Die Furien des Nationalismus Das nächste Kursbuch 186 wird den Titel „Rechts. Ausgrabungen“ tragen. Es erscheint im Juni und wird sich vor allem mit dem Freilegen tiefer Sedimentschichten rechter Ideologien beschäftigen. Zwei dieser Leitbegriffe sind Nation und Nationalismus, die gerade wieder fröhliche Urstände feiern. In den hässlichen Pegida-Demos ebenso wie im anschwellenden Bocksgesang der AfD mit knapp einem Sechstel aller deutscher Wählerstimmen. Aber auch international erfährt der Nationalismus eine kaum zu glaubende Renaissance der Unwissenden. In Europa (inklusive der Türkei) entsteht ein Knäuel an nationalistischen Vermutungen. Ohne Halt und Haltung. Interessant: Denn kaum jemand kennt die Ursprünge und Entwicklungslinien dieser Begrifflichkeit.
Die Furien des Nationalismus sitzen im politischen Theorienkabinett also wieder einmal in der ersten Reihe. Und das nicht nur bei der völkischen Pegida, sondern auch, verstärkt, bei weiteren Zündlern im Wirrwarr ungelöster gesellschaftlicher Konflikte wie der Flüchtlingsfrage. Jeder Tag scheint alte und neue Akteure ins Rampenlicht zu hieven. Verwirrend und undurchsichtig sind die Rezepturen, mit denen sie ihr Süppchen zum Brei verkochen. Verwendet wird dabei alles, was dem jeweiligen Geschmack förderlich ist: schlichte Lügen, Erfindungen, die ohne jeden Beweis Wahrheit kundtun, und vergessen geglaubte Geschichtsmythen.
Da fällt mir William Pfaff ein, der vor über 20 Jahren einen Weltatlas des Nationalismus erstellt hat, sozusagen eine historische Untersuchung der Furien des Nationalismus. Der Nationalismus, so Pfaff, ist nämlich „ein Phänomen des europäischen 19. Jahrhunderts“, entstanden als Konsequenz der „literarisch-intellektuellen Romantik“ und der „mitteleuropäischen Reaktion“ auf die neuen Ideale der Französischen Revolution. Der „wilde deutsche Geist“ (wie ihn Isaiah Berlin bezeichnete) revoltierte gegen die unumstößliche, universale und zeitlose Ordnung der Dynastien und forderte, so etwa bei Fichte, das freie, selbstbewusste Wesen, das aus dem Nichts hervortritt. Pfaff: „Diese romantische Reaktion sollte die Individuen von Absolutismen und gesellschaftlichen wie politischen Hierarchien befreien, damit sie ihr eigenes, authentisches Selbst entdecken und diese Authentizität sowohl in der Kunst als auch im Gesellschaftsleben ausdrücken konnten.“ Alte mündliche Sprachen wurden wiederbelebt und mit schriftlichen Formen und Grammatiken ausgestattet, das untergegangene und verschollene nationale Wissen wieder zutage gefördert (etwa in Irland, wo die Wiederbelebung des Keltischen das nationale Selbstgefühl derart inspirierte, dass sich die Iren 1921 erfolgreich von der britischen Herrschaft freimachten).
Die Französische Revolution, so Pfaff, vollendete eigentlich nur noch das Freiheitsstreben, weg von willkürlicher Herrschaft, und „setzte individuelle Rechte, den Wert und die Individualität des Menschen und die Gleichheit der Individuen durch“. Die Nation erhielt eine neue politische Bedeutung, denn die Individuen, das Volk, mussten jetzt in eine neue politische Einheit gebracht werden. Dabei gab es unterschiedliche Strategien des Nationalen. Bezeichnenderweise stellten die Deutschen (Fichte, Herder, Novalis) dem französischen Citoyen den Volksgenossen gegenüber, der später zu einem Kernbegriff des Nationalsozialismus wurde, und der sich auf Menschen bezieht, die Blut, Sprache und Geschichte miteinander teilen. Bismarck griff später die Grundüberzeugung auf, dass es eine deutsche „Rasse“ gebe. Selbst in der Gegenwart findet man diesen „Glauben an eine deutsche Identität des Blutes“ wieder. Die völkische nationale Identität, wie sie von Rechtsradikalen und ihren AfD-Schafen gepredigt wird, ist aber völlig absurd, denn dieses Land, so Pfaff, „ist während seiner ganzen Vergangenheit ein Treffpunkt und ein Schmelztiegel gewesen. Im Laufe der Jahrhunderte hat es eine Vielzahl von Einwanderern aufgenommen: protestantische Hugenotten . . ., holländische Siedler . . . und Polen.“
In diesem Sinne war der Nationalismus in Europa eher ein Ausdruck und eine Etappe von Befreiung und Emanzipation und nicht der einer absoluten Grenzziehung und Ausgrenzung oder eines jedweden Rassismus. Alle, die heute dieser alten Denkfigur zujubeln, sollten mal zwei Sekunden darüber nachdenken und sich wieder stärker mit diesem befreienden Impetus beschäftigen.
Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /4, 11. April 2016