MONTAGSBLOCK /2

Verunreinigung jetzt! In Zeiten rechtsradikaler Dorfdeppen und tumber Volksfeudalisten braucht es differenzierte Stimmen, die sich abseits medialer Blockbuster und Weltpolitikpfade zu Wort melden. Das Kursbuch versteht sich als eine dieser Stimmen, die auf mehr als 600 Wörter im nationalen Wortschatz zurückgreifen. Grenzen überschreiten, das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden suchen und am Ende eher zuhören als sofort alles verstehen und endgültig abhaken zu wollen.

Zum Thema Kosmopolitismus ist mir neulich beim Regalstöbern wieder der afrikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah aufgefallen. In der letzten Botschaft, die sein Vater ihm und seinen Schwestern hinterließ, steht: „Denkt daran, dass ihr Bürger der Welt seid!“ Appiah, der in London geborene, in Ghana aufgewachsene und heute in den USA lehrende Philosoph, hat dieses Vermächtnis wie kaum ein Zweiter in seinen Schriften und Büchern ausbuchstabiert.

Kulturelle Vielfalt ist für ihn der Schlüssel zu lebenslangem und gegenseitigem Lernen. Wir sind (faktisch) mehr Weltbürger denn je. Eingewoben in das Lokale, aber vernetzt mit dem Globalen. Jeder noch so kleine verbohrte Nationalist kann mittlerweile erkennen: Die Distanz zu fremden Kulturen hat sich enorm verringert. Jeder ist nur noch ein Hauseck vom anderen entfernt und steht damit fortdauernd am Tellerrand mit Blick auf das Fremde. Daraus, so Appiah, entstehen neue Pflichten. Erstens die universelle Sorge um den anderen und zweitens die Achtung vor den kulturellen Unterschieden, um die Globalisierung nicht zum Globalgam verkommen zu lassen.

Beides aber bedarf des intensiven Gesprächs miteinander. Ein Gespräch, das man nicht mit dem Ziel führt, den anderen zu überzeugen oder ihm die eigene kulturelle Sicht aufzudrängen. Denn oft, sagt Appiah, tauchen vertraute Werte in einer fremden Kultur nur anders arrangiert wieder auf. Die Grundprogrammierung ist aber dieselbe. Zum Beispiel, was die Familie betrifft. Appiah ist in zwei Gesellschaften aufgewachsen, in denen Familie ganz unterschiedlich definiert wird. In der Akan-Gesellschaft in Ghana hängt die Zugehörigkeit ausschließlich von der Mutter ab. Der Vater ist bedeutungslos. Die Familie, die abusua, ist matrilinear organisiert. „Ich selbst gehöre zur selben abusua wie die Kinder meiner Schwester, nicht aber wie die Kinder meines Bruders. Und da ich mit meinem Vater nicht über eine Frau verwandt bin, gehört er auch nicht zur selben abusua wie ich.“ Die Kinder der Tanten mütterlicherseits sind seine Brüder und Schwestern – ganz anders als in England, wo Appiah zur Schule ging und studiert hat. Ein Kosmopolit wie er sieht die Sache selbstverständlich gelassen: Einerlei, wie das Familienleben in verschiedenen Kulturen organisiert ist, Hauptsache, es funktioniert und wird als sinnvoll empfunden. Seine Schlussfolgerung: „Es erscheint mir unsinnig, nur einen bestimmten Weg für richtig und alle anderen für falsch zu halten.“

In Konsequenz läuft es auf einen Modus vivendi hinaus, den Appiah mit historischen Beispielen untermauert. Im mittelalterlichen Spanien unter den Mauren und später im Osmanischen Reich lebten Christen und Juden jahrhundertelang unter muslimischer Herrschaft. Im Holland des 17. Jahrhunderts integrierte sich die sephardisch-jüdische Gemeinde in die christliche Gesellschaft. Allesamt multikulturalistische Experimente, die Raum ließen für gegenseitiges kulturelles Lernen, ohne zu einer verbindlichen, gemeinsamen Bewertung der Dinge zu kommen. Und nie in der Absicht handelten, den anderen partout überzeugen zu müssen.

Appiah ist überzeugt davon, dass wir in Harmonie miteinander leben können, ohne uns über grundlegende Werte einigen zu müssen. Das Gespräch sieht er eher „als Metapher für das Bemühen, sich auf die Erfahrungen und Ideen anderer Menschen einzulassen. Und ich betone hier die Rolle der Fantasie, weil solch eine Begegnung, richtig ausgeführt, einen Wert an sich darstellt. Ein Gespräch muss nicht zu einem Konsens über irgendetwas führen und schon gar nicht über Werte. Es genügt, wenn das Gespräch den Menschen hilft, sich aneinander zu gewöhnen.“ Egal, wo man lebt auf dieser Welt. Man kann überall lernen, wie man sich verhalten soll. Auch wenn einem die andere Welt noch so fremd erscheint. Entscheidend ist der Einzelne. Er muss es wollen, den anderen und dessen Unterschiedlichkeit zu achten. Im Austausch mit dem Fremden steigen die Möglichkeiten, das Leben noch bunter und vielfältiger zu gestalten. Appiah nennt diesen Kontakt „Kontamination oder Verunreinigung“. Sie ist das Prinzip aller Kultur.

Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /2, 14. März 2016