Montagsblock /265

Gerade ist das neue Kursbuch „Was wäre, wenn“ erschienen. Hier ein weiterer Auszug aus meiner FLXX-Kolumne. Der gesamte Essay hat den Titel „Wanted: Acht unbekannte Typen in freier Wildbahn.“

Fastbenehmer

Eine Person, die sich in keiner Umgebung richtig zu Hause fühlt und dementsprechend immer leichtfüßig aus dem Rahmen fällt. Je nachdem, wie wohl sie sich fühlt, prägen sich Selbstbewusstheit und Selbstbewusstsein in die eine oder andere Richtung aus. Beispiel: Restaurantrechnung bezahlen, Trinkgeld geben. Für den Fastbenehmer ist das eine komplexe Kampfzone. Nehmen wir an, eine Gruppe mit Bekannten und Freunden trifft sich in einem Restaurant. Nach einem fröhlichen Essen mit reichlich Wein und Nachtisch kommt die Rechnung. Jetzt kommt die Stunde des Fastbenehmers. Er schnappt sich die Rechnung und versucht aus 45 Positionen die persönliche Kombination der Speisen und Getränke herauszurechnen. Nach zwei Minuten ruft er den Betrag X aus und legt das Geld abgezählt vor sich hin. Gleichzeitig tritt ein Freund oder Freundin mit den Worten auf den Plan: „Im Süden wirft man das Geld immer geteilt durch Anwesende in einen Topf.“ Das wiederum kann der Fastbenehmer nur schwer nachvollziehen und betont die leistungsgerechte Regelung, nur das tatsächlich Verzehrte bezahlen zu wollen. Nehmen wir nun weiter an, jeder rechne seinen Einzelbetrag aus der Gesamtsumme heraus, kommt ein nächstes Phänomen zum Tragen. Der oder die Letzte bezahlt am meisten (inklusive Trinkgeld), weil garantiert alle Fastbenehmer vorher irgendeine Kleinigkeit vergessen haben. Diese Person ist der oder die Gelackmeierte und kann jetzt ihrerseits nur lächeln, großzügig die Restsumme bezahlen oder ins Spiel der Fastbenehmer einschwenken und alle aufrufen, ihre Teilsummen noch einmal zu überprüfen. Spätestens hier wenden sich italienische, spanische oder portugiesische Kellner mit Kopfschütteln ab und bedienen an anderen Tischen weiter. Das Spiel dreht sich so lange weiter, bis ein Benehmer das Teilen der Gesamtsumme durch anwesende Personen durchsetzt. In diesem Beispiel wird deutlich, wie schwankend der Boden ist, auf dem sich der Fastbenehmer bewegt. Einerseits pocht er auf ein rationalgerechtes Prinzip des Teilens, andererseits verbirgt sich darin ein weiteres Problem. Den Letzten beißen die Hunde. Weshalb der Fastbenehmer am Gipfel der Selbstsicherheit in einen kleinen Abgrund fällt, aus dem er nur herauskommt, wenn er der verteilungsgerechten Regel des geteilten Leids zustimmt. Womit er sich aber selbstredend schwertut und meistens erst zu Hause dem Partner gesteht, wie abgrundtief er diese Vereinbarung eigentlich hasst. Was womöglich zu weiteren Streitigkeiten führen kann und den Fastbenehmer in den nächsten Widerspruch zu locken droht.

