer, Mitgefühl waren die verbreitetsten Vokabeln. News waren „Breaking News“ – und es schien, dass die Intention dieser Art von Terrorismus sich tatsächlich erfüllt: zu zeigen, mit welch einfachen Mitteln die moderne westliche, angeblich dekadente und gottlose Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern ist.
Es stimmt wirklich, diese Art Terrorismus ist effektiv und zugleich selbstgerecht. Er hat sich in Bildern des Westens eingerichtet, in denen er den Westen zu etwas Fremdem macht, obwohl das Milieu des Terrorismus selbst im westlichen Alltag entsteht und gedeiht – das ist die These von Thomas Kron und Pascal Berger im aktuellen Kursbuch 185. Sie argumentieren, dass nicht nur der Westen jene Fremden erzeugt, über die wir derzeit täglich diskutieren, sondern dass auch der Terrorist den Westen als etwas Fremdes konstruieren muss, gegen das er vorgehen kann, gerade weil er seinem Feind näher ist, als ihm lieb ist.
Es ist wohl diese Befremdung des Westens, die den islamistischen Terrorismus erst möglich macht. Aber zugleich ist es die Vertrautheit dieser Mörderbanden mit ihren Feinden, die es ihnen ermöglicht, den Mechanismus jenes Ausnahmezustandes zu beherrschen: Sie kennen die neuralgischen Punkte und symbolischen Gemengelagen ihrer Ziele ebenso wie die Reaktion auf ihren Terror. Sie wissen, dass für die richtigen Bilder ebenso gesorgt wird wie für jene Reaktionen, die ihre Feindschaft noch im Nachhinein rechtfertigen – selbst wenn das für die ausführenden Akteure selbst zu spät kommt.
Zum Kalkül des Terrors gehört, mit den Reaktionen der Feinde zu rechnen, sie geradezu ins Kalkül zu ziehen. Denkt man diesen Gedanken weiter, so fällt Folgendes auf: In der Tat fühlt sich die Situation nach einem Anschlag wie ein Ausnahmezustand an, in dem nichts so ist wie vorher. Aber das stimmt nicht. Für mich war eine der frappierendsten Erfahrungen der letzten Woche die Erkenntnis, wie routiniert alle reagiert haben, wie erwartbar die gesprochenen Sätze waren, wie gut die unterschiedlichen Rollen zusammengepasst haben, wie selbstverständlich unterschiedliche Sprecher jene Sätze gesagt haben, mit denen schon vorher zu rechnen war und wie klar die Konfliktlinien liegen.
Die Medien haben berichtet, tagelang, auch ohne Informationen zu haben. Regierungen haben sich mit Belgien solidarisiert, Europas Lebensform wurde beschworen. Rechte wussten, dass es die Quittung für offene Grenzen, multikulturelle Schwärmereien und den Kotau vor dem Islam war; Linke kamen schnell auf die Sozialpolitik, den regionalen wie den globalen Kapitalismus. Liberale beschwören die offene Gesellschaft, die wehrhaft zu verteidigen sei, und Leute, die gerne etwas komplexere Antworten geben wollen, indem sie auf Versäumnisse bei der Einwanderungspolitik der letzten Jahre hinweisen, geraten in den wenig komplexen Verdacht, allzu generalisiert zwischen uns und den anderen zu unterscheiden. Die Sicherheitsexperten wollen die Sicherheit erhöhen, während zugleich von anderen auf die Bürgerrechte hingewiesen wird. Und in den sozialen Netzwerken werden Profilbilder mit den belgischen Farben unterlegt, und man ist flugs Brüsseler, worauf die Kritik nicht lange auf sich warten lässt, warum man angesichts von Paris, Madrid, London und Brüssel betroffener ist als im Falle von Ankara, Istanbul und Beirut.
Es hört sich herzlos an, was ich hier aufzähle, so als ob all das nicht wirklich echt, nicht authentisch, nicht engagiert, nicht diskursiv sei – aber gerade in einer solchen Ausnahmesituationen lässt sich besonders deutlich sehen, wie sehr öffentliche Debatten, aber auch persönliche Gefühle und Stimmungen, kaum Abweichungen kennen. Jeder spielt seine Rolle, überraschende Sätze sind nicht zu hören, Informationswerte werden geradezu vermieden oder stören.
Und es hört sich nicht nur herzlos an, es ist noch schlimmer, denn all das gilt auch und vor allem für das Authentische, das Engagierte, das Diskursive. Es sieht aus, als ob es einem Drehbuch unterliegt, freilich ohne dass es geschrieben vorläge oder von einem Regisseur eingeübt worden sei. Trotzdem wirkt es so, als spielten wir nach diesem Drehbuch. Offensichtlich stehen uns als Ressourcen nur diese Muster zur Verfügung – und zeitlich haben wir nur die Gegenwart, in der etwas getan werden muss. Wir können aus diesem Prozess nicht aussteigen. Das macht uns ausgerechnet ein Ereignis besonders deutlich, das breaking news erzeugt und sich wie eine Zäsur anfühlt.
Vielleicht hat es ja einen Informationswert, all diese Reaktionen nicht gleich moralisch, sachlich, ästhetisch zu bewerten und zu fragen, ob sie angemessen sind, sondern sich über die Routinen und die routinierten Reflexe angesichts der Unterbrechung von Routinen zu wundern. Es sagt nämlich viel darüber aus, wie routiniert die Routinen und Reflexe erst sind, wenn es routiniert zugeht. Bis zum nächsten Anschlag. Und auch dann.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /3, 28. März 2016