Es gibt derzeit eine vertrackte öffentliche Erzählung: Ein Möchtegern-Despot eines südlichen europäischen NATO-Landes bezichtigt nördliche Partnerländer der Nazimethoden, weil er und seine Abgesandten dort keine PR-Veranstaltungen für eine Verfassungsreform abhalten dürfen, mit der er ein noch größerer Despot werden will. Da hält es Inner-Circle-Europa nicht mehr auf den Stühlen. Rote Karte. Halt! Keinen Schritt weiter! Bei diesem kalkulierten Rückfall in nationalstaatliche Erregungsnarrative geht es in erster Linie auch um billige Wahlpropaganda. Die Niederländer wollen Wilders verhindern und ergötzen sich als abendländische Siegelbewahrer. Erdogan ergeht sich in kruder Gut-Böse-Semantik, um die Seinen scheinachtsam hinter sich zu scharen. Und die Deutschen können ihrerseits wieder ihrer latenten Ausländerfeindlichkeit frönen. Die Türken sollen hierzulande ja nicht aufbegehren, wo kommen wir denn da hin?
Szenenwechsel: Diese Woche saß ich mit unserem Autor Gerhard Waldherr im Kursbuch-Salon in München. Er las einige seiner wunderbaren Reportagen vor, was dem Publikum offenbar sehr gefiel. Und noch eine und noch eine. Die Deutschen haben eine Sehnsucht, mehr über ihr Land zu erfahren. Deutschkunde haben wir deshalb sein Buch in der kursbuch.edition genannt. Und das mit gutem Grund: Denn darin werden Menschen und Orte sichtbar, die auf ein Deutschland hinweisen, das längst multikultureller, diverser, anders und viel komplexer geworden ist, als die biederen Schwarz-Weiß-Dramatisierungen von politischen Zündlern Glauben machen. Im Gegenteil: Deutschland ist längst ein wenig türkisch. Knapp drei Millionen Türkischstämmige leben hier. Und knapp 15 Millionen Deutsche haben einen ausländischen Hintergrund. Sie sind auch ein Teil einer modernen Deutschkunde, die Waldherr beschreibt. Zum Beispiel in Duisburg-Marxloh. Ein junger türkischer Medienmacher etwa produziert dort Filme, unter anderem für die Bundeszentrale für politische Bildung. Er wolle den Bewohnern „über alle Unterschiede und Probleme hinweg eine Identität geben, auf die sie stolz sein können“. In Deutschland schlummere eine Menge Energie, fügt er hinzu, „wenn wir Vielfalt zulassen“. Aber in Kombi mit Integration und Teilhabe.
Deutschland hat mittlerweile viele neue „Deutschländer“: Türken, Italiener, Griechen, Bosnier, Polen und Syrer und viele mehr. Diese Melange aus neuen und alten Deutschländern ist die wahrscheinlichste Zukunft dieses Landes. Zu dieser Erzählung gehört auch ein junger Syrer in Hamburg, den Waldherr in seinem Buch mit den Worten zitiert: „Einwanderung führt dazu, Deutschland noch zukunftsfähiger zu machen.“ Für Vielfalt und Zukunftspower gibt es allerdings im öffentlichen Diskurs nur wenig Anschlusskommunikation. Mehr als die Hälfte der eingeborenen Deutschen glaube nicht mehr, dass der Zuwachs durch Flüchtlinge verkraftet werden könne. Der Kanzlerin fehlen sowieso die Worte. Von „Wir schaffen das“ zu „Wir raffen das“ ist halt ein weiter Weg.
Gerhard Waldherr hingegen ist einfach nur durch Deutschland gereist und hat Menschen getroffen, die ihn zu sich nach Hause eingeladen haben. Ihr bisschen Leben haben sie erzählt. Als Deutschländer. Ein berührendes Buch, das mehr Wahrheiten zeigt, als die vertrackte Bösartigkeit von oben je ans Tageslicht befördern könnte.
Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /28, 13. März 2017
“Deutschkunde” der kursbuch.edition mit Beschreibung im Shop.
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