Kannprophet

Eine Person, die in jeder Lebenslage zu wissen scheint, dass es auch anders gehen kann, ja, dass es auch anders werden kann. Der Kannprophet gehört zur Spezies der Besserwisser, die einen enormen Aufwand betreiben müssen, um das Ist in ein Kann zu verwandeln. Es ist kein Wunder, dass der berühmteste Vertreter des Kannpropheten das Individuum mit einem gesunden Menschenverstand ist. Darin liegt der Kosmos von Kann-Wirklichkeiten, die alles Mögliche der Fall sein können. Kurzer Blick zurück nach vorne, wir reisen ins Jahr 1949. Der berühmte Philosoph Ludwig Wittgenstein reist auf Einladung seines Freundes Norman Malcolm in die USA. Wittgenstein will sich dort näher mit den Schriften von George Edward Moore über den gesunden Menschenverstand beschäftigen. Einem Verfechter der Common-Sense-Philosophie. In seinem Buch „Proof of an External World“ hatte Moore eine Reihe von Sätzen formuliert, von denen „er mit Sicherheit wusste, dass sie wahr seien“. Er war sogar der Auffassung, die Menschheit könne sich auf ein Set von unumstößlichen und unangreifbaren Wahrheiten verlassen. Zum Beispiel: „Die Erde bestand lange vor meiner Geburt“. Auf den ersten Blick waren es Sätze, die niemand nur im Geringsten anzweifeln würde. Wittgenstein als Meisterskeptiker seiner Zeit tat dies sehr wohl und beschäftigte sich fortan in den eineinhalb Jahren bis zu seinem Tode intensiver mit den Bedingungen, inwieweit man überhaupt Gewissheit und Wahrheit erlangen kann. Es ging ihm dabei nicht so sehr um die Tatsache der eindeutigen Wahrheitsaussage als vielmehr um den Erkenntnispfad, den Menschen beschreiten, wenn sie zu einer gewissen Wahrheit gelangen wollen. Wittgenstein kam in seinen Überlegungen zur Gewissheit zu dem Ergebnis, dass selbige immer nur individuell sei. Und damit in gewisser Weise auch nur vorläufig. „Ich handle mit voller Gewissheit. Aber diese Gewissheit ist meine eigene.“ Das Problem, so Wittgenstein, sei die die jeweilige Begründungslogik dahinter. Hier unterscheidet er zwischen Wissen und Glauben. Die Erde ist keine Scheibe. Jesus verwandelt Wasser in Wein. Wittgenstein folgert daraus: Wer etwas weiß, sei zu einer Rechtfertigung verpflichtet. Wer etwas glaubt, braucht keine. Umgekehrt bedeutet dies: Glauben hat eine subjektive Wahrheit, Wissen nicht. Hinzu kommt, dass in der Gewissheit des Wissens jeder Irrtum ausgeschlossen sein muss. In der Gewissheit des Glaubens muss nur der Zweifel ausgeschaltet werden, um den anderen von meiner subjektiven Gewissheit zu überzeugen. Die Wandlung von Wasser in Wein ist bis heute in jedem Gottesdienst unbestritten. „Die Erde ist rund“ steht bereits in jedem Schulbuch der ersten Klasse. Der sogenannte gesunde Menschenverstand suggeriert eine Art von gemeinsamem Glaubensschatz, der sich über die Jahrhunderte jenseits des wissenschaftlichen Wissens herausgebildet hat. Eine Art von Resonanzraum, der als erkenntnistheoretischer Inhalator dient. Zweimal tief einatmen, Wahrheitspanzer anlegen, Wissen und Glauben vereinigen zur großen Wahrheit. Jeder Zweifel ausgeräumt. Der zweite Erkenntnispfad der Wissenschaft hingegen sucht den Irrtum auszuschalten. Seit wann existiert die Erde? Das ist mühsamer, weil eben ein langwieriger Weg, auf dem sich Kohärenz und Konsistenz auszuprägen versuchen. Hier werden Erkenntnisse ständig auf mögliche Irrtümer geprüft und womöglich verbessert. Zweifel included! Das dauert ewig. In Wittgensteins Worten: „Unsinn aber wäre es zu sagen, wir betrachten etwas als sichere Evidenz, weil es gewiss wahr ist.“ Deshalb ist der Kannprophet in Wirtschaft und Politik so hochgeschätzt. Er kann immer noch anders, als es der Fall ist. So lassen sich Krisen in Chancen, Chancen in leuchtende Zukunftspfade und leuchtende Zukunftspfade als Gewissheiten umdeuten. Der Kannprophet ist der Meister moderner Vieldeuterei.

Peter Felixberger, Montagsblock /265

15. März 2024