Aus gegebenem Anlass höre ich in letzter Zeit viel Musik von Arvo Pärt, dem 1935 geborenen estnischen Komponisten, der in seiner Frühzeit mit der Zwölfton-Technik experimentiert hat und später seine charakteristische Tintinnabuli-Form entwickelt hat, eine harmonische Form, die ähnlich Glockenschlägen auf Dreiklängen aufbaut, die arpeggiert gespielt oder gesungen werden. Pärts Werke sind damit von einer erheblichen Strenge, deren Harmonik sich der klassischen Form der Spannung zwischen dem Grundton und der Dominante entzieht und zugleich nicht in das Dur-Moll-Schema eingeordnet werden kann. Das für mich immer wieder Faszinierende an Pärts Musik besteht darin, dass sie mit einer geradezu provokativen Einfachheit auskommt – was für Pärt selbst ein (spirituelles) Programm darstellt. Die musikalischen Geister scheiden sich an Pärt – gerade wegen der Einfachheit.
Die Einfachheit seiner Musik erzeugt nach meinem Dafürhalten einen besonders sensiblen Sinn für kleine Abweichungen, für kleine Variationen, es ist gewissermaßen die Gegenmusik gegen jede große Geste. Zeigen wollte ich das an seiner kurzen Motette „The Deer’s Cry“, die einen Text aus dem 5. Jahrhundert des Heiligen Patrick vertont. Das nur fünf Minuten lange Stück für A-Capella-Chor (SATB) stammt aus dem Jahre 2007 und ist nicht im Tintinnabuli-Stil geschrieben, sondern in a-Moll, und bringt die Einfachheit der Harmonie, vor allem aber der wiederholenden Struktur unvergleichlich auf den Punkt. Meine Lieblingsaufnahme ist die von Paul Hillier mit der Ars Nova Copenhagen (harmonia mundi 1988).
Ich wollte in diesem Montagsblock zeigen, welche Überzeugungskraft, besser: welchen Aufforderungscharakter eine komplexe Form besitzt, die auf einem sehr einfachen Medium aufruht und wie sehr komplexe Formen nur möglich sind, wenn sie nicht zufällig auftreten, sondern einfache Grundvoraussetzungen haben – was immer Einfachheit bedeutet.
Ich habe begonnen, darüber zu schreiben – bis mir einfiel, dass ich bereits einen Montagsblock über Arvo Pärts Kompositionstechnik geschrieben habe, nämlich Montagsblock /67 im Oktober 2018, also vor fünfeinhalb Jahren. Damals habe ich darauf hingewiesen, dass man Pärts Musik als eine Parabel auf eine Welt lesen kann, in der Komplexitätssteigerungen, Unübersichtlichkeiten, Konflikte etc. abstrakt bisweilen auf sehr einfache Unterscheidungen zurückzuführen sind. Ich habe in diesem Montagsblock, den ich natürlich gleich noch einmal nachgelesen habe, auch davor gewarnt, dass man das auch als eine Überinterpretation ansehen kann – wie so oft, wenn über Musik, überhaupt über Kunst gesprochen wird. Ich habe das mit einem ästhetischen Argument abgetan, dass ich es tatsächlich so höre, was durchaus ein immunisierendes, vielleicht sogar ein zirkuläres Argument sein könnte.
Damals war der Anlass, dass wir mit dem Chor „Capella Vocale München“ 2018 Pärts Berliner Messe gesungen haben, die eine Auftragsarbeit für den Katholikentag in Berlin 1990 gewesen ist. Diese Messe ist streng im Tintinnabuli-Stil gehalten, und aus der Perspektive des Sängers ist noch sichtbarer, wie sich die strenge Form der Arpeggien zur Melodie verhält.
Nun wäre es eigentlich konsequent gewesen, über ein anderes Thema zu schreiben, da man in Montagsblock /67 viel genauer nachlesen kann, was mich an Pärt fasziniert. Aber dass sich in meinem Kopf die Dinge wiederholen, ist zumindest ein Hinweis darauf, wie sehr komplexe Formen von relativ dazu einfachen Wiederholbarkeiten abhängig sind. Ich will nun nicht einer psychologistischen Versuchung erliegen – aber es lag dann ja Text vor. Was ich für diesen Montagsblock schon geschrieben hatte, war in Teilen identisch, zumindest sehr ähnlich mit dem, was schon 2018 aufs Papier oder den Screen kam. Man kann das einerseits als ein Zeichen dafür sehen, dass mir nichts Neues einfällt und die Dinge sich wiederholen. Etwas entgegenkommender könnte man aber auch sagen, dass sich darin etwas zeigt, das eine notwendige Voraussetzung für komplexe Formen ist: Eine Grundstruktur von Erfahrung, von Strukturen, von Erwartungen, von Wiederholbarkeiten, von Nicht-Zufälligkeiten, von Kontinuität in der Zeit, von latenten Intentionalitäten und Assoziationen, wie immer man das ausdrücken soll. Die meisten dieser Begriffe haben einen Zeitaspekt – sie zeigen, dass alle Begriffe, die etwas Stabiles ausdrücken wollen, mit dem Bezugsproblem des Verfalls von Ereignissen, des Nacheinanders von Gegenwarten, der Instabilität von allem umgehen müssen.
Schon deshalb lässt sich das wohl nicht psychologistisch erklären, denn das Material dafür ist Sinnhaftes, Logisches, Sagbares, Verstehbares usw. Deshalb fallen einem auch dieselben Dinge wieder ein – und das nicht einfach ohne Sinn und Verstand, sondern innerhalb von Verweisungsmöglichkeiten. Und deshalb werden in Konflikten, in Debatten, in Auseinandersetzungen auch immer wieder dieselben Positionen vertreten und suspendieren jegliche Überraschung – die sich dann freilich erst auf dem Boden all jener einlullenden Erwartbarkeiten ereignen kann. Das Überraschende kann nur überraschen, weil es nicht erwartet wurde.
Die Musik ist dabei – zumindest für mich – die entscheidende Kunstform, weil sie das Nacheinander von Ereignissen organisieren muss und der Sinnzusammenhang der Ereignisse nicht in den Tönen liegt, sondern in ihrer sinnhaften Verbindung, wie Edmund Husserl es in der „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ beschrieben hat. Vielleicht sollte ich die Tatsache, dass mir dasselbe wieder eingefallen ist (ohne es zunächst als ein Selbes aufzufassen), nicht gegen mich verwenden, sondern als einen Hinweis darauf, wie „musikalisch“ alles Sinnhafte und Logische funktioniert. Für mich wird das in Arvo Pärts Musik der Kombination von Einfachheit und Komplexität ästhetisch am sichtbarsten, gerade weil er die Provokation des Erwartbaren geradezu auf die Spitze treibt. Und fast hätte ich noch einmal geschrieben: Ich höre es da.
Armin Nassehi, Montagsblock /264
11. März 2